URTEIL DES GERICHTSHOFES (Sechste Kammer)
7. Mai 1998 (1)
„Freizügigkeit der Arbeitnehmer Nationale Regelung, nach der juristische
Personen verpflichtet sind, einen Geschäftsführer zu bestellen, der im Inland
wohnt Mittelbare Diskriminierung“
In der Rechtssache C-350/96
betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 177 EG-Vertrag vom österreichischen
Verwaltungsgerichtshof in dem bei diesem anhängigen Rechtsstreit
Clean Car Autoservice Ges.m.b.H.
gegen
Landeshauptmann von Wien
vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung des Artikels 48
EG-Vertrag und der Artikel 1 bis 3 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates
vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der
Gemeinschaft (ABl. L 257, S. 2)
erläßt
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten H. Ragnemalm sowie der Richter
R. Schintgen (Berichterstatter), G. F. Mancini, J. L. Murray und G. Hirsch,
Generalanwalt: N. Fennelly
Kanzler: L. Hewlett, Verwaltungsrätin
unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen
der Clean Car Autoservice Ges.m.b.H., vertreten durch Rechtsanwalt
Christoph Kerres, Wien,
des Landeshauptmanns von Wien, vertreten durch Senatsrat Erich
Hechtner, Amt der Wiener Landesregierung,
der österreichischen Regierung, vertreten durch Botschafter Franz Cede,
Bundesministerium für auswärtige Angelegenheiten, als Bevollmächtigten,
der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch
Rechtsberater Peter Hillenkamp und Pieter Jan Kuijper, als
Bevollmächtigte,
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der mündlichen Ausführungen der Kommission in der Sitzung vom
23. Oktober 1997,
nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 4.
Dezember 1997,
folgendes
Urteil
- 1.
- Der Verwaltungsgerichtshof hat mit Beschluß vom 8. Oktober 1996, beim
Gerichtshof eingegangen am 24. Oktober 1996, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag zwei
Fragen nach der Auslegung des Artikels 48 EG-Vertrag und der Artikel 1 bis 3 der
Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die
Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (ABl. L 257, S. 2) zur
Vorbentscheidung vorgelegt.
- 2.
- Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen der Fortress Immobilien
Entwicklungs Ges.m.b.H., nunmehr Clean Car Autoservice Ges.m.b.H. (im
folgenden: Beschwerdeführerin), einer Gesellschaft österreichischen Rechts mit Sitz
in Wien, und dem Landeshauptmann von Wien (im folgenden: Beschwerdegegner)
über die Zurückweisung einer von der Beschwerdeführerin erstatteten Anmeldung
einer Gewerbeausübung mit der Begründung, diese habe einen Geschäftsführer
bestellt, der nicht in Österreich wohne.
Die österreichische Regelung
- 3.
- Nach § 9 Absatz 1 der Gewerbeordnung 1994 (GewO 1994) können juristische
Personen, Personengesellschaften des Handelsrechts (offene Handelsgesellschaften
und Kommanditgesellschaften) sowie eingetragene Erwerbsgesellschaften (offene
Erwerbsgesellschaften und Kommandit-Erwerbsgesellschaften) Gewerbe ausüben,
müssen jedoch einen Geschäftsführer oder Pächter (§§ 39 und 40 GewO 1994)
bestellt haben.
- 4.
- § 39 Absätze 1 bis 3 GewO 1994 bestimmt:
„(1) Der Gewerbeinhaber kann für die Ausübung seines Gewerbes einen
Geschäftsführer bestellen, der dem Gewerbeinhaber gegenüber für die fachlich
einwandfreie Ausübung des Gewerbes und der Behörde (§ 333) gegenüber für die
Einhaltung der gewerberechtlichen Vorschriften verantwortlich ist; er hat einen
Geschäftsführer zu bestellen, wenn er keinen Wohnsitz im Inland hat.
(2) Der Geschäftsführer muß den für die Ausübung des Gewerbes
vorgeschriebenen persönlichen Voraussetzungen entsprechen, seinen Wohnsitz im
Inland haben und in der Lage sein, sich im Betrieb entsprechend zu betätigen.
Handelt es sich um ein Gewerbe, für das die Erbringung eines
Befähigungsnachweises vorgeschrieben ist, so muß der gemäß § 9 Abs. 1 zu
bestellende Geschäftsführer einer juristischen Person außerdem
1. dem zur gesetzlichen Vertretung berufenen Organ der juristischen Person
angehören oder
2. ein mindestens zur Hälfte der wöchentlichen Normalarbeitszeit im Betrieb
beschäftigter, nach den Bestimmungen des Sozialversicherungsrechtes
vollversicherungspflichtiger Arbeitnehmer sein.
Der gemäß Abs. 1 für die Ausübung eines Gewerbes, für das die Erbringung eines
Befähigungsnachweises vorgeschrieben ist, zu bestellende Geschäftsführer eines
Gewerbeinhabers, der keinen Wohnsitz im Inland hat, muß ein mindestens zur
Hälfte der wöchentlichen Normalarbeitszeit im Betrieb beschäftigter, nach den
Bestimmungen des Sozialversicherungsrechtes vollversicherungspflichtiger
Arbeitnehmer sein. Die bis zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Bundesgesetzes
BGBl. Nr. 29/1993 geltenden Bestimmungen des § 39 Abs. 2 gelten für Personen,
die am 1. Juli 1993 als Geschäftsführer bestellt sind, bis zum Ablauf des 31.
Dezember 1998 weiter.
(3) In den Fällen, in denen ein Geschäftsführer zu bestellen ist, muß der
Gewerbeinhaber sich eines Geschäftsführers bedienen, der sich im Betrieb
entsprechend betätigt.“
- 5.
- Nach § 370 Absatz 2 GewO 1994 sind Geldstrafen, wenn die Bestellung eines
Geschäftsführers angezeigt oder genehmigt wurde, gegen den Geschäftsführer zu
verhängen.
- 6.
- Nach § 5 Absatz 1 GewO 1994 dürfen Gewerbe, von hier nicht in Betracht
kommenden Ausnahmen abgesehen, bei Erfüllung der allgemeinen und der etwa
vorgeschriebenen besonderen Voraussetzungen aufgrund der Anmeldung des
betreffenden Gewerbes (§ 339 GewO 1994) ausgeübt werden.
- 7.
- Nach § 339 Absatz 1 GewO 1994 hat, wer ein Gewerbe ausüben will, soweit es sich
nicht um ein bewilligungspflichtiges gebundenes Gewerbe handelt, die
Gewerbeanmeldung bei der Bezirksverwaltungsbehörde des Standorts zu erstatten.
- 8.
- Gemäß § 340 Absatz 1 GewO 1994 hat die Bezirksverwaltungsbehörde aufgrund
der Anmeldung des Gewerbes (§ 339 Absatz 1 GewO 1994) zu prüfen, ob die
gesetzlichen Voraussetzungen für die Ausübung des angemeldeten Gewerbes durch
den Anmelder an dem betreffenden Standort vorliegen. Liegen diese
Voraussetzungen nicht vor, so hat sie dies nach § 340 Absatz 7 GewO 1994 mit
Bescheid festzustellen und die Ausübung des Gewerbes zu untersagen.
Das Ausgangsverfahren
- 9.
- Die Beschwerdeführerin meldete mit Schreiben vom 13. Juni 1995 beim Magistrat
der Stadt Wien das Gewerbe „Wartung und Pflege von Kraftfahrzeugen
(Servicestation) unter Ausschluß jedweder handwerklicher Tätigkeit“ an.
Gleichzeitig teilte sie mit, daß sie den in Berlin wohnenden deutschen
Staatsangehörigen Rudolf Henssen zum Geschäftsführer nach der Gewerbeordnung
1994 bestellt habe und daß dieser gegenwärtig bemüht sei, eine Wohnung in
Österreich anzumieten, weshalb der Meldezettel für den österreichischen Wohnsitz
zu einem späteren Zeitpunkt vorgelegt werde.
- 10.
- Mit Bescheid vom 20. Juli 1995 stellte der Magistrat der Stadt Wien fest, daß die
gesetzlichen Voraussetzungen der Ausübung dieses Gewerbes nicht vorlägen, und
untersagte diese mit der Begründung, nach § 39 Absatz 2 GewO 1994 müsse der
Geschäftsführer den für die Ausübung des Gewerbes vorgeschriebenen
persönlichen Voraussetzungen entsprechen, seinen Wohnsitz im Inland haben und
in der Lage sein, sich im Betrieb entsprechend zu betätigen.
- 11.
- Am 10. August 1995 erhob die Beschwerdeführerin gegen diesen Bescheid
Berufung beim Beschwerdegegner. Sie machte geltend, daß der bestellte
Geschäftsführer nunmehr einen Wohnsitz in Österreich habe; zudem sei seit dem
Beitritt der Republik Österreich zur Europäischen Union ein Wohnsitz innerhalb
der Europäischen Union ausreichend, um den gesetzlichen Verpflichtungen
nachzukommen.
- 12.
- Mit Bescheid vom 2. November 1995 wies der Beschwerdegegner die Berufung in
erster Linie mit der Begründung zurück, wegen des konstitutiven Charakters der
Gewerbeanmeldung sei von der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt dieser
Anmeldung auszugehen; zu diesem Zeitpunkt habe der bestellte Geschäftsführer
noch keinen Wohnsitz im Inland gehabt.
- 13.
- Am 21. Dezember 1995 legte die Beschwerdeführerin gegen diesen Bescheid
Beschwerde zum Verwaltungsgerichtshof mit der Begründung ein, weder der
Bescheid des Magistrats der Stadt Wien noch derjenige des Beschwerdegegners
berücksichtige ihr gemeinschaftsrechtliches Vorbringen. Sie berief sich namentlich
auf die Artikel 6 und 48 EG-Vertrag und darauf, daß der von ihr bestellte
Geschäftsführer als Angestellter der Gesellschaft und damit als Arbeitnehmer nach
Artikel 48 Freizügigkeit genieße.
- 14.
- Der Verwaltungsgerichtshof war der Auffassung, daß die Entscheidung davon
abhängt, ob es gegen das Gemeinschaftsrecht, namentlich Artikel 48 EG-Vertrag
und die Artikel 1 bis 3 der Verordnung Nr. 1612/68 verstößt, wenn der
österreichische Gesetzgeber dem Gewerbeinhaber untersagt, einen Angestellten
zum Geschäftsführer zu bestellen, der seinen Wohnsitz nicht in Österreich hat. Er
hat dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Sind Artikel 48 EG-Vertrag und Artikel 1 bis 3 der Verordnung (EWG) Nr.
1612/68 dahingehend auszulegen, daß daraus auch inländischen
Arbeitgebern das Recht erfließt, Arbeitnehmer, die Angehörige eines
anderen Mitgliedstaates sind, ohne Bindung an Bedingungen zu
beschäftigten, die auch wenn sie auf die Staatsangehörigkeit nicht
abstellen typisch mit der Staatsbürgerschaft verbunden sind?
2. Wenn das im Punkt 1 genannte Recht inländischen Arbeitgebern zusteht:
Sind Artikel 48 EG-Vertrag und Artikel 1 bis 3 der Verordnung Nr. 1612/68
dahin auszulegen, daß eine Regelung wie § 39 Absatz 2 GewO 1994,
wonach der Gewerbeinhaber nur eine Person zum gewerberechtlichen
Geschäftsführer bestellen darf, die ihren Wohnsitz im (österreichischen)
Inland hat, damit im Einklang steht?
- 15.
- In seinem Vorlagebeschluß führt das nationale Gericht aus, es gehe zunächst um
die Klärung der Frage, ob sich auch ein Arbeitgeber auf die Bestimmungen des
Gemeinschaftsrechts über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer berufen könne, die
sich primär an diese richteten. Bei Bejahung dieser Frage sei sodann zu prüfen, ob
eine Bestimmung wie § 39 Absatz 2 GewO 1994 insbesondere angesichts des
Vorbehalts in Artikel 48 Absatz 3 EG-Vertrag und des Umstands, daß nach § 370
Absatz 2 GewO 1994 der Geschäftsführer bei der Ausübung des Gewerbes für die
Einhaltung der gewerberechtlichen Rechtsvorschriften hafte, gegen die genannten
Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts verstoße.
Zur ersten Frage
- 16.
- Mit seiner ersten Frage möchte das nationale Gericht wissen, ob sich auch ein
Arbeitgeber, der im Mitgliedstaat seiner Niederlassung Angehörige eines anderen
Mitgliedstaats als Arbeitnehmer beschäftigen will, auf den in Artikel 48 EG-Vertrag
und den Artikeln 1 bis 3 der Verordnung Nr. 1612/68 verankerten Grundsatz der
Gleichbehandlung auf dem Gebiet der Freizügigkeit der Arbeitnehmer berufen
kann.
- 17.
- Zunächst verdeutlichen die Artikel 1 bis 3 der Verordnung Nr. 1612/68 nur die
bereits aus Artikel 48 EG-Vertrag folgenden Rechte und führen sie durch (siehe
in diesem Sinne Urteil vom 23. Februar 1994 in der Rechtssache C-419/92, Scholz,
Slg. 1994, I-505, Randnr. 6).
- 18.
- Artikel 48 Absatz 1 enthält die allgemeine Aussage, daß innerhalb der
Gemeinschaft die Freizügigkeit der Arbeitnehmer hergestellt wird. Nach Artikel 48
Absätze 2 und 3 umfaßt diese die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit
beruhenden unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten
in bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen und gibt
vorbehaltlich der aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und
Gesundheit gerechtfertigten Beschränkungen den Arbeitnehmern das Recht, sich
um tatsächlich angebotene Stellen zu bewerben, sich zu diesem Zweck im
Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen, sich dort aufzuhalten, um unter
den gleichen Bedingungen wie Staatsangehörige des betreffenden Mitgliedstaats
eine Beschäftigung auszuüben, und nach deren Beendigung dort zu verbleiben.
- 19.
- Diese Rechte stehen zweifellos den unmittelbar genannten Personen, den
Arbeitnehmern, zu. Andererseits ist Artikel 48 kein Hinweis darauf zu entnehmen,
daß sich nicht auch andere Personen, insbesondere Arbeitgeber, auf sie berufen
könnten.
- 20.
- Zudem kann das Recht der Arbeitnehmer, bei Einstellung und Beschäftigung nicht
diskriminiert zu werden, nur dann seine volle Wirkung entfalten, wenn dieArbeitgeber ein entsprechendes Recht darauf haben, Arbeitnehmer nach Maßgabe
der Bestimmungen über die Freizügigkeit einstellen zu können.
- 21.
- Diese Bestimmungen würden nämlich leicht um ihre Wirkung gebracht, wenn die
Mitgliedstaaten die dort enthaltenen Verbote schon dadurch umgehen könnten, daß
sie den Arbeitgebern die Einstellung eines Arbeitnehmers verböten, der gewisse
Voraussetzungen nicht erfüllte, die, wenn er unmittelbar zu ihrer Erfüllung
verpflichtet würde, Beschränkungen seines Rechts auf Freizügigkeit nach Artikel
48 EG-Vertrag darstellen würden.
- 22.
- Schließlich entspricht diese Auslegung sowohl Artikel 2 der Verordnung Nr.
1612/68 als auch der Rechtsprechung des Gerichtshofes.
- 23.
- Artikel 2 der Verordnung Nr. 1612/68 bestimmt ausdrücklich, daß jeder
Staatsangehörige eines Mitgliedstaats und jeder Arbeitgeber, der eine Tätigkeit im
Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats ausübt, nach den geltenden Rechts- und
Verwaltungsvorschriften Arbeitsverträge schließen und erfüllen können, ohne daß
sich Diskriminierungen daraus ergeben dürfen.
- 24.
- Was die Rechtsprechung betrifft, so ist insbesondere dem Urteil vom 15. Dezember
1995 in der Rechtssache C-415/93 (Bosman, Slg. 1995, I-4921, Randnrn. 84 bis 86)
zu entnehmen, daß die Rechtfertigungsgründe des Artikels 48 Absatz 3 EG-Vertrag
öffentliche Ordnung, Sicherheit und Gesundheit nicht nur von den
Mitgliedstaaten geltend gemacht werden können, um Beschränkungen der
Freizügigkeit der Arbeitnehmer zu rechtfertigen, die sich aus ihren Rechts- und
Verwaltungsvorschriften ergeben, sondern auch von einzelnen, um solche
Beschränkungen zu rechtfertigen, die aus Verträgen oder sonstigen Akten folgen,
die von Privatpersonen geschlossen bzw. vorgenommen wurden. Wenn sich aber ein
Arbeitgeber auf die Ausnahme des Artikels 48 Absatz 3 berufen kann, so muß er
sich auch auf die Grundsätze berufen können, die sich insbesondere aus Artikel 48
Absätze 1 und 2 ergeben.
- 25.
- Aufgrund der vorstehenden Ausführungen ist auf die erste Frage zu antworten, daß
sich auch ein Arbeitgeber, der im Mitgliedstaat seiner Niederlassung Angehörige
eines anderen Mitgliedstaats als Arbeitnehmer beschäftigen will, auf den in Artikel
48 EG-Vertrag verankerten Grundsatz der Gleichbehandlung auf dem Gebiet der
Freizügigkeit der Arbeitnehmer berufen kann.
Zur zweiten Frage
- 26.
- Mit seiner zweiten Frage möchte das nationale Gericht wissen, ob es gegen Artikel
48 EG-Vertrag verstößt, wenn ein Mitgliedstaat dem Inhaber eines Gewerbes, das
dieser im Gebiet dieses Staates ausübt, verbietet, eine Person als Geschäftsführer
zu bestimmen, die in diesem Staat keinen Wohnsitz hat.
- 27.
- Nach ständiger Rechtsprechung verbietet der Grundsatz der Gleichbehandlung
nicht nur offene Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit, sondern auch
alle verdeckten Formen der Diskriminierung, die mit Hilfe der Anwendung anderer
Unterscheidungsmerkmale tatsächlich zu demselben Ergebnis führen (vgl. u. a.
Urteil vom 12. Juni 1997 in der Rechtssache C-266/95, Merino García, Slg. 1997,
I-3279, Randnr. 33).
- 28.
- Zwar stellt eine Bestimmung wie § 39 Absatz 2 GewO 1994 nicht auf die
Staatsangehörigkeit der Person ab, die zum Geschäftsführer bestellt werden soll.
- 29.
- Wie der Gerichtshof jedoch bereits festgestellt hat (vgl. insbesondere Urteil vom
14. Februar 1995 in der Rechtssache C-279/93, Schumacker, Slg. 1995, I-225,
Randnr. 28), besteht bei einer nationalen Rechtsvorschrift, die eine Unterscheidung
aufgrund des Kriteriums des Wohnsitzes trifft, die Gefahr, daß sie sich
hauptsächlich zum Nachteil der Angehörigen anderer Mitgliedstaaten auswirkt, da
Gebietsfremde meist Ausländer sind.
- 30.
- Somit kann es eine mittelbare Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit
und damit einen Verstoß gegen Artikel 48 Absatz 2 EG-Vertrag darstellen, daß
Angehörige der übrigen Mitgliedstaaten nur dann als Geschäftsführer eines
Gewerbes bestimmt werden können, wenn sie in dem betreffenden Mitgliedstaat
wohnen.
- 31.
- Anders verhielte es sich nur, wenn ein solches Wohnsitzerfordernis auf objektiven,
von der Staatsangehörigkeit der betroffenen Arbeitnehmer unabhängigen
Erwägungen beruhte und in einem angemessenen Verhältnis zu einem legitimen
Zweck stünde, den das nationale Recht verfolgte (vgl. in diesem Sinne Urteil vom
15. Januar 1998 in der Rechtssache C-15/96, Schoening-Kougebetopoulu, Slg. 1998,
I-0000, Randnr. 21).
- 32.
- Das vorlegende Gericht hat, wie in Randnummer 15 ausgeführt, in seinem
Vorlagebeschluß ausdrücklich darauf hingewiesen, daß der bestellte Geschäftsführer
gemäß § 370 Absatz 2 GewO 1994, wonach etwaige Geldstrafen gegen ihn zu
verhängen sind, bei der Ausübung seiner Tätigkeit für die Einhaltung der
gewerberechtlichen Vorschriften verantwortlich ist.
- 33.
- In ihren schriftlichen Erklärungen haben der Beschwerdegegner und die Republik
Österreich dargelegt, daß das Wohnsitzerfordernis sicherstellen solle, daß Bescheide
über Strafen, die gegen den Geschäftsführer verhängt werden könnten, diesem
zugestellt und die Strafen vollstreckt werden könnten. Außerdem solle es
gewährleisten, daß der Geschäftsführer gemäß § 39 Absatz 2 GewO 1994 in der
Lage sei, sich im Betrieb entsprechend zu betätigen.
- 34.
- Das Wohnsitzerfordernis ist teils nicht geeignet, die Erreichung dieses Zweckes zu
gewährleisten, teils geht es über dasjenige hinaus, was zur Erreichung dieses
Zweckes erforderlich ist.
- 35.
- Zum einen bietet es nicht notwendig die Gewähr dafür, daß der Geschäftsführer
in der Lage ist, sich im Betrieb entsprechend zu betätigen, wenn er in dem
Mitgliedstaat wohnt, in dem das Gewerbe ansässig ist und ausgeübt wird. Ein
Geschäftsführer, der in diesem Staat an einem Ort wohnt, der vom Ort des
Gewerbebetriebes weit entfernt ist, wird im allgemeinen größere Schwierigkeiten
haben, sich im Betrieb entsprechend zu betätigen, als eine Person, die in einem
anderen Mitgliedstaat an einem Ort wohnt, der vom Ort des Gewerbebetriebs nicht
weit entfernt ist.
- 36.
- Zum anderen ließe sich durch weniger einschneidende Maßnahmen sicherstellen,
daß die Bescheide über die gegen den Geschäftsführer verhängten Geldstrafen
diesem zugestellt und die Strafen vollstreckt werden. Zu denken wäre etwa an die
Zustellung des Strafbescheids am Sitz des Gewerbebetriebs, der den
Geschäftsführer beschäftigt, und die Absicherung seiner Zahlung durch die
vorherige Stellung einer Sicherheit.
- 37.
- Schließlich sind selbst solche Maßnahmen im Hinblick auf die fraglichen Zwecke
nicht gerechtfertigt, wenn die Zustellung des Bescheides über die Geldstrafen, die
gegen einen Geschäftsführer mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat verhängt
werden, und die Vollstreckung dieser Strafen durch ein völkerrechtliches
Abkommen zwischen dem Mitgliedstaat, in dem das Gewerbe ausgeübt wird, und
dem Mitgliedstaat des Wohnsitzes des Geschäftsführers gewährleistet sind.
- 38.
- Daraus folgt, daß das streitige Wohnsitzerfordernis eine mittelbare Diskriminierung
darstellt.
- 39.
- Zu den auch vom vorlegenden Gericht angeführten Rechtfertigungsgründen des
Artikels 48 Absatz 3 EG-Vertrag ist festzustellen, daß es keine Gründe der
öffentlichen Sicherheit und Gesundheit gibt, die eine allgemeine Regelung wie
diejenige, um die es im Ausgangsverfahren geht, rechtfertigen könnten.
- 40.
- Zu dem ebenfalls in Artikel 48 Absatz 3 EG-Vertrag vorgesehenen
Rechtfertigungsgrund der öffentlichen Ordnung hat der Gerichtshof bereits für
Recht erkannt (Urteil vom 27. Oktober 1977 in der Rechtssache 30/77,
Bouchereau, Slg. 1977, 1999), daß die Berufung auf diesen Begriff, wenn er
Beschränkungen der Freizügigkeit von dem Gemeinschaftsrecht unterliegenden
Personen rechtfertigen soll, zumindest voraussetzt, daß über die Störung der
öffentlichen Ordnung hinaus, die jede Gesetzesverletzung darstellt, eine tatsächliche
und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der
Gesellschaft berührt.
- 41.
- Den Akten ist jedoch nicht zu entnehmen, daß ein solches Interesse berührt sein
könnte, wenn der Inhaber eines Gewerbes für dessen Ausübung einen
Geschäftsführer bestellen kann, der nicht in dem betreffenden Staat wohnt.
- 42.
- Daher ist eine nationale Bestimmung wie die im Ausgangsverfahren fragliche, nach
der ein Arbeitnehmer, der für die Ausübung eines Gewerbes als Geschäftsführer
bestellt worden ist, in dem betreffenden Mitgliedstaat wohnen muß, auch nicht
durch die öffentliche Ordnung im Sinne von Artikel 48 Absatz 3 EG-Vertrag zu
rechtfertigen.
- 43.
- In Anbetracht der vorstehenden Erwägungen ist auf die zweite Frage zu antworten,
daß es gegen Artikel 48 EG-Vertrag verstößt, wenn ein Mitgliedstaat dem Inhaber
eines Gewerbes, das dieser im Gebiet dieses Staates ausübt, verbietet, eine Person
als Geschäftsführer zu bestellen, die in diesem Staat keinen Wohnsitz hat.
Kosten
- 44.
- Die Auslagen der Republik Österreich und der Kommission, die vor dem
Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die
Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei
dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit. Die Kostenentscheidung ist
daher Sache dieses Gerichts.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
auf die ihm vom Verwaltungsgerichtshof mit Beschluß vom 8. Oktober 1996
vorgelegten Fragen für Recht erkannt:
1. Auf den in Artikel 48 EG-Vertrag verankerten Grundsatz der
Gleichbehandlung auf dem Gebiet der Freizügigkeit der Arbeitnehmer kann
sich auch ein Arbeitgeber berufen, der im Mitgliedstaat seiner
Niederlassung Angehörige eines anderen Mitgliedstaats als Arbeitnehmer
beschäftigen will.
2. Es verstößt gegen Artikel 48 EG-Vertrag, wenn ein Mitgliedstaat dem
Inhaber eines Gewerbes, das dieser im Gebiet dieses Staates ausübt,
verbietet, eine Person als Geschäftsführer zu bestellen, die in diesem Staat
keinen Wohnsitz hat.
RagnemalmSchintgen
Mancini
Murray Hirsch
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Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 7. Mai 1998.
Der Kanzler
Der Präsident der Sechsten Kammer
R. Grass
H. Ragnemalm