Vorläufige Fassung

URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

25. April 2024(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 49 und 54 AEUV – Niederlassungsfreiheit – Gesellschaft, die in einem Mitgliedstaat ansässig ist, aber ihre Tätigkeiten in einem anderen Mitgliedstaat ausübt – Arbeitsweise und Geschäftsführung der Gesellschaft – Nationale Regelung, die die Anwendung des Rechts des Mitgliedstaats vorsieht, in dem eine Gesellschaft ihre Tätigkeiten ausübt – Beschränkung der Niederlassungsfreiheit – Rechtfertigung – Schutz der Interessen der Gläubiger, der Minderheitsgesellschafter und der Arbeitnehmer – Bekämpfung missbräuchlicher Praktiken und rein künstlicher Gestaltungen – Verhältnismäßigkeit“

In der Rechtssache C‑276/22

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof, Italien) mit Entscheidung vom 11. April 2022, beim Gerichtshof eingegangen am 22. April 2022, in dem Verfahren

Edil Work 2 Srl,

S.T. Srl

gegen

STE Sàrl,

Beteiligte:

CM,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin K. Jürimäe (Berichterstatterin), des Vizepräsidenten des Gerichtshofs L. Bay Larsen in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Dritten Kammer sowie der Richter N. Piçarra, N. Jääskinen und M. Gavalec,

Generalanwältin: L. Medina,

Kanzler: M. Krausenböck, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 11. Juli 2023,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        der Edil Work 2 Srl und der S.T. Srl, vertreten durch R. Vaccarella, Avvocato,

–        der STE Sàrl, vertreten durch A. Pontecorvo und P. Sammarco, Avvocati,

–        der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von F. Meloncelli, Avvocato dello Stato,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch G. Braun, L. Malferrari und M. Mataija als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 19. Oktober 2023

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 49 und 54 AEUV.

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Edil Work 2 Srl und der S.T. Srl auf der einen und der STE Sàrl auf der anderen Seite über die Rechtmäßigkeit der Übertragung des Eigentums an dem Castello di Tor Crescenza genannten Immobilienkomplex (im Folgenden: Schloss) auf die beiden erstgenannten Gesellschaften.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Der zweite Erwägungsgrund der Richtlinie (EU) 2019/2121 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. November 2019 zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 in Bezug auf grenzüberschreitende Umwandlungen, Verschmelzungen und Spaltungen (ABl. 2019, L 321, S. 1) lautet:

„Die Niederlassungsfreiheit gehört zu den Grundprinzipien des Unionsrechts. Die Niederlassungsfreiheit für Gesellschaften umfasst nach Artikel 49 Absatz 2 [AEUV] in Verbindung mit Artikel 54 AEUV unter anderem das Recht auf Gründung und Leitung von Gesellschaften nach den Bestimmungen des Niederlassungsmitgliedstaats. Der Gerichtshof der Europäischen Union hat dies dahin ausgelegt, dass die Niederlassungsfreiheit den Anspruch einer nach dem Recht eines Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaft auf Umwandlung in eine dem Recht eines anderen Mitgliedstaats unterliegende Gesellschaft umfasst, soweit die Voraussetzungen des Rechts jenes anderen Mitgliedstaats eingehalten sind und insbesondere das Kriterium erfüllt ist, das in diesem anderen Mitgliedstaat für die Verbundenheit einer Gesellschaft mit seiner nationalen Rechtsordnung erforderlich ist.“

 Italienisches Recht

4        Art. 25 der Legge n. 218 – Riforma del sistema italiano di diritto internazionale privato (Gesetz Nr. 218 über die Reform des italienischen Systems des Internationalen Privatrechts) vom 31. Mai 1995 (GURI Nr. 128 vom 3. Juni 1995, S. 1, im Folgenden: Gesetz Nr. 218/1995) sieht vor:

„1.      Gesellschaften, Vereine, Stiftungen und alle anderen Körperschaften des öffentlichen Rechts oder des bürgerlichen Rechts, selbst ohne gesellschaftsrechtlichen Charakter, unterliegen dem Recht des Staates, in dem das Verfahren zu ihrer Gründung abgeschlossen worden ist. Es gilt jedoch italienisches Recht, wenn sich der Verwaltungssitz in Italien befindet oder wenn dort der Hauptgeschäftszweck dieser juristischen Personen verwirklicht wird.

2.      Das für die Körperschaft geltende Recht regelt insbesondere

a)       die Rechtsnatur;

b)       den Namen oder die Firmenbezeichnung;

c)       die Gründung, die Umwandlung und die Löschung;

d)       die Rechtsfähigkeit;

e)       die Bildung, die Befugnisse und die Arbeitsweise der Organe;

f)       die Vertretung der juristischen Person;

g)       die Modalitäten für den Erwerb und den Verlust der Gesellschaftereigenschaft und die mit dieser Eigenschaft verbundenen Rechte und Pflichten;

h)       die Haftung für die Verbindlichkeiten der juristischen Person;

i)       die Konsequenzen bei Verstößen gegen das Gesetz oder den Gründungsakt.

3.      Die Verlegung des satzungsmäßigen Sitzes in einen anderen Staat und der Zusammenschluss von Körperschaften mit Sitz in verschiedenen Staaten sind nur dann wirksam, wenn sie im Einklang mit den Rechtsvorschriften der betroffenen Staaten erfolgen.“

5        Art. 2381 Abs. 2 des Codice civile (Zivilgesetzbuch) lautet:

„Wenn die Satzung oder die Gesellschafterversammlung dies zulassen, kann der Verwaltungsrat eigene Aufgaben einem Geschäftsführungsausschuss, der aus einigen seiner Mitglieder zusammengesetzt ist, oder einem oder mehreren seiner Mitglieder übertragen.“

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

6        Bei dem in der Nähe von Rom (Italien) belegenen Schloss handelte es sich um den einzigen Vermögensgegenstand der Agricola Torcrescenza Srl, einer Gesellschaft, deren Tätigkeit in der Verwaltung dieser Immobilie bestand. Im Jahr 2004 änderte die Gesellschaft zunächst ihren Firmennamen in STA Srl und verlegte daraufhin ihren Gesellschaftssitz nach Luxemburg, wo sie sich in eine luxemburgische Gesellschaft, STE, umwandelte und das Schloss weiterhin verwaltete.

7        Im Jahr 2010 wurde S. B. bei einer außerordentlichen Gesellschafterversammlung von STE, die in Luxemburg stattfand, zur Alleingeschäftsführerin ernannt. S. B. ernannte bei dieser Gelegenheit F. F., der weder Anteilsinhaber noch Verwaltungsratsmitglied war, zum Generalbevollmächtigten von STE und erteilte ihm die Vollmacht, „alle erforderlichen Handlungen und Geschäfte umfassend und unbeschränkt, jedoch stets im Rahmen des Gesellschaftszwecks“ vorzunehmen (im Folgenden: streitige Vollmachtserteilung).

8        Im Jahr 2012 übertrug F. F. im Namen und auf Rechnung von STE das Eigentum am Schloss auf S.T., die es danach auf Edil Work 2 übertrug. Im Jahr 2013 erhob STE vor dem Tribunale di Roma (Gericht Rom, Italien) Klage gegen S.T. und Edil Work 2 auf Nichtigerklärung der beiden Übertragungen des Eigentums am Schloss, da die streitige Vollmachtserteilung nach italienischem Recht rechtswidrig sei.

9        Das Tribunale di Roma (Gericht Rom) hielt die Vollmachtserteilung für rechtmäßig und wies die Klage ab. Nachdem das Urteil dieses Gerichts von der Corte d’appello di Roma (Berufungsgericht Rom, Italien) abgeändert worden war, legten Edil Work 2 und S.T. bei der Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof, Italien), dem vorlegenden Gericht, Rechtsmittel ein.

10      Dieses Gericht weist darauf hin, dass das italienische Recht gemäß Art. 25 Abs. 3 des Gesetzes Nr. 218/1995 die durch Verlegung des Gesellschaftssitzes in einen anderen Mitgliedstaat erfolgende Umwandlung italienischer Gesellschaften in ausländische Gesellschaften erlaube, sofern die Verlegung sowohl im Wegzugs- als auch im Zuzugsmitgliedstaat wirksam sei.

11      Es stelle sich die Frage, ob die Gründung von STE als luxemburgische Gesellschaft dazu führe, dass die Maßnahmen der Geschäftsführung dieser Gesellschaft, die ihren Tätigkeitsschwerpunkt hingegen in Italien beibehalten habe, dem luxemburgischen Recht unterworfen würden.

12      Dabei sei zum einen das allgemeine Kriterium, anhand dessen sich das auf die streitige Vollmachtserteilung anwendbare Recht im Sinne von Art. 25 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 218/1995 bestimmen lasse, der Ort, an dem die Gesellschaft gegründet worden sei.

13      Nach Satz 2 dieser Bestimmung gelte jedoch für Gesellschaften, deren Hauptgeschäftszweck sich in Italien befinde, italienisches Recht. Da sich der Tätigkeitsschwerpunkt von STE, nämlich das Schloss, das ihr alleiniges Vermögen sei, in Italien befinde, sei das italienische Recht das auf die streitige Vollmachtserteilung anwendbare Recht.

14      Gemäß Art. 2381 Abs. 2 des Zivilgesetzbuchs könne der Verwaltungsrat einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung seine Befugnisse nur an Mitglieder aus seiner Mitte übertragen. Die Übertragung dieser Befugnisse an eine nicht mit der Gesellschaft verbundene Person sei daher rechtswidrig.

15      Zum anderen umfasse die Niederlassungsfreiheit nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs den Anspruch einer nach dem Recht eines Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaft auf Umwandlung in eine Gesellschaft eines anderen Mitgliedstaats, soweit die Voraussetzungen des Rechts jenes anderen Mitgliedstaats eingehalten seien und insbesondere das darin festgelegte Anknüpfungskriterium erfüllt sei. Der Umstand, dass nur der satzungsmäßige Sitz und nicht die Hauptverwaltung oder Hauptniederlassung verlegt werde, schließe folglich für sich genommen die Anwendbarkeit der Niederlassungsfreiheit nach Art. 49 AEUV nicht aus.

16      Darüber hinaus umfasse die Niederlassungsfreiheit nach dieser Bestimmung nicht nur die Gründung, sondern auch die „Leitung von Unternehmen“. Geschäftsführungstätigkeiten seien gemäß dem zweiten Erwägungsgrund der Richtlinie 2019/2121 nach dem Recht des Niederlassungsmitgliedstaats, d. h. im vorliegenden Fall des Großherzogtums Luxemburg, auszuüben.

17      Unter diesen Umständen hat die Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Stehen die Art. 49 und 54 AEUV dem entgegen, dass ein Mitgliedstaat, in dem eine Gesellschaft (konkret eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung) ursprünglich gegründet wurde, auf diese die nationalen Bestimmungen über die Arbeitsweise und die Geschäftsführung der Gesellschaft anwendet, wenn die Gesellschaft, nachdem sie ihren Sitz verlegt und sich nach dem Recht des Zuzugsmitgliedstaats neu gegründet hat, ihren Tätigkeitsschwerpunkt im Wegzugsmitgliedstaat behält und die in Rede stehende Maßnahme der Geschäftsführung sich maßgeblich auf die Tätigkeit der Gesellschaft auswirkt?

 Zur Vorlagefrage

18      Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass es nach ständiger Rechtsprechung im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof Aufgabe des Gerichtshofs ist, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Verfahrens sachdienliche Antwort zu geben. Hierzu hat er die ihm vorgelegte Frage gegebenenfalls umzuformulieren. Zu diesem Zweck kann der Gerichtshof aus dem gesamten vom nationalen Gericht vorgelegten Material, insbesondere aus der Begründung der Vorlageentscheidung, diejenigen Elemente des Unionsrechts herausarbeiten, die unter Berücksichtigung des Gegenstands des Rechtsstreits einer Auslegung bedürfen (Urteil vom 16. Februar 2023, Staatssecretaris van Justitie en Veiligheid [Zum Zeitpunkt des Asylantrags ungeborenes Kind], C‑745/21, EU:C:2023:113, Rn. 43).

19      In der vorliegenden Rechtssache fragt das vorlegende Gericht den Gerichtshof, ob die Art. 49 und 54 AEUV dem entgegenstehen, dass die Maßnahmen der Geschäftsführung einer Gesellschaft in der Situation von STE im Hinblick darauf dem italienischen Recht unterliegen, dass diese Gesellschaft als Gesellschaft eines Mitgliedstaats, nämlich der Italienischen Republik, gegründet wurde und dann ihren Gesellschaftssitz verlegt und sich nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats, nämlich des Großherzogtums Luxemburg, gegründet hat, wobei sie ihren Tätigkeitsschwerpunkt im ersten Mitgliedstaat behalten hat.

20      Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Informationen, die das vorlegende Gericht zu prüfen hat, ergibt sich, dass bei dieser Verlegung und Umwandlung der Gesellschaft keine Beschränkung auferlegt wurde.

21      Da die Verlegung des Gesellschaftssitzes und die Umwandlung der italienischen Gesellschaft STA in die luxemburgische Gesellschaft STE somit nicht zu den Umständen gehören, die für die Beantwortung der vom vorlegenden Gericht aufgeworfenen Frage relevant sind, ist die Vorlagefrage dahin umzuformulieren, dass das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen möchte, ob die Art. 49 und 54 AEUV einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, die allgemein vorsieht, dass dessen nationales Recht auf Maßnahmen der Geschäftsführung einer Gesellschaft anzuwenden ist, die in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist, aber den Hauptteil ihrer Tätigkeiten im erstgenannten Mitgliedstaat ausübt.

22      Hierzu ist erstens zu prüfen, ob die im Ausgangsrechtsstreit in Rede stehende Situation unter die Niederlassungsfreiheit fällt.

23      Nach Art. 49 AEUV in Verbindung mit Art. 54 AEUV genießen diejenigen Gesellschaften Niederlassungsfreiheit, die nach dem Recht eines Mitgliedstaats gegründet wurden und ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung innerhalb der Europäischen Union haben (Urteil vom 25. Oktober 2017, Polbud Wykonawstwo, C‑106/16, EU:C:2017:804, Rn. 32).

24      Die Niederlassungsfreiheit umfasst nach Art. 49 Abs. 2 AEUV in Verbindung mit Art. 54 AEUV für die in der letztgenannten Bestimmung genannten Gesellschaften u. a. das Recht auf Gründung und Leitung dieser Gesellschaften nach den Bestimmungen des Niederlassungsstaats für seine eigenen Gesellschaften (Urteil vom 25. Oktober 2017, Polbud Wykonawstwo, C‑106/16, EU:C:2017:804, Rn. 33).

25      Darüber hinaus haben diese Gesellschaften das Recht, ihre Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat auszuüben, wobei ihr satzungsmäßiger Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung, ebenso wie die Staatsangehörigkeit bei natürlichen Personen, dazu dient, ihre Zugehörigkeit zur Rechtsordnung eines Mitgliedstaats zu bestimmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. November 2002, Überseering, C‑208/00, EU:C:2002:632, Rn. 57).

26      Mangels Vereinheitlichung im Unionsrecht fällt die Definition der Anknüpfung, die für das auf eine Gesellschaft anwendbare nationale Recht maßgeblich ist, gemäß Art. 54 AEUV in die Zuständigkeit jedes einzelnen Mitgliedstaats, da nach dieser Vorschrift der satzungsmäßige Sitz, die Hauptverwaltung und die Hauptniederlassung einer Gesellschaft als Anknüpfung für eine solche Verbundenheit gleich geachtet werden (Urteil vom 25. Oktober 2017, Polbud Wykonawstwo, C‑106/16, EU:C:2017:804, Rn. 34).

27      Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung erstens hervor, dass STE im Jahr 2004 als luxemburgische Gesellschaft gegründet wurde, zweitens, dass diese Gesellschaft ihren satzungsmäßigen Sitz in Luxemburg hat, und drittens, dass sie den Hauptteil ihrer Tätigkeiten in einem anderen Mitgliedstaat, nämlich der Italienischen Republik, ausübt.

28      In Anbetracht der in den Rn. 23 bis 26 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ist davon auszugehen, dass die Situation dieser Gesellschaft und insbesondere die von ihr im Hinblick auf ihre in Italien ausgeübten Tätigkeiten getroffenen Geschäftsführungsmaßnahmen unter die Niederlassungsfreiheit fallen.

29      Unter diesen Umständen ist zweitens zu prüfen, ob die Regelung eines Mitgliedstaats, die die Anwendung seines nationalen Rechts auf Maßnahmen der Geschäftsführung einer in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Gesellschaft mit der Begründung vorsieht, dass diese Gesellschaft den Hauptteil ihrer Tätigkeiten im erstgenannten Mitgliedstaat ausübt, eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit darstellt.

30      Als Beschränkung der Niederlassungsfreiheit im Sinne von Art. 49 AEUV sind alle Maßnahmen anzusehen, die die Ausübung dieser Freiheit unterbinden, behindern oder weniger attraktiv machen (Urteile vom 5. Oktober 2004, CaixaBank France, C‑442/02, EU:C:2004:586, Rn. 11, und vom 25. Oktober 2017, Polbud Wykonawstwo, C‑106/16, EU:C:2017:804, Rn. 46).

31      Eine Regelung eines Mitgliedstaats, nach der in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Gesellschaften, die den Hauptteil ihrer Tätigkeiten im erstgenannten Mitgliedstaat ausüben, im Rahmen der Durchführung ihrer Geschäftsführungsmaßnahmen neben den Verpflichtungen, die sich gegebenenfalls aus dem Recht ihres Niederlassungsmitgliedstaats ergeben, auch das Recht des erstgenannten Mitgliedstaats zu beachten haben, könnte die Geschäftsführung solcher Gesellschaften erschweren, da diese danach verpflichtet sein könnten, die Anforderungen beider Regelungskomplexe zu erfüllen.

32      Eine solche Regelung ist folglich geeignet, die Ausübung der Niederlassungsfreiheit weniger attraktiv zu machen, und stellt deshalb ein Hindernis für die Ausübung der Niederlassungsfreiheit dar.

33      Im vorliegenden Fall ergibt sich aus der Vorlageentscheidung, dass STE eine Gesellschaft luxemburgischen Rechts ist, deren satzungsmäßiger Sitz sich in Luxemburg befindet. Der Vorlageentscheidung ist jedoch auch zu entnehmen, dass diese Gesellschaft nach Art. 25 Abs. 1 Satz 2 des Gesetzes Nr. 218/1995 in Bezug auf ihre Geschäftsführungsmaßnahmen nur deshalb dem italienischen Recht unterliegt, weil sie den Hauptteil ihrer Tätigkeiten in Italien ausübt.

34      Unter diesen Umständen könnte eine Gesellschaft, die sich in der Situation von STE befindet, kumulativ sowohl dem luxemburgischen als auch dem italienischen Recht unterliegen. Eine solche kumulative Anwendung des Rechts zweier Mitgliedstaaten kann die Geschäftsführung dieser Gesellschaft erschweren.

35      Daher ist drittens zu prüfen, ob eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit, die sich aus einer Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden ergibt, gleichwohl gerechtfertigt sein könnte.

36      Eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit ist nach ständiger Rechtsprechung nur statthaft, wenn sie durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist. Sie muss außerdem geeignet sein, die Erreichung des fraglichen Ziels zu gewährleisten, und darf nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 13. Dezember 2005, Marks & Spencer, C‑446/03, EU:C:2005:763, Rn. 35, und vom 25. Oktober 2017, Polbud Wykonawstwo, C‑106/16, EU:C:2017:804, Rn. 52).

37      Hierzu ist zunächst festzustellen, dass das vorlegende Gericht nicht die Gründe angibt, die die Beschränkung der Niederlassungsfreiheit rechtfertigen würden, die mit der Anwendung von Art. 25 Abs. 1 Satz 2 des Gesetzes Nr. 218/1995 auf Geschäftsführungsmaßnahmen einer nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats wirksam gegründeten Gesellschaft, die den Hauptteil ihrer Tätigkeiten im italienischen Hoheitsgebiet ausübt, verbunden ist. Solche Hinweise ergeben sich auch nicht aus dem Wortlaut dieser Bestimmung oder aus dem von Art. 2381 des Zivilgesetzbuchs.

38      Dagegen ergibt sich aus den Schriftsätzen der italienischen Regierung erstens, dass die in Rede stehende Beschränkung der Niederlassungsfreiheit durch das Ziel gerechtfertigt ist, Aktionäre, Gläubiger, Arbeitnehmer und Dritte zu schützen.

39      Insoweit ist daran zu erinnern, dass der Schutz der Interessen der Gläubiger, der Arbeitnehmer und der Minderheitsgesellschafter zu den vom Gerichtshof anerkannten zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gehört (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Oktober 2017, Polbud Wykonawstwo, C‑106/16, EU:C:2017:804, Rn. 54 und die dort angeführte Rechtsprechung).

40      Somit stehen die Art. 49 und 54 AEUV grundsätzlich Maßnahmen eines Mitgliedstaats nicht entgegen, mit denen verhindert werden soll, dass die Interessen der Gläubiger, der Minderheitsgesellschafter und der Arbeitnehmer einer Gesellschaft, die nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats gegründet wurde, aber den Hauptteil ihrer Tätigkeiten im Inland ausübt, übermäßig beeinträchtigt werden.

41      Nach der in Rn. 36 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung muss die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Beschränkung jedoch geeignet sein, die Erreichung des Ziels zu gewährleisten, die Gläubiger, die Minderheitsgesellschafter und die Arbeitnehmer zu schützen, und darf nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist.

42      Wenn Art. 25 Abs. 1 Satz 2 des Gesetzes Nr. 218/1995 dahin auszulegen wäre, dass er dazu führt, dass sich jede Maßnahme der Geschäftsführung einer Gesellschaft, die nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats wirksam gegründet wurde, aber den Hauptteil ihrer Tätigkeiten in Italien ausübt, nach italienischem Recht zu richten hätte, könnte nicht geprüft werden, ob in einem konkreten Fall die Gefahr besteht, dass die Interessen der Gläubiger, der Minderheitsgesellschafter oder der Arbeitnehmer beeinträchtigt werden. Eine solche Gefahr kann nämlich u. a. von der Art der getroffenen Maßnahme abhängen und je nach Zusammensetzung der Anteilsinhaber der fraglichen Gesellschaft anders aussehen. Darüber hinaus können die oben genannten Interessen nach dem Recht des Mitgliedstaats, in dem die fragliche Gesellschaft gegründet wurde, berücksichtigt worden sein; diesem Umstand kann mit der automatischen Anwendung des italienischen Rechts nicht Rechnung getragen werden.

43      Demnach geht eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende über das hinaus, was zur Erreichung des Ziels, die in Rn. 39 des vorliegenden Urteils genannten Interessen zu schützen, erforderlich ist.

44      Zweitens macht die italienische Regierung geltend, mit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung sollten missbräuchliche Praktiken bekämpft werden, indem Verhaltensweisen verhindert würden, die darin bestünden, rein künstliche, jeder wirtschaftlichen Realität bare Gestaltungen zu errichten.

45      Insoweit können die Mitgliedstaaten zwar alle geeigneten Maßnahmen treffen, um Betrügereien zu verhindern oder zu verfolgen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 9. März 1999, Centros, C‑212/97, EU:C:1999:126, Rn. 38, und vom 25. Oktober 2017, Polbud Wykonawstwo, C‑106/16, EU:C:2017:804, Rn. 61).

46      Darüber hinaus kann die Bekämpfung von Steuerumgehung und Steuerbetrug eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit im Sinne von Art. 49 AEUV rechtfertigen, wenn das spezifische Ziel der Beschränkung darin liegt, Verhaltensweisen zu verhindern, die darin bestehen, rein künstliche, jeder wirtschaftlichen Realität bare Gestaltungen zu dem Zweck zu errichten, der Steuer zu entgehen, die normalerweise für durch Tätigkeiten im Inland erzielte Gewinne geschuldet wird (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 12. September 2006, Cadbury Schweppes und Cadbury Schweppes Overseas, C‑196/04, EU:C:2006:544, Rn. 55, und vom 20. Januar 2021, Lexel, C‑484/19, EU:C:2021:34, Rn. 49).

47      Der Gerichtshof hat jedoch zum einen entschieden, dass es für sich allein keinen Missbrauch darstellt, wenn eine Gesellschaft ihren – satzungsmäßigen oder tatsächlichen – Sitz nach dem Recht eines Mitgliedstaats begründet, um in den Genuss günstigerer Rechtsvorschriften zu kommen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 9. März 1999, Centros, C‑212/97, EU:C:1999:126, Rn. 27, und vom 25. Oktober 2017, Polbud Wykonawstwo, C‑106/16, EU:C:2017:804, Rn. 40).

48      Zum anderen kann allein der Umstand, dass eine Gesellschaft mit Sitz in einem Mitgliedstaat den Hauptteil ihrer Tätigkeiten in einem anderen Mitgliedstaat ausübt, nicht die allgemeine Vermutung der Steuerhinterziehung begründen und keine die Wahrnehmung einer vom Vertrag garantierten Grundfreiheit beeinträchtigende Maßnahme rechtfertigen (vgl. entsprechend Urteil vom 25. Oktober 2017, Polbud Wykonawstwo, C‑106/16, EU:C:2017:804, Rn. 63).

49      Wenn die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung dahin auszulegen wäre, dass auf jede Maßnahme der Geschäftsführung einer Gesellschaft, die in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist, aber den Hauptteil ihrer Tätigkeiten in Italien ausübt, systematisch italienisches Recht anzuwenden ist, käme sie im vorliegenden Fall einer Vermutung gleich, wonach die Verhaltensweisen einer solchen Gesellschaft missbräuchlich sind. Eine solche Regelung wäre in Anbetracht der in den Rn. 47 und 48 des vorliegenden Urteils dargelegten Erwägungen unverhältnismäßig (vgl. entsprechend Urteil vom 25. Oktober 2017, PolbudWykonawstwo, C‑106/16, EU:C:2017:804, Rn. 64).

50      Demnach ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Art. 49 und 54 AEUV dahin auszulegen sind, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, die allgemein vorsieht, dass dessen nationales Recht auf Maßnahmen der Geschäftsführung einer Gesellschaft anzuwenden ist, die in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist, aber den Hauptteil ihrer Tätigkeiten im erstgenannten Mitgliedstaat ausübt.

 Kosten

51      Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

Die Art. 49 und 54 AEUV

sind dahin auszulegen, dass

sie einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, die allgemein vorsieht, dass dessen nationales Recht auf Maßnahmen der Geschäftsführung einer Gesellschaft anwendbar ist, die in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist, aber den Hauptteil ihrer Tätigkeiten im erstgenannten Mitgliedstaat ausübt.

Unterschriften


*      Verfahrenssprache: Italienisch.