URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

5. März 2015(*)

„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats – Steuerwesen – Mehrwertsteuer – Anwendung eines ermäßigten Steuersatzes – Lieferung von digitalen und elektronischen Büchern“

In der Rechtssache C‑479/13

betreffend eine Vertragsverletzungsklage nach Art. 258 AEUV, eingereicht am 6. September 2013,

Europäische Kommission, vertreten durch C. Soulay und F. Dintilhac als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,

Klägerin,

gegen

Französische Republik, vertreten durch D. Colas und J.‑S. Pilczer als Bevollmächtigte,

Beklagte,

unterstützt durch:

Königreich Belgien, vertreten durch M. Jacobs und J.‑C. Halleux als Bevollmächtigte,

Streithelfer,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten L. Bay Larsen, der Richterin K. Jürimäe sowie der Richter J. Malenovský, M. Safjan und der Richterin A. Prechal (Berichterstatterin),

Generalanwalt: P. Mengozzi,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Mit ihrer Klage beantragt die Europäische Kommission, festzustellen, dass die Französische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus den Art. 96 und 98 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. L 347, S. 1) in der durch die Richtlinie 2010/88/EU des Rates vom 7. Dezember 2010 (ABl. L 326, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie) in Verbindung mit deren Anhängen II und III und der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 282/2011 des Rates vom 15. März 2011 zur Festlegung von Durchführungsvorschriften zur Richtlinie 2006/112 (ABl. L 77, S. 1) verstoßen hat, dass sie einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz auf die Lieferung von digitalen (oder elektronischen) Büchern angewandt hat.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

2        Art. 14 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:

„Als ‚Lieferung von Gegenständen‘ gilt die Übertragung der Befähigung, wie ein Eigentümer über einen körperlichen Gegenstand zu verfügen.“

3        Art. 24 Abs. 1 dieser Richtlinie lautet:

„Als ‚Dienstleistung‘ gilt jeder Umsatz, der keine Lieferung von Gegenständen ist.“

4        Art. 96 dieser Richtlinie bestimmt:

„Die Mitgliedstaaten wenden einen Mehrwertsteuer-Normalsatz an, den jeder Mitgliedstaat als Prozentsatz der Bemessungsgrundlage festsetzt und der für die Lieferungen von Gegenständen und für Dienstleistungen gleich ist.“

5        Art. 98 Abs. 1 und 2 dieser Richtlinie sieht vor:

„(1)      Die Mitgliedstaaten können einen oder zwei ermäßigte Steuersätze anwenden.

(2)      Die ermäßigten Steuersätze sind nur auf die Lieferungen von Gegenständen und die Dienstleistungen der in Anhang III genannten Kategorien anwendbar.

Die ermäßigten Steuersätze sind nicht anwendbar auf elektronisch erbrachte Dienstleistungen.“

6        In Anhang II der Mehrwertsteuerrichtlinie, der ein „Exemplarisches Verzeichnis elektronisch erbrachter Dienstleistungen im Sinne des Artikels 58 und des Artikels 59 Absatz 1 Buchstabe k“ enthält, die der Bestimmung des Ortes der Dienstleistung dienen, die gegenüber nicht steuerpflichtigen Personen erbracht wurden, wird in Nr. 3 aufgeführt:

„Bereitstellung von Bildern, Texten und Informationen sowie Bereitstellung von Datenbanken“.

7        In der ursprünglichen Fassung der Richtlinie 2006/112 wird in Anhang III, der das Verzeichnis der Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen enthält, auf die ermäßigte Steuersätze gemäß Art. 98 angewandt werden können, in Nr. 6 aufgeführt:

„Lieferung von Büchern, einschließlich des Verleihs durch Büchereien (einschließlich Broschüren, Prospekte und ähnliche Drucksachen, Bilder-, Zeichen- oder Malbücher für Kinder, Notenhefte oder ‑manuskripte, Landkarten und hydrografische oder sonstige Karten), Zeitungen und Zeitschriften, mit Ausnahme von Druckerzeugnissen, die vollständig oder im Wesentlichen Werbezwecken dienen“.

8        In der Richtlinie 2009/47/EG des Rates vom 5. Mai 2009 (ABl. L 116, S. 18), durch die die Richtlinie 2006/112 geändert wurde, heißt es im vierten Erwägungsgrund:

„Die Richtlinie 2006/112/EC sollte ferner geändert werden, um die Anwendung ermäßigter Mehrwertsteuersätze oder aber Steuerbefreiungen in einer begrenzten Zahl bestimmter Fälle aus sozial- oder gesundheitspolitischen Gründen zu ermöglichen und um die Bezugnahme auf Bücher in Anhang III klarer zu fassen und dem technischen Fortschritt Rechnung zu tragen.“

9        Seit dem 1. Juni 2009, dem Datum des Inkrafttretens der Richtlinie 2009/47, lautet Anhang III Nr. 6 der Mehrwertsteuerrichtlinie wie folgt:

„Lieferung von Büchern auf jeglichen physischen Trägern, einschließlich des Verleihs durch Büchereien (einschließlich Broschüren, Prospekte und ähnliche Drucksachen, Bilder-, Zeichen- oder Malbücher für Kinder, Notenhefte oder Manuskripte, Landkarten und hydrografische oder sonstige Karten), Zeitungen und Zeitschriften, mit Ausnahme von Druckerzeugnissen, die vollständig oder im Wesentlichen Werbezwecken dienen“.

10      Die Durchführungsverordnung Nr. 282/2011 sieht in Art. 7 Abs. 1 und 2 vor:

„(1)      ‚Elektronisch erbrachte Dienstleistungen‘ im Sinne der [Mehrwertsteuerrichtlinie] umfassen Dienstleistungen, die über das Internet oder ein ähnliches elektronisches Netz erbracht werden, deren Erbringung aufgrund ihrer Art im Wesentlichen automatisiert und nur mit minimaler menschlicher Beteiligung erfolgt und ohne Informationstechnologie nicht möglich wäre.

(2)      Unter Absatz 1 fällt insbesondere Folgendes:

f)      die in Anhang I genannten Dienstleistungen.“

11      Anhang I der Durchführungsverordnung Nr. 282/2011 mit der Überschrift „Artikel 7 der vorliegenden Verordnung“ bestimmt in Nr. 3:

„Anhang II Nummer 3 der [Mehrwertsteuerrichtlinie] …:

c)      digitalisierter Inhalt von E-Books und anderen elektronischen Publikationen;

…“

 Französisches Recht

12      Art. 278-0 bis des Code général des impôts (Allgemeines Steuergesetzbuch, im Folgenden: CGI) in der Fassung, die bei Ablauf der Frist galt, die in der am 25. Oktober 2012 an die Französische Republik gerichteten mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzt worden war, sieht vor:

„Die Mehrwertsteuer wird zu einem ermäßigten Satz von 5,5 % erhoben auf:

A. Umsätze aus dem Ankauf, der Einfuhr, dem innergemeinschaftlichen Erwerb, dem Verkauf, der Lieferung, der Beauftragung, der Vermittlung oder anderer Art mit:

3.      Büchern, einschließlich deren Miete. Die vorliegende Nr. 3 gilt für Bücher auf jeglichen physischen Datenträgern, einschließlich der durch elektronisches Herunterladen zur Verfügung gestellten Bücher.

…“

 Vorverfahren und Verfahren vor dem Gerichtshof

13      Die Kommission war der Auffassung, dass die Anwendung des ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf Umsätze mit Büchern, die seit dem 1. Januar 2012 für elektronisches Herunterladen zur Verfügung gestellt wurden, der Mehrwertsteuerrichtlinie widerspreche. Sie übermittelte daher der Französischen Republik am 4. Juli 2012 ein Aufforderungsschreiben. Dieser Mitgliedstaat antwortete darauf mit Schreiben vom 3. August 2012.

14      Am 25. Oktober 2012 gab die Kommission eine mit Gründen versehene Stellungnahme ab, mit der sie die Französische Republik aufforderte, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um dieser Stellungnahme binnen eines Monats nach ihrem Empfang nachzukommen. Dieser Mitgliedstaat antwortete darauf mit Schreiben vom 23. November 2012.

15      Da die Erklärungen der Französischen Republik die Kommission nicht zufriedenstellten, hat sie die vorliegende Klage erhoben.

16      Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 6. Februar 2014 ist das Königreich Belgien als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge der Französischen Republik zugelassen worden.

 Zur Klage

 Vorbemerkungen

17      Die Kommission weist darauf hin, dass unter der Lieferung von digitalen oder elektronischen Büchern die entgeltliche Lieferung von Büchern in elektronischem Format zu verstehen sei, die mit einem Computer, einem Smartphone, einem E-Book-Lesegerät oder einem anderen Lesegerät über Herunterladen oder Streaming von einer Website abgerufen werden können (im Folgenden: Lieferung von elektronischen Büchern).

18      Die Französische Republik macht geltend, dass die Definition von digitalen oder elektronischen Büchern, auf die in Anwendung von Art. 278-0 bis CGI ein ermäßigter Mehrwertsteuersatz anzuwenden sei, enger sei als die von der Kommission gewählte Definition. Nach Ansicht dieses Mitgliedstaats ist der ermäßigte Mehrwertsteuersatz gemäß dieser Vorschrift nur auf sogenannte „homothetische“ Bücher anzuwenden, nämlich auf Bücher, die gedruckten oder auf einem anderen physischen Träger zur Verfügung gestellten Büchern entsprächen und die sich von diesen nur durch einige Merkmale ihres Formats unterschieden.

19      In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass allein der Umstand, dass Art. 278-0 bis CGI im Hinblick auf digitale oder elektronische Bücher nur für homothetische Bücher gilt, nicht den Schluss zulässt, dass sich die Kommission mit ihrer Klage notwendigerweise auf eine umfassendere Kategorie von digitalen oder elektronischen Büchern bezieht als jene, für die der ermäßigte Mehrwertsteuersatz gemäß dieser Vorschrift gilt. Die von der Kommission in ihrer Klage genannten digitalen oder elektronischen Bücher definieren sich nämlich über die Art ihrer Lieferung. Die Französische Republik bestreitet jedoch nicht, dass im Hinblick auf dieses Kriterium die homothetischen Bücher den Büchern entsprechen, die die Kommission in ihrer Klage nennt.

20      Selbst wenn Art. 278-0 bis CGI den Begriff „Herunterladen“ verwendet, behauptet dieser Mitgliedstaat im Übrigen nicht, dass die Lieferung von Büchern im Wege des Streamings vom Anwendungsbereich dieser Vorschrift ausgenommen sei.

21      Unter diesen Umständen ist die Prüfung der Klage nicht auf eine engere Kategorie von digitalen oder elektronischen Büchern als die von der Kommission in ihrer Klageschrift genannte zu beschränken.

 Zur Begründetheit

22      Die Kommission trägt vor, dass die Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf die Lieferung von elektronischen Büchern durch die Französische Republik mit den Art. 96 und 98 der Mehrwertsteuerrichtlinie in Verbindung mit deren Anhängen II und III und der Durchführungsverordnung Nr. 282/2011 unvereinbar sei.

23      Dieses Organ weist darauf hin, dass gemäß Art. 98 Abs. 2 Unterabs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie die ermäßigten Mehrwertsteuersätze nur auf die in Anhang III dieser Richtlinie genannten Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen angewendet werden könnten. Die Lieferung von elektronischen Büchern falle daher nicht in den Anwendungsbereich dieses Anhangs, und auf sie sei daher der vorteilhafte ermäßigte Mehrwertsteuersatz nicht anwendbar. Diese Auslegung werde durch Art. 98 Abs. 2 Unterabs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestätigt, der die Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf elektronisch erbrachte Dienstleistungen ausschließe.

24      Die Französische Republik, unterstützt durch das Königreich Belgien, wendet sich gegen die von der Kommission vertretene Auslegung der betreffenden Vorschriften der Mehrwertsteuerrichtlinie. Nach Ansicht dieser Mitgliedstaaten unterfällt die Lieferung von elektronischen Büchern Nr. 6 des Anhangs III der Mehrwertsteuerrichtlinie und kann daher Gegenstand eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes sein.

25      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 96 der Mehrwertsteuerrichtlinie auf Lieferungen von Gegenständen und auf Dienstleistungen der gleiche Mehrwertsteuersatz, nämlich der Normalsatz, anzuwenden ist. Abweichend von diesem Grundsatz räumt Art. 98 Abs. 1 dieser Richtlinie den Mitgliedstaaten die Möglichkeit ein, einen oder zwei ermäßigte Steuersätze anzuwenden. Nach Art. 98 Abs. 2 Unterabs. 1 sind die ermäßigten Steuersätze nur auf die Lieferungen von Gegenständen und die Dienstleistungen der in Anhang III der Mehrwertsteuerrichtlinie genannten Kategorien anwendbar (Urteil K, C‑219/13, EU:C:2014:2207, Rn. 21 und 22).

26      Zum Vorbringen der Französischen Republik und des Königreichs Belgien, dass die Lieferung von elektronischen Büchern unter Nr. 6 des Anhangs III der Mehrwertsteuerrichtlinie falle, ist zu beachten, dass bei der Bestimmung der Bedeutung einer Vorschrift des Unionsrechts sowohl ihr Wortlaut als auch ihr Zusammenhang und ihre Ziele zu berücksichtigen sind (vgl. u. a. Urteil NCC Construction Danmark, C‑174/08, EU:C:2009:669, Rn. 23 und die dort angeführte Rechtsprechung).

27      Es ist darauf hinzuweisen, dass dieser Anhang III in Nr. 6 in der Kategorie der Dienstleistungen, auf die ermäßigte Mehrwertsteuersätze angewandt werden können, ausdrücklich die „Lieferung von Büchern auf jeglichen physischen Trägern“ nennt. Somit ergibt sich aus dem Wortlaut dieser Nummer, dass der ermäßigte Mehrwertsteuersatz auf den Vorgang der Lieferung eines Buchs, das sich auf einem physischen Träger befindet, anzuwenden ist. Wie die Kommission zu Recht ausgeführt hat, würde eine andere Auslegung den Begriffen „auf jeglichen physischen Trägern“ dieser Nummer ihren Sinn nehmen.

28      Auch wenn ein elektronisches Buch einen physischen Träger wie z. B. einen Computer erfordert, um gelesen werden zu können, ist ein solcher Träger jedoch von der Lieferung elektronischer Bücher nicht erfasst.

29      In Anbetracht des Wortlauts von Nr. 6 erstreckt sich folglich der Anwendungsbereich dieser Bestimmung nicht auf die Lieferung von elektronischen Büchern.

30      Diese Auslegung wird durch den Kontext der Bestimmung bestätigt. Diese stellt nämlich eine Ausnahme von dem Grundsatz dar, dass die Mitgliedstaaten einen Normalsatz der Mehrwertsteuer auf Vorgänge, die dieser Steuer unterliegen, anwenden, und sie ist daher eng auszulegen (vgl. u. a. Urteil Kommission/Spanien, C‑360/11, EU:C:2013:17, Rn. 18 und die dort angeführte Rechtsprechung).

31      Es ist zwar richtig, dass der Unionsgesetzgeber, wie die Französische Republik und das Königreich Belgien zu Recht vortragen, mit der Ausweitung des Anwendungsbereichs von Nr. 6 des Anhangs III der Mehrwertsteuerrichtlinie durch die mit der Richtlinie 2009/47 eingeführte Änderung auf die „Lieferung von Büchern auf jeglichen physischen Trägern“ das Ziel verfolgte – wie sich aus dem vierten Erwägungsgrund der Richtlinie 2009/47 ergibt –, die Bezugnahme auf den Begriff „Bücher“ in dieser Nummer klarer zu fassen und dem technischen Fortschritt Rechnung zu tragen.

32      Wie die Französische Republik zu Recht geltend macht, hat der Unionsgesetzgeber mit der Einführung des Anhangs III der Richtlinie 2006/112 außerdem das Ziel verfolgt, dass auf die grundlegenden Güter sowie auf Gegenstände und Dienstleistungen, die sozialen oder kulturellen Zielen dienen, soweit von ihnen keine oder nur eine geringe Gefahr einer Wettbewerbsverzerrung ausgeht, ein ermäßigter Mehrwertsteuersatz angewandt wird (vgl. in diesem Sinne Urteil Kommission/Niederlande, C‑41/09, EU:C:2011:108, Rn. 52).

33      Dennoch ändert dies nichts daran, dass der Unionsgesetzgeber, wie sich aus Art. 98 Abs. 2 Unterabs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie ergibt, ebenfalls entschieden hat, die Möglichkeit der Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf „elektronisch erbrachte Dienstleistungen“ auszuschließen.

34      Die Lieferung von elektronischen Büchern stellt aber eine „elektronisch erbrachte Dienstleistung“ im Sinne von Art. 98 Abs. 2 Unterabs. 2 dar.

35      Zum einen gilt nämlich nach Art. 24 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie als „Dienstleistung“ jeder Umsatz, der keine Lieferung von Gegenständen ist, wobei eine „Lieferung von Gegenständen“ nach Art. 14 Abs. 1 dieser Richtlinie die Übertragung der Befähigung voraussetzt, wie ein Eigentümer über einen körperlichen Gegenstand zu verfügen. Die Lieferung von elektronischen Büchern kann aber entgegen der Auffassung der Französischen Republik nicht als eine „Lieferung von Gegenständen“ im Sinne dieser zuletzt genannten Bestimmung angesehen werden, da ein elektronisches Buch nicht als ein körperlicher Gegenstand angesehen werden kann. Wie sich aus Rn. 28 des vorliegenden Urteils ergibt, ist der physische Träger, der das Lesen dieses Buchs ermöglicht und als „körperlicher Gegenstand“ betrachtet werden könnte, in der Lieferung nicht enthalten. Folglich ist nach Art. 24 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie die Lieferung von elektronischen Büchern als eine Dienstleistung anzusehen.

36      Zum anderen umfassen gemäß Art. 7 Abs. 1 der Durchführungsverordnung Nr. 282/2011 „elektronisch erbrachte Dienstleistungen“ im Sinne der Mehrwertsteuerrichtlinie „Dienstleistungen, die über das Internet oder ein ähnliches elektronisches Netz erbracht werden, deren Erbringung aufgrund ihrer Art im Wesentlichen automatisiert und nur mit minimaler menschlicher Beteiligung erfolgt und ohne Informationstechnologie nicht möglich wäre“. Es ist festzustellen, dass die Lieferung von elektronischen Büchern unter diese Definition fällt.

37      Diese Auslegung wird durch Nr. 3 des Anhangs II der Mehrwertsteuerrichtlinie in Verbindung mit Art. 7 Abs. 1 und 2 der Durchführungsverordnung und Nr. 3 ihres Anhangs I bestätigt, aus denen sich ergibt, dass die Lieferung des digitalisierten Inhalts von Büchern eine solche Dienstleistung darstellt.

38      Dem steht nicht der Umstand entgegen, dass Anhang II der Mehrwertsteuerrichtlinie ein exemplarisches Verzeichnis elektronisch erbrachter Dienstleistungen im Sinne des Art. 58 und des Art. 59 Abs. 1 Buchst. k der Mehrwertsteuerrichtlinie enthält. Die Tatsache nämlich, dass dieser Anhang nur die elektronisch erbrachten Dienstleistungen aufzählt, die für die Anwendung dieser beiden Vorschriften relevant sind, hat keinen Einfluss auf die Natur dieser Dienstleistungen.

39      Im Übrigen dient, wie sich aus dem Wortlaut des Art. 7 Abs. 1 der Durchführungsverordnung Nr. 282/2011 ergibt, im Kontext dieser Bestimmung der Verweis auf die in Nr. 3 des Anhangs II der Mehrwertsteuerrichtlinie aufgezählten Dienstleistungen der näheren Bezeichnung der elektronisch erbrachten Dienstleistungen, die in der Mehrwertsteuerrichtlinie im Allgemeinen und nicht ausschließlich in bestimmten Vorschriften dieser Richtlinie eine Regelung finden.

40      Folglich kann, da die Lieferung von elektronischen Büchern eine „elektronisch erbrachte Dienstleistung“ im Sinne von Art. 98 Abs. 2 Unterabs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie darstellt und diese Bestimmung die Möglichkeit ausschließt, einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz auf solche Dienstleistungen anzuwenden, Nr. 6 des Anhangs III der Mehrwertsteuerrichtlinie nicht so ausgelegt werden, dass sie die Lieferung von elektronischen Büchern in ihren Geltungsbereich einbezöge. Mit einer solchen Auslegung würde der Wille des Unionsgesetzgebers verkannt, diesen Dienstleistungen nicht den ermäßigten Mehrwertsteuersatz zugutekommen zu lassen.

41      Unter Berücksichtigung sowohl des Wortlauts von Nr. 6 des Anhangs III der Mehrwertsteuerrichtlinie als auch des Zusammenhangs und der Ziele der Regelung, in die sich diese Bestimmung einfügt, kann diese Nummer folglich nicht so ausgelegt werden, dass sie elektronische Bücher in ihren Anwendungsbereich einbezieht.

42      Entgegen dem Vorbringen der Französischen Republik und des Königreichs Belgien wird diese Auslegung nicht durch den Grundsatz der steuerlichen Neutralität in Frage gestellt, in dem der Unionsgesetzgeber den Grundsatz der Gleichbehandlung im Mehrwertsteuerbereich zum Ausdruck gebracht hat (Urteil NCC Construction Danmark, EU:C:2009:669, Rn. 41 und die dort angeführte Rechtsprechung).

43      Der Grundsatz der steuerlichen Neutralität erlaubt es nämlich nicht, den Geltungsbereich eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auszuweiten, soweit es an einer eindeutigen Bestimmung fehlt (vgl. in diesem Sinne Urteil Zimmermann, C‑174/11, EU:C:2012:716, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung). Nr. 6 des Anhangs III der Mehrwertsteuerrichtlinie ist indessen keine Bestimmung, die in eindeutiger Weise den Geltungsbereich der ermäßigten Mehrwertsteuersätze auf die Lieferung von elektronischen Büchern ausweitet. Vielmehr fällt, wie sich aus Rn. 41 des vorliegenden Urteils ergibt, eine solche Lieferung nicht unter diese Bestimmung.

44      Da auch unstreitig ist, dass die Lieferung von elektronischen Büchern in keine andere Kategorie von Dienstleistung fällt, die in Anhang III der Mehrwertsteuerrichtlinie genannt wird, steht die Anwendung eines ermäßigten Mehrwertsteuersatzes auf eine solche Lieferung nicht im Einklang mit Art. 98 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie.

45      Die Klage der Kommission ist demzufolge begründet.

46      Somit ist festzustellen, dass die Französische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus den Art. 96 und 98 der Mehrwertsteuerrichtlinie in Verbindung mit deren Anhängen II und III und der Durchführungsverordnung Nr. 282/2011 verstoßen hat, dass sie einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz auf die Lieferung von elektronischen Büchern angewandt hat.

 Kosten

47      Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Französische Republik mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr gemäß dem entsprechenden Antrag der Kommission ihre eigenen Kosten und die Kosten der Kommission aufzuerlegen.

48      Nach Art. 140 Abs. 1 der Verfahrensordnung tragen die Mitgliedstaaten, die dem Rechtsstreit als Streithelfer beigetreten sind, ihre eigenen Kosten. Das Königreich Belgien trägt daher seine eigenen Kosten.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt und entschieden:

1.      Die Französische Republik hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus den Art. 96 und 98 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem in der durch die Richtlinie 2010/88/EU des Rates vom 7. Dezember 2010 geänderten Fassung in Verbindung mit den Anhängen II und III dieser Richtlinie und der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 282/2011 des Rates vom 15. März 2011 zur Festlegung von Durchführungsvorschriften zur Richtlinie 2006/112 verstoßen, dass sie auf die Lieferung von digitalen oder elektronischen Büchern einen ermäßigten Mehrwertsteuersatz angewandt hat.

2.      Die Französische Republik trägt ihre eigenen Kosten und die Kosten der Europäischen Kommission.

3.      Das Königreich Belgien trägt seine eigenen Kosten.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Französisch.