URTEIL DES GERICHTSHOFS (Vierte Kammer)

13. November 2014(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Angleichung der gesundheitspolizeilichen Vorschriften – Verordnung (EG) Nr. 2073/2005 – Anhang I – Mikrobiologische Kriterien für Lebensmittel – Salmonellen in frischem Geflügelfleisch – Auf der Vertriebsstufe festgestellte Nichteinhaltung der mikrobiologischen Kriterien – Nationale Regelung, die Sanktionen für einen allein auf der Einzelhandelsstufe tätigen Lebensmittelunternehmer vorsieht – Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht – Wirksamkeit, abschreckender Charakter und Verhältnismäßigkeit der Sanktion“

In der Rechtssache C‑443/13

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Unabhängigen Verwaltungssenat in Tirol (Österreich) mit Entscheidung vom 1. August 2013, beim Gerichtshof eingegangen am 7. August 2013, in dem Verfahren

Ute Reindl, strafrechtlich verantwortliches Organ der MPREIS Warenvertriebs GmbH,

gegen

Bezirkshauptmannschaft Innsbruck

erlässt

DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten L. Bay Larsen (Berichterstatter), der Richter J. Malenovský und M. Safjan sowie der Richterinnen A. Prechal und K. Jürimäe,

Generalanwalt: M. Szpunar,

Kanzler: M. Aleksejev, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 19. Juni 2014,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von Frau Reindl, vertreten durch die Rechtsanwälte M. Waldmüller und M. Baldauf,

–        der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und J. Vitáková als Bevollmächtigte,

–        der französischen Regierung, vertreten durch D. Colas und C. Candat als Bevollmächtigte,

–        der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Bianchi und G. von Rintelen als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Verordnung (EG) Nr. 2073/2005 der Kommission vom 15. November 2005 über mikrobiologische Kriterien für Lebensmittel (ABl. L 338, S. 1) in der Fassung der Verordnung (EU) Nr. 1086/2011 der Kommission vom 27. Oktober 2011 (ABl. L 281, S. 7) (im Folgenden: Verordnung Nr. 2073/2005) in Verbindung mit Anhang I Kapitel 1 Reihe 1.28 dieser Verordnung.

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Frau Reindl und der Bezirkshauptmannschaft Innsbruck (Österreich) wegen einer gegen Frau Reindl aufgrund der Missachtung des in Anhang I Kapitel 1 Reihe 1.28 angegebenen Grenzwerts für Salmonella typhimurium verhängten Geldstrafe.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

 Verordnung (EG) Nr. 178/2002

3        Art. 1 („Ziel und Anwendungsbereich“) der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Januar 2002 zur Festlegung der allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebensmittelrechts, zur Errichtung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit und zur Festlegung von Verfahren zur Lebensmittelsicherheit (ABl. L 31, S. 1) bestimmt in Abs. 1:

„Diese Verordnung schafft die Grundlage für ein hohes Schutzniveau für die Gesundheit des Menschen und die Verbraucherinteressen bei Lebensmitteln unter besonderer Berücksichtigung der Vielfalt des Nahrungsmittelangebots, einschließlich traditioneller Erzeugnisse, wobei ein reibungsloses Funktionieren des Binnenmarkts gewährleistet wird. In ihr werden einheitliche Grundsätze und Zuständigkeiten, die Voraussetzungen für die Schaffung eines tragfähigen wissenschaftlichen Fundaments und effiziente organisatorische Strukturen und Verfahren zur Untermauerung der Entscheidungsfindung in Fragen der Lebensmittel- und Futtermittelsicherheit festgelegt.

…“

4        Art. 3 („Sonstige Definitionen“) dieser Verordnung sieht vor:

„Im Sinne dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck

3.      ‚Lebensmittelunternehmer‘ die natürlichen oder juristischen Personen, die dafür verantwortlich sind, dass die Anforderungen des Lebensmittelrechts in dem ihrer Kontrolle unterstehenden Lebensmittelunternehmen erfüllt werden;

8.      ‚Inverkehrbringen‘ das Bereithalten von Lebensmitteln oder Futtermitteln für Verkaufszwecke einschließlich des Anbietens zum Verkauf oder jeder anderen Form der Weitergabe, gleichgültig, ob unentgeltlich oder nicht, sowie den Verkauf, den Vertrieb oder andere Formen der Weitergabe selbst;

…“

5        Art. 14 („Anforderungen an die Lebensmittelsicherheit“) der Verordnung Nr. 178/2002 bestimmt:

„(1)      Lebensmittel, die nicht sicher sind, dürfen nicht in Verkehr gebracht werden.

(2)      Lebensmittel gelten als nicht sicher, wenn davon auszugehen ist, dass sie

a)      gesundheitsschädlich sind,

b)      für den Verzehr durch den Menschen ungeeignet sind.

(5)      Bei der Entscheidung der Frage, ob ein Lebensmittel für den Verzehr durch den Menschen ungeeignet ist, ist zu berücksichtigen, ob das Lebensmittel infolge einer durch Fremdstoffe oder auf andere Weise bewirkten Kontamination, durch Fäulnis, Verderb oder Zersetzung ausgehend von dem beabsichtigten Verwendungszweck nicht für den Verzehr durch den Menschen inakzeptabel geworden ist.

…“

6        Art. 17 („Zuständigkeiten“) der Verordnung sieht vor:

„(1)      Die Lebensmittel- und Futtermittelunternehmer sorgen auf allen Produktions-, Verarbeitungs- und Vertriebsstufen in den ihrer Kontrolle unterstehenden Unternehmen dafür, dass die Lebensmittel oder Futtermittel die Anforderungen des Lebensmittelrechts erfüllen, die für ihre Tätigkeit gelten, und überprüfen die Einhaltung dieser Anforderungen.

(2)      …

Außerdem legen [die Mitgliedstaaten] Vorschriften für Maßnahmen und Sanktionen bei Verstößen gegen das Lebensmittel- und Futtermittelrecht fest. Diese Maßnahmen und Sanktionen müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein.“

 Verordnung Nr. 2160/2003

7        In Art. 1 („Gegenstand und Geltungsbereich“) der Verordnung (EG) Nr. 2160/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. November 2003 zur Bekämpfung von Salmonellen und bestimmten anderen durch Lebensmittel übertragbaren Zoonoseerregern (ABl. L 325, S. 1) in der durch die Verordnung Nr. 1086/2011 geänderten Fassung (im Folgenden: Verordnung Nr. 2160/2003) heißt es:

„(1)      Diese Verordnung soll gewährleisten, dass angemessene und wirksame Maßnahmen zur Feststellung und Bekämpfung von Salmonellen und anderen Zoonoseerregern auf allen relevanten Herstellungs-, Verarbeitungs- und Vertriebsstufen, insbesondere auf der Ebene der Primärproduktion, auch in Futtermitteln, getroffen werden, um die Prävalenz dieser Erreger und das von ihnen ausgehende Risiko für die öffentliche Gesundheit zu senken.

(2)      Diese Verordnung regelt

a)      die Festlegung von Zielen für die Senkung der Prävalenz bestimmter Zoonosen in Tierpopulationen:

i)      auf der Ebene der Primärproduktion und

ii)      auf anderen Stufen der Lebensmittelkette, einschließlich in Lebens- und Futtermitteln, wenn dies im Fall der betreffenden Zoonose oder des betreffenden Zoonoseerregers angebracht ist;

…“

8        Nach Art. 5 der Verordnung Nr. 2160/2003 sind mit den nationalen Bekämpfungsprogrammen die Anforderungen und Mindestvorschriften für Probeentnahmen gemäß Anhang II der Verordnung umzusetzen. Dieser Anhang („Bekämpfung der Zoonosen und Zoonoseerreger gemäß Anhang I“) enthält einen Abschnitt E über besondere Anforderungen an Frischfleisch, dessen Nr. 1 lautet:

„Ab dem 1. Dezember 2011 muss frisches Geflügelfleisch, das aus den in Anhang I genannten Tierpopulationen stammt, die entsprechenden in Anhang I Kapitel 1 Reihe 1.28 der Verordnung (EG) Nr. 2073/2005 der Kommission genannten mikrobiologischen Kriterien erfüllen.“

9        In Anhang I der Verordnung Nr. 2160/2003 sind mehrere Geflügelarten, darunter Puten, genannt.

 Verordnung Nr. 2073/2005

10      Die Erwägungsgründe 1 bis 3 der Verordnung Nr. 2073/2005 lauten:

„(1)      Zu den grundlegenden Zielen des Lebensmittelrechts zählt ein hohes Schutzniveau der Gesundheit der Bevölkerung, wie in der Verordnung [Nr. 178/2002] festgelegt. Mikrobiologische Gefahren in Lebensmitteln stellen eine Hauptquelle lebensmittelbedingter Krankheiten beim Menschen dar.

(2)      Lebensmittel sollten keine Mikroorganismen oder deren Toxine oder Metaboliten in Mengen enthalten, die ein für die menschliche Gesundheit unannehmbares Risiko darstellen.

(3)      Die Verordnung (EG) Nr. 178/2002 legt allgemeine Anforderungen an die Lebensmittelsicherheit fest, nach denen Lebensmittel, die nicht sicher sind, nicht in Verkehr gebracht werden dürfen. Lebensmittelunternehmer müssen Lebensmittel, die nicht sicher sind, vom Markt nehmen. Als Beitrag zum Schutz der öffentlichen Gesundheit und zur Verhinderung unterschiedlicher Auslegungen sollten harmonisierte Sicherheitskriterien für die Akzeptabilität von Lebensmitteln festgelegt werden, insbesondere, was das Vorhandensein bestimmter pathogener Mikroorganismen anbelangt.“

11      Art. 1 („Gegenstand und Anwendungsbereich“) dieser Verordnung bestimmt:

„Mit der vorliegenden Verordnung werden die mikrobiologischen Kriterien für bestimmte Mikroorganismen sowie die Durchführungsbestimmungen festgelegt, die von den Lebensmittelunternehmern bei der Durchführung allgemeiner und spezifischer Hygienemaßnahmen gemäß Artikel 4 der Verordnung (EG) Nr. 852/2004 einzuhalten sind …“

12      Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) der genannten Verordnung sieht vor:

„Es gelten folgende Begriffsbestimmungen:

a)      ‚Mikroorganismen‘: Bakterien, Viren, Hefen, Schimmelpilze, Algen und parasitäre Protozoen, mikroskopisch sichtbare parasitäre Helminthen sowie deren Toxine und Metaboliten;

b)      ‚Mikrobiologisches Kriterium‘: ein Kriterium, das die Akzeptabilität eines Erzeugnisses, einer Partie Lebensmittel oder eines Prozesses anhand des Nichtvorhandenseins, des Vorhandenseins oder der Anzahl von Mikroorganismen und/oder anhand der Menge ihrer Toxine/Metaboliten je Einheit Masse, Volumen, Fläche oder Partie festlegt;

c)      ‚Lebensmittelsicherheitskriterium‘: ein Kriterium, mit dem die Akzeptabilität eines Erzeugnisses oder einer Partie Lebensmittel festgelegt wird und das für im Handel befindliche Erzeugnisse gilt;

d)      ‚Prozesshygienekriterium‘: ein Kriterium, das die akzeptable Funktionsweise des Herstellungsprozesses angibt. Ein solches Kriterium gilt nicht für im Handel befindliche Erzeugnisse. Mit ihm wird ein Richtwert für die Kontamination festgelegt, bei dessen Überschreitung Korrekturmaßnahmen erforderlich sind, damit die Prozesshygiene in Übereinstimmung mit dem Lebensmittelrecht erhalten wird;

f)      ‚Haltbarkeitsdauer‘: entweder der der Datumsangabe ‚Verbrauchen bis‘ auf dem Erzeugnis oder der dem Mindesthaltbarkeitsdatum gemäß Artikel 9 bzw. 10 der Richtlinie 2000/13/EG [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. März 2000 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Etikettierung und Aufmachung von Lebensmitteln sowie die Werbung hierfür (ABl. L 109, S. 29)] entsprechende Zeitraum;

…“

13      Art. 3 („Allgemeine Anforderungen“) der Verordnung Nr. 2073/2005 bestimmt:

„(1)      Die Lebensmittelunternehmer stellen sicher, dass Lebensmittel die in Anhang I zu dieser Verordnung aufgeführten entsprechenden mikrobiologischen Kriterien einhalten. Dazu treffen die Lebensmittelunternehmer Maßnahmen auf allen Stufen der Herstellung, der Verarbeitung und des Vertriebs von Lebensmitteln, einschließlich des Einzelhandels, im Rahmen ihrer auf den HACCP[hazard analysis and critical control point]-Grundsätzen beruhenden Verfahren und der Anwendung der guten Hygienepraxis, um zu gewährleisten, dass:

a)      die ihrer Kontrolle unterliegende Lieferung, Handhabung und Verarbeitung von Rohstoffen und Lebensmitteln so durchgeführt wird, dass die Prozesshygienekriterien eingehalten werden,

b)      die während der gesamten Haltbarkeitsdauer der Erzeugnisse geltenden Lebensmittelsicherheitskriterien unter vernünftigerweise vorhersehbaren Bedingungen für Vertrieb, Lagerung und Verwendung eingehalten werden.

(2)      Erforderlichenfalls haben die für die Herstellung des Erzeugnisses verantwortlichen Lebensmittelunternehmer Untersuchungen gemäß Anhang II durchzuführen, um die Einhaltung der Kriterien während der gesamten Haltbarkeitsdauer des Erzeugnisses zu überprüfen …

…“

14      Das in Anhang I der Verordnung Nr. 2073/2005 enthaltene Kapitel 1 („Lebensmittelsicherheitskriterien“), sieht in Reihe 1.28 vor:

„1.28

Frisches Geflügel-fleisch (20)

Salmonella typhimurium (21)

Salmonella enteriditis

5

0

In 25 g nicht nach-weisbar

EN/ISO 6579 (für den Nachweis) – White- Kaufmann-LeMinor-Schema (für die Serotypisierung)

In Verkehr gebrachte Erzeug-nisse während der Haltbar-keits-dauer

(20) Das Kriterium gilt für frisches Geflügelfleisch aus Gallus-gallus-Zuchtherden, von Legehennen, Masthähnchen und aus Zucht- und Masttruthühnerherden.

(21) Einschließlich des monophasischen Salmonella-typhimurium-Stammes 1,4,[5],12:i:-.“


 Österreichisches Recht

15      § 5 Abs. 1 und 5 des Bundesgesetzes über Sicherheitsanforderungen und weitere Anforderungen an Lebensmittel, Gebrauchsgegenstände und kosmetische Mittel zum Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher (Lebensmittelsicherheits- und Verbraucherschutzgesetz – LMSVG) (BGBl. I Nr. 13/2006 in der Fassung BGBl. I Nr. 80/2013) bestimmt:

„(1)      Es ist verboten, Lebensmittel, die

1.      nicht sicher gemäß Art. 14 der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 sind, d. h. gesundheitsschädlich oder für den menschlichen Verzehr ungeeignet sind, …

in Verkehr zu bringen.

(5)      Lebensmittel sind

1.      gesundheitsschädlich, wenn sie geeignet sind, die Gesundheit zu gefährden oder zu schädigen;

2.      für den menschlichen Verzehr ungeeignet, wenn die bestimmungsgemäße Verwendbarkeit nicht gewährleistet ist;

…“

16      § 90 Abs. 1 LMSVG sieht vor:

„Wer

1.      Lebensmittel, die für den menschlichen Verzehr ungeeignet … sind, …

in Verkehr bringt, begeht … eine Verwaltungsübertretung und ist von der Bezirksverwaltungsbehörde mit Geldstrafe bis zu 20 000 Euro, im Wiederholungsfall bis zu 40 000 Euro, im Fall der Uneinbringlichkeit mit Ersatzfreiheitsstrafe bis zu sechs Wochen zu bestrafen …“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

17      Frau Reindl ist Leiterin einer Filiale der MPREIS Warenvertriebs GmbH (im Folgenden: MPREIS), einer im Lebensmitteleinzelhandel tätigen Gesellschaft. In dieser Eigenschaft ist sie für die Einhaltung aller lebensmittelrechtlichen Bestimmungen durch die Filiale verantwortlich.

18      Am 29. März 2012 wurde von einem Organ der Lebensmittelaufsicht im Zuge einer Betriebskontrolle in dieser Filiale eine Probe von vakuumierter Putenbrust gezogen, die von einem dritten Unternehmen produziert und verpackt worden war. MPREIS war in Ansehung dieser Probe nur auf der Vertriebsstufe tätig.

19      Die Probe wurde von der Österreichischen Agentur für Lebensmittelsicherheit in Innsbruck mikrobiologisch untersucht. In ihrem Gutachten kam die Agentur zu dem Schluss, dass darin eine Kontamination mit Salmonella typhimurium feststellbar sei, so dass die Probe sowohl „für den menschlichen Verzehr ungeeignet“ im Sinne von § 5 Abs. 5 Ziff. 2 LMSVG als auch „nicht sicher“ im Sinne von Art. 14 Abs. 2 Buchst. b der Verordnung Nr. 178/2002 sei. Die Agentur legte in ihrem Gutachten das in Anhang I Kapitel 1 Reihe 1.28 der Verordnung Nr. 2073/2005 vorgesehene Kriterium der Lebensmittelsicherheit zugrunde.

20      Auf der Grundlage dieses Gutachtens leitete die Bezirkshauptmannschaft Innsbruck ein Strafverfahren gegen Frau Reindl wegen Übertretung von § 5 Abs. 5 Ziff. 2 LMSVG ein. Die Bezirkshauptmannschaft stellte ein Fehlverhalten von Frau Reindl in Form der Nichteinhaltung des sich aus Anhang I Kapitel 1 Reihe 1.28 der Verordnung Nr. 2073/2005 ergebenden Grenzwerts von Salmonella typhimurium fest und verhängte gemäß § 90 Abs. 1 Ziff. 1 LMSVG eine Verwaltungsstrafe gegen sie.

21      Der mit der Berufung von Frau Reindl gegen die Entscheidung der Bezirkshauptmannschaft Innsbruck befasste Unabhängige Verwaltungssenat in Tirol möchte wissen, welchen Umfang die Verantwortlichkeit von Lebensmittelunternehmern, die nur auf der Vertriebsstufe tätig werden, in Ansehung der Verordnung Nr. 2073/2005 hat.

22      Unter diesen Umständen hat der Unabhängige Verwaltungssenat in Tirol beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist Art. 1 der Verordnung Nr. 2073/2005 so zu verstehen, dass frisches Geflügelfleisch das im Anhang I Kapitel 1 Reihe 1.28 der Verordnung Nr. 2073/2005 genannte mikrobiologische Kriterium in allen Stadien des Vertriebs erfüllen muss?

2.      Unterfallen auch Lebensmittelunternehmer, die auf der Vertriebsstufe von Lebensmitteln tätig sind, dem Regime der Verordnung Nr. 2073/2005 in vollem Umfang?

3.      Ist das im Anhang I Kapitel 1 Reihe 1.28 der Verordnung Nr. 2073/2005 genannte mikrobiologische Kriterium auch auf allen Vertriebsstufen von nicht an der Produktion beteiligten Lebensmittelunternehmen (ausschließlich Vertriebsstufe) zu beachten?

 Zu den Vorlagefragen

 Zur ersten Frage

23      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Anhang II Abschnitt E Nr. 1 der Verordnung Nr. 2160/2003 dahin auszulegen ist, dass frisches Geflügelfleisch, das aus den in Anhang I dieser Verordnung aufgeführten Tierpopulationen stammt, das in Anhang I Kapitel 1 Reihe 1.28 der Verordnung Nr. 2073/2005 genannte mikrobiologische Kriterium auf allen Stufen des Vertriebs einschließlich des Einzelhandels erfüllen muss.

24      Nach Anhang II Abschnitt E Nr. 1 der Verordnung Nr. 2160/2003 muss frisches Geflügelfleisch, das aus den in Anhang I dieser Verordnung genannten Tierpopulationen stammt, ab dem 1. Dezember 2011 die in Anhang I Kapitel 1 Reihe 1.28 der Verordnung Nr. 2073/2005 genannten mikrobiologischen Kriterien erfüllen.

25      Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass Anhang I Kapitel 1 Reihe 1.28 der Verordnung Nr. 2073/2005 ausdrücklich vorsieht, dass diese Kriterien für „[i]n Verkehr gebrachte Erzeugnisse während der Haltbarkeitsdauer“ gelten.

26      Die Begriffe „Inverkehrbringen“ und „Haltbarkeitsdauer“ werden in den Verordnungen Nr. 178/2002 bzw. Nr. 2073/2005 definiert. So bezeichnet nach Art. 3 Nr. 8 der Verordnung Nr. 178/2002 der Begriff „Inverkehrbringen“ das Bereithalten von Lebensmitteln oder Futtermitteln für Verkaufszwecke einschließlich des Anbietens zum Verkauf oder jeder anderen Form der Weitergabe, gleichgültig, ob unentgeltlich oder nicht, sowie den Verkauf, den Vertrieb oder andere Formen der Weitergabe selbst. In Art. 2 Buchst. f der Verordnung Nr. 2073/2005 wird der Begriff „Haltbarkeitsdauer“ definiert als entweder der der Datumsangabe „Verbrauchen bis“ auf dem Erzeugnis oder der dem Mindesthaltbarkeitsdatum gemäß Art. 9 bzw. 10 der Richtlinie 2000/13 entsprechende Zeitraum.

27      Aus diesen Definitionen geht hervor, dass der Begriff „[i]n Verkehr gebrachte Erzeugnisse“ Lebensmittel wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende frische Geflügelfleisch erfasst, die zum Zweck ihres Verkaufs, ihres Vertriebs oder anderer Formen der Weitergabe für einen Zeitraum aufbewahrt werden, der der Datumsangabe „Verbrauchen bis“ auf dem Erzeugnis oder seinem Mindesthaltbarkeitsdatum entspricht.

28      Im Übrigen würde, wenn frisches Geflügelfleisch wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende die in Anhang I Kapitel 1 Reihe 1.28 der Verordnung Nr. 2073/2005 festgelegten mikrobiologischen Kriterien nicht auf allen Stufen des Vertriebs einschließlich des Einzelhandels einhalten müsste, eines der grundlegenden Ziele des Lebensmittelrechts, nämlich ein hohes Schutzniveau der Gesundheit der Bevölkerung, auf das im ersten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 2073/2005 Bezug genommen wird, konterkariert, sofern Lebensmittel in Verkehr gebracht würden, die Mikroorganismen in Mengen enthalten, die ein für die menschliche Gesundheit unannehmbares Risiko darstellen.

29      Folglich ergibt sich sowohl aus dem Wortlaut von Anhang I Kapitel 1 Reihe 1.28 der Verordnung Nr. 2073/2005 als auch aus dem Ziel des Lebensmittelrechts, dass die mikrobiologischen Kriterien auf frisches Geflügelfleisch wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende Erzeugnis auf der Stufe des Vertriebs Anwendung finden.

30      Mithin ist auf die erste Frage zu antworten, dass Anhang II Abschnitt E Nr. 1 der Verordnung Nr. 2160/2003 dahin auszulegen ist, dass frisches Geflügelfleisch, das aus den in Anhang I dieser Verordnung aufgeführten Tierpopulationen stammt, das in Anhang I Kapitel 1 Reihe 1.28 der Verordnung Nr. 2073/2005 genannte mikrobiologische Kriterium auf allen Stufen des Vertriebs einschließlich des Einzelhandels erfüllen muss.

 Zur zweiten und zur dritten Frage

31      Mit seiner zweiten und seiner dritten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Unionsrecht, insbesondere die Verordnungen Nrn. 178/2002 und 2073/2005, dahin auszulegen ist, dass es einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, wonach einem Lebensmittelunternehmer, der allein auf der Stufe des Vertriebs zwecks Inverkehrbringens eines Lebensmittels tätig ist, wegen Nichteinhaltung des in Anhang I Kapitel 1 Reihe 1.28 der Verordnung Nr. 2073/2005 genannten mikrobiologischen Kriteriums eine Sanktion auferlegt wird.

32      Nach Art. 3 Abs. 1 der Verordnung Nr. 2073/2005 stellen die Lebensmittelunternehmer sicher, dass Lebensmittel die in Anhang I zu dieser Verordnung aufgeführten mikrobiologischen Kriterien auf allen Stufen des Vertriebs einschließlich des Einzelhandels einhalten.

33      Zwar legt die Verordnung Nr. 2073/2005 die mikrobiologischen Kriterien fest, die Lebensmittel auf allen Stufen der Lebensmittelkette einhalten müssen, doch enthält sie keine Vorschriften über die Regelung der Verantwortlichkeit der Lebensmittelunternehmer.

34      Insoweit ist die Verordnung Nr. 178/2002 heranzuziehen. Nach Art. 17 Abs. 1 dieser Verordnung sorgen die Lebensmittelhersteller auf allen Produktions-, Verarbeitungs- und Vertriebsstufen in den ihrer Kontrolle unterstehenden Unternehmen dafür, dass die Lebensmittel die Anforderungen des Lebensmittelrechts erfüllen, die für ihre Tätigkeit gelten.

35      Art. 17 Abs. 2 der Verordnung Nr. 178/2002 sieht vor, dass die Mitgliedstaaten Vorschriften für Sanktionen bei Verstößen gegen das Lebensmittelrecht festlegen und dass diese Sanktionen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein müssen.

36      Daraus folgt, dass das Unionsrecht, insbesondere die Verordnungen Nrn. 178/2002 und 2073/2005, dahin auszulegen ist, dass es grundsätzlich einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen nicht entgegensteht, wonach einem Lebensmittelunternehmer, der allein auf der Stufe des Vertriebs zwecks Inverkehrbringens eines Lebensmittels tätig ist, wegen Nichteinhaltung des in Anhang I Kapitel 1 Reihe 1.28 der Verordnung Nr. 2073/2005 genannten mikrobiologischen Kriteriums eine Sanktion auferlegt wird.

37      Bei der Festlegung der Regeln für die im Fall einer Nichteinhaltung des genannten mikrobiologischen Kriteriums anwendbaren Sanktionen sind die Mitgliedstaaten jedoch verpflichtet, die im Unionsrecht aufgestellten Bedingungen und Grenzen einzuhalten, von denen im vorliegenden Fall die in Art. 17 Abs. 2 der Verordnung Nr. 178/2002 vorgesehene einschlägig ist, wonach die Sanktionen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein müssen.

38      Nach ständiger Rechtsprechung müssen die Mitgliedstaaten, denen allerdings die Wahl der Sanktionen verbleibt, darauf achten, dass Verstöße gegen das Unionsrecht nach analogen sachlichen und verfahrensrechtlichen Regeln geahndet werden wie Verstöße gegen nationales Recht von vergleichbarer Art und Schwere, wobei die Sanktion jedenfalls wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein muss (vgl. in diesem Sinne Urteile Lidl Italia, C‑315/05, EU:C:2006:736, Rn. 58, sowie Berlusconi u. a., C‑387/02, C‑391/02 und C‑403/02, EU:C:2005:270, Rn. 65 und die dort angeführte Rechtsprechung).

39      Im vorliegenden Fall dürfen die repressiven Maßnahmen, die nach den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden innerstaatlichen Rechtsvorschriften zulässig sind, nicht die Grenzen dessen überschreiten, was zur Erreichung der mit diesen Rechtsvorschriften in legitimer Weise verfolgten Ziele geeignet und erforderlich ist, wobei, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl stehen, die am wenigsten belastende zu wählen ist und die dadurch bedingten Nachteile nicht außer Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen dürfen (vgl. Urteil Urbán, C‑210/10, EU:C:2012:64, Rn. 24 und die dort angeführte Rechtsprechung).

40      Bei der Beurteilung, ob eine Sanktion mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Einklang steht, sind u. a. Art und Schwere des Verstoßes, der mit dieser Sanktion geahndet werden soll, sowie die Modalitäten für die Bestimmung ihrer Höhe zu berücksichtigen (vgl. Urteil Equoland, C‑272/13, EU:C:2014:2091, Rn. 35).

41      Eine Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die im Fall des Inverkehrbringens für den menschlichen Verzehr ungeeigneter Lebensmittel eine Geldstrafe vorsieht, kann dazu beitragen, das in Rn. 28 des vorliegenden Urteils angeführte grundlegende Ziel des Lebensmittelrechts zu erreichen, nämlich ein hohes Schutzniveau der Gesundheit der Bevölkerung.

42      Selbst wenn man das Sanktionssystem im Ausgangsverfahren als ein System der objektiven Verantwortlichkeit einstuft, ist darauf hinzuweisen, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ein derartiges System als solches nicht außer Verhältnis zu den angestrebten Zielen steht, wenn es geeignet ist, die von ihm erfassten Personen zur Beachtung der Bestimmungen einer Verordnung anzuhalten, und wenn die verfolgten Ziele ein Allgemeininteresse aufweisen, das die Schaffung eines solchen Systems rechtfertigen kann (vgl. Urteil Urbán, EU:C:2012:64, Rn. 48 und die dort angeführte Rechtsprechung).

43      Es ist Sache des nationalen Gerichts, angesichts dieser Gesichtspunkte zu beurteilen, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Sanktion dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Sinne von Art. 17 Abs. 2 der Verordnung Nr. 178/2002 entspricht.

44      Nach alledem ist auf die zweite und die dritte Frage zu antworten, dass das Unionsrecht, insbesondere die Verordnungen Nrn. 178/2002 und 2073/2005, dahin auszulegen ist, dass es grundsätzlich einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen nicht entgegensteht, wonach einem Lebensmittelunternehmer, der allein auf der Stufe des Vertriebs zwecks Inverkehrbringens eines Lebensmittels tätig ist, wegen Nichteinhaltung des in Anhang I Kapitel 1 Reihe 1.28 der Verordnung Nr. 2073/2005 genannten mikrobiologischen Kriteriums eine Sanktion auferlegt wird. Es ist Sache des nationalen Gerichts, zu beurteilen, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Sanktion dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Sinne von Art. 17 Abs. 2 der Verordnung Nr. 178/2002 entspricht.

 Kosten

45      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:

1.      Anhang II Abschnitt E Nr. 1 der Verordnung (EG) Nr. 2160/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. November 2003 zur Bekämpfung von Salmonellen und bestimmten anderen durch Lebensmittel übertragbaren Zoonoseerregern in der durch die Verordnung (EU) Nr. 1086/2011 der Kommission vom 27. Oktober 2011 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass frisches Geflügelfleisch, das aus den in Anhang I dieser Verordnung aufgeführten Tierpopulationen stammt, das in Anhang I Kapitel 1 Reihe 1.28 der Verordnung (EG) Nr. 2073/2005 vom 15. November 2005 über mikrobiologische Kriterien für Lebensmittel in der durch die Verordnung Nr. 1086/2011 geänderten Fassung genannte mikrobiologische Kriterium auf allen Stufen des Vertriebs einschließlich des Einzelhandels erfüllen muss.

2.      Das Unionsrecht, insbesondere die Verordnung (EG) Nr. 178/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Januar 2002 zur Festlegung der allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebensmittelrechts, zur Errichtung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit und zur Festlegung von Verfahren zur Lebensmittelsicherheit und die Verordnung Nr. 2073/2005 in der durch die Verordnung Nr. 1086/2011 geänderten Fassung, ist dahin auszulegen, dass es grundsätzlich einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren fraglichen nicht entgegensteht, wonach einem Lebensmittelunternehmer, der allein auf der Stufe des Vertriebs zwecks Inverkehrbringens eines Lebensmittels tätig ist, wegen Nichteinhaltung des in Anhang I Kapitel 1 Reihe 1.28 der Verordnung Nr. 2073/2005 genannten mikrobiologischen Kriteriums eine Sanktion auferlegt wird. Es ist Sache des nationalen Gerichts, zu beurteilen, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Sanktion dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Sinne von Art. 17 Abs. 2 der Verordnung Nr. 178/2002 entspricht.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Deutsch.