URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)

3. April 2008(*)

„Art. 49 EG – Freier Dienstleistungsverkehr – Beschränkungen –Richtlinie 96/71/EG – Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen – Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge – Sozialer Schutz der Arbeitnehmer“

In der Rechtssache C‑346/06

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht vom Oberlandesgericht Celle (Deutschland) mit Entscheidung vom 3. August 2006, beim Gerichtshof eingegangen am 11. August 2006, in dem Verfahren

Dirk Rüffert als Insolvenzverwalter über das Vermögen der Objekt und Bauregie GmbH & Co. KG

gegen

Land Niedersachsen

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. W. A. Timmermans (Berichterstatter), der Richter J. Makarczyk, P. Kūris und J.‑C. Bonichot sowie der Richterin C. Toader,

Generalanwalt: Y. Bot,

Kanzler: B. Fülöp, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 5. Juli 2007,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        des Landes Niedersachsen, vertreten durch Rechtsanwalt R. Thode,

–        der deutschen Regierung, vertreten durch M. Lumma als Bevollmächtigten,

–        der belgischen Regierung, vertreten durch A. Hubert als Bevollmächtigte,

–        der dänischen Regierung, vertreten durch J. Bering Liisberg als Bevollmächtigten,

–        der französischen Regierung, vertreten durch G. de Bergues und O. Christmann als Bevollmächtigte,

–        von Irland, vertreten durch D. O’Hagan als Bevollmächtigten im Beistand von N. Travers, BL, und B. O’Moore, SC,

–        der zyprischen Regierung, vertreten durch E. Neofitou als Bevollmächtigte,

–        der österreichischen Regierung, vertreten durch M. Fruhmann als Bevollmächtigten,

–        der polnischen Regierung, vertreten durch E. Ośniecka-Tamecka und M. Szymánska als Bevollmächtigte sowie durch A. Dzięcielak als Expertin,

–        der finnischen Regierung, vertreten durch E. Bygglin als Bevollmächtigte,

–        der norwegischen Regierung, vertreten durch A. Eide und E. Sivertsen als Bevollmächtigte,

–        der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch E. Traversa und C. Ladenburger als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 20. September 2007

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 49 EG.

2        Es ergeht im Rahmen eines Verfahrens zwischen Herrn Rüffert als Insolvenzverwalter über das Vermögen der Objekt und Bauregie GmbH und Co. KG (im Folgenden: Objekt und Bauregie) und dem Land Niedersachsen über die Kündigung eines zwischen Objekt und Bauregie und dem Land Niedersachsen geschlossenen Werkvertrags.

 Rechtlicher Rahmen

 Gemeinschaftsrecht

3        Art. 1 („Anwendungsbereich“) der Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen (ABl. 1997, L 18, S. 1) bestimmt:

„(1)      Diese Richtlinie gilt für Unternehmen mit Sitz in einem Mitgliedstaat, die im Rahmen der länderübergreifenden Erbringung von Dienstleistungen Arbeitnehmer gemäß Absatz 3 in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats entsenden.

(3)      Diese Richtlinie findet Anwendung, soweit die in Absatz 1 genannten Unternehmen eine der folgenden länderübergreifenden Maßnahmen treffen:

a)      einen Arbeitnehmer in ihrem Namen und unter ihrer Leitung in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats im Rahmen eines Vertrags entsenden, der zwischen dem entsendenden Unternehmen und dem in diesem Mitgliedstaat tätigen Dienstleistungsempfänger geschlossen wurde, sofern für die Dauer der Entsendung ein Arbeitsverhältnis zwischen dem entsendenden Unternehmen und dem Arbeitnehmer besteht …

…“

4        Art. 3 („Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen“) der Richtlinie 96/71 sieht vor:

„(1)      Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass unabhängig von dem auf das jeweilige Arbeitsverhältnis anwendbaren Recht die in Artikel 1 Absatz 1 genannten Unternehmen den in ihr Hoheitsgebiet entsandten Arbeitnehmern bezüglich der nachstehenden Aspekte die Arbeits‑ und Beschäftigungsbedingungen garantieren, die in dem Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet die Arbeitsleistung erbracht wird,

–        durch Rechts‑ oder Verwaltungsvorschriften und/oder

–        durch für allgemein verbindlich erklärte Tarifverträge oder Schiedssprüche im Sinne des Absatzes 8, sofern sie die im Anhang genannten Tätigkeiten betreffen,

festgelegt sind:

c)      Mindestlohnsätze einschließlich der Überstundensätze; dies gilt nicht für die zusätzlichen betrieblichen Altersversorgungssysteme;

Zum Zweck dieser Richtlinie wird der in Unterabsatz 1 Buchstabe c) genannte Begriff der Mindestlohnsätze durch die Rechtsvorschriften und/oder Praktiken des Mitgliedstaats bestimmt, in dessen Hoheitsgebiet der Arbeitnehmer entsandt wird.

(7)      Die Absätze 1 bis 6 stehen der Anwendung von für die Arbeitnehmer günstigeren Beschäftigungs‑ und Arbeitsbedingungen nicht entgegen.

(8)      Unter ‚für allgemein verbindlich erklärten Tarifverträgen oder Schiedssprüchen‘ sind Tarifverträge oder Schiedssprüche zu verstehen, die von allen in den jeweiligen geografischen Bereich fallenden und die betreffende Tätigkeit oder das betreffende Gewerbe ausübenden Unternehmen einzuhalten sind.

Gibt es kein System zur Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen oder Schiedssprüchen im Sinne von Unterabsatz 1, so können die Mitgliedstaaten auch beschließen, Folgendes zugrunde zu legen:

–        die Tarifverträge oder Schiedssprüche, die für alle in den jeweiligen geografischen Bereich fallenden und die betreffende Tätigkeit oder das betreffende Gewerbe ausübenden gleichartigen Unternehmen allgemein wirksam sind, und/oder

–        die Tarifverträge, die von den auf nationaler Ebene repräsentativsten Organisationen der Tarifvertragsparteien geschlossen werden und innerhalb des gesamten nationalen Hoheitsgebiets zur Anwendung kommen,

sofern deren Anwendung auf die in Artikel 1 Absatz 1 genannten Unternehmen eine Gleichbehandlung dieser Unternehmen in Bezug auf die in Absatz 1 Unterabsatz 1 genannten Aspekte gegenüber den im vorliegenden Unterabsatz genannten anderen Unternehmen, die sich in einer vergleichbaren Lage befinden, gewährleistet.

…“

 Nationales Recht

5        Das Niedersächsische Landesvergabegesetz (im Folgenden: Landesvergabegesetz oder LVergabeG) enthält Vorschriften für die Vergabe öffentlicher Aufträge, sofern die Aufträge mindestens einen Wert von 10 000 Euro haben. In seiner Präambel heißt es:

„Das Gesetz wirkt Wettbewerbsverzerrungen entgegen, die auf dem Gebiet des Bauwesens und des öffentlichen Personennahverkehrs durch den Einsatz von Niedriglohnkräften entstehen, und mildert Belastungen für die sozialen Sicherungssysteme. Es bestimmt zu diesem Zweck, dass öffentliche Auftraggeber Aufträge über Baumaßnahmen und im öffentlichen Personennahverkehr nur an Unternehmen vergeben dürfen, die das in Tarifverträgen vereinbarte Arbeitsentgelt am Ort der Leistungserbringung zahlen.“

6        § 3 Abs. 1 LVergabeG („Tariftreueerklärung“) bestimmt:

„Aufträge für Bauleistungen dürfen nur an solche Unternehmen vergeben werden, die sich bei der Angebotsabgabe schriftlich verpflichten, ihren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern bei der Ausführung dieser Leistungen mindestens das am Ort der Ausführung tarifvertraglich vorgesehene Entgelt zum tarifvertraglich vorgesehenen Zeitpunkt zu bezahlen. Bauleistungen im Sinne des Satzes 1 sind Leistungen des Bauhauptgewerbes und des Baunebengewerbes. Satz 1 gilt auch für die Vergabe von Verkehrsleistungen im öffentlichen Personennahverkehr.“

7        § 4 Abs. 1 LVergabeG („Nachunternehmereinsatz“) sieht vor:

„Der Auftragnehmer darf Leistungen, auf die sein Betrieb eingerichtet ist, nur auf Nachunternehmer übertragen, wenn der Auftraggeber im Einzelfall schriftlich zugestimmt hat. Die Bieter sind verpflichtet, schon bei Abgabe ihres Angebots anzugeben, welche Leistungen an Nachunternehmer weiter vergeben werden sollen. Soweit Leistungen auf Nachunternehmer übertragen werden, hat sich der Auftragnehmer auch zu verpflichten, den Nachunternehmern die für Auftragnehmer geltenden Pflichten der §§ 3, 4 und 7 Abs. 2 aufzuerlegen und die Beachtung dieser Pflichten durch die Nachunternehmer zu überwachen.“

8        § 6 LVergabeG („Nachweise“) bestimmt:

„(1)      Ein Angebot ist von der Wertung auszuschließen, wenn der Bieter folgende Unterlagen nicht beibringt:

3.      eine Tariftreueerklärung nach § 3.

(2)      Soll die Ausführung eines Teils des Auftrags einem Nachunternehmer übertragen werden, so sind bei der Auftragserteilung auch die auf den Nachunternehmer lautenden Nachweise gemäß Absatz 1 vorzulegen.“

9        § 8 LVergabeG („Sanktionen“) bestimmt:

„(1)      Um die Einhaltung der Verpflichtungen gemäß den §§ 3, 4 und 7 Abs. 2 zu sichern, haben die öffentlichen Auftraggeber für jeden schuldhaften Verstoß eine Vertragsstrafe in Höhe von 1 vom Hundert, bei mehreren Verstößen bis zu 10 vom Hundert des Auftragswertes mit dem Auftragnehmer zu vereinbaren. Der Auftragnehmer ist zur Zahlung einer Vertragsstrafe nach Satz 1 auch für den Fall zu verpflichten, dass der Verstoß durch einen von ihm eingesetzten Nachunternehmer oder einen von diesem eingesetzten Nachunternehmer begangen wird, es sei denn, dass der Auftragnehmer den Verstoß weder kannte noch kennen musste. Ist die verwirkte Vertragsstrafe unverhältnismäßig hoch, so kann sie vom Auftraggeber auf Antrag des Auftragnehmers auf den angemessenen Betrag herabgesetzt werden.

(2)      Die öffentlichen Auftraggeber vereinbaren mit dem Auftragnehmer, dass die Nichterfüllung der in § 3 genannten Anforderungen durch den Auftragnehmer oder seine Nachunternehmer sowie grob fahrlässige oder mehrfache Verstöße gegen die Verpflichtungen der §§ 4 und 7 Abs. 2 den öffentlichen Auftraggeber zur fristlosen Kündigung berechtigen.

(3)      Hat ein Unternehmen nachweislich mindestens grob fahrlässig oder mehrfach gegen Verpflichtungen dieses Gesetzes verstoßen, so können es die öffentlichen Auftraggeber jeweils für ihren Zuständigkeitsbereich von der öffentlichen Auftragsvergabe für die Dauer von bis zu einem Jahr ausschließen.

…“

 Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

10      Der Vorlageentscheidung zufolge erteilte das Land Niedersachsen im Herbst 2003 Objekt und Bauregie nach öffentlicher Ausschreibung einen Auftrag für Rohbauarbeiten beim Bau der Justizvollzugsanstalt Göttingen-Rosdorf. Die Auftragssumme betrug 8 493 331 Euro zuzüglich Mehrwertsteuer. Der Vertrag enthielt die Verpflichtung zur Einhaltung der Tarifverträge, insbesondere die Verpflichtung, den auf der Baustelle eingesetzten Arbeitnehmern mindestens das am Ort der Ausführung tarifvertraglich vorgesehene Entgelt nach dem aus der Liste der repräsentativen Tarifverträge unter Nr. 01 „Baugewerbe“ genannten Tarifvertrag (im Folgenden: Baugewerbe-Tarifvertrag) zu zahlen.

11      Objekt und Bauregie setzte ein in Polen ansässiges Unternehmen als Nachunternehmer ein. Im Sommer 2004 geriet dieses Unternehmen in Verdacht, bei dem Bauvorhaben Arbeiter zu einem Lohn beschäftigt zu haben, der unter dem im Baugewerbe-Tarifvertrag vorgesehenen Lohn lag. Nach Beginn der Ermittlungen kündigten sowohl Objekt und Bauregie als auch das Land Niedersachsen den zwischen ihnen geschlossenen Werkvertrag. Das Land stützte die Kündigung u. a. darauf, dass Objekt und Bauregie gegen die vereinbarte Tariftreuepflicht verstoßen habe. Gegen den Hauptverantwortlichen des in Polen ansässigen Unternehmens erging ein Strafbefehl, der den Vorwurf enthielt, den auf der Baustelle eingesetzten 53 Arbeitnehmern nur 46,57 % des gesetzlich vorgesehenen Mindestlohns ausgezahlt zu haben.

12      Das Landgericht Hannover stellte im ersten Rechtszug fest, dass die Werklohnforderung von Objekt und Bauregie durch Aufrechnung des Landes Niedersachsen mit dem diesem zustehenden Vertragsstrafenanspruch in Höhe von 84 934,31 Euro (entsprechend 1 % der Auftragssumme) erloschen sei. Die weiter gehende Klage von Objekt und Bauregie wies das Landgericht ab.

13      Nach Ansicht des mit der Berufung befassten vorlegenden Gerichts hängt die Entscheidung des Rechtsstreits davon ab, ob es das Landesvergabegesetz, insbesondere § 8 Abs. 1, unangewendet zu lassen hat, weil das Gesetz nicht mit der Dienstleistungsfreiheit des Art. 49 EG vereinbar ist.

14      Dazu führt das Oberlandesgericht Celle aus, die Tariftreueverpflichtungen hätten zur Folge, dass die Bauunternehmen anderer Mitgliedstaaten die ihren Arbeitnehmern gezahlten Entgelte dem regelmäßig höheren Niveau anpassen müssten, das am Ort der Auftragsausführung in Deutschland gelte. Durch dieses Erfordernis verlören diese Unternehmen ihren aufgrund geringerer Lohnkosten bestehenden Wettbewerbsvorteil. Die Tariftreueverpflichtung stelle daher eine Beeinträchtigung für Personen oder Unternehmen aus anderen Mitgliedstaaten als der Bundesrepublik Deutschland dar.

15      Das vorlegende Gericht hat Zweifel, ob die Tariftreueverpflichtung durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist. Insbesondere gehe diese Verpflichtung über das hinaus, was zum Schutz der Arbeitnehmer erforderlich sei. Was zum Schutz der Arbeitnehmer erforderlich sei, werde durch den Mindestlohnstandard markiert, der sich in Deutschland aus der Anwendung des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes vom 26. Februar 1996 (BGBl. 1996 I S. 227) ergebe. Für die ausländischen Arbeitnehmer bewirke die Tariftreueverpflichtung gerade nicht ihre faktische Gleichstellung mit den deutschen Arbeitnehmern, sondern sie verhindere die Beschäftigung von Arbeitnehmern aus einem anderen Mitgliedstaat als der Bundesrepublik Deutschland im deutschen Hoheitsgebiet, da ihr Arbeitgeber seinen Kostenvorteil nicht in den Wettbewerb einbringen könne.

16      Nach Auffassung des Oberlandesgerichts Celle erfordert der bei ihm anhängige Rechtsstreit die Auslegung von Art. 49 EG; es hat deshalb das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Stellt es eine nicht gerechtfertigte Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit nach dem EG-Vertrag dar, wenn dem öffentlichen Auftraggeber durch ein Gesetz aufgegeben wird, Aufträge für Bauleistungen nur an solche Unternehmen zu vergeben, die sich bei der Angebotsabgabe schriftlich verpflichten, ihren Arbeitnehmern bei der Ausführung dieser Leistungen mindestens das am Ort der Ausführung tarifvertraglich vorgesehene Entgelt zu bezahlen?

 Zur Vorlagefrage

17      Mit seiner Vorlagefrage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 49 EG in einer Situation wie derjenigen, die dem Ausgangsverfahren zugrunde liegt, einer gesetzlichen Maßnahme eines Hoheitsträgers eines Mitgliedstaats entgegensteht, mit der dem öffentlichen Auftraggeber vorgeschrieben wird, Aufträge für Bauleistungen nur an solche Unternehmen zu vergeben, die sich bei der Angebotsabgabe schriftlich verpflichten, ihren Arbeitnehmern bei der Ausführung dieser Leistungen mindestens das am Ort der Ausführung tarifvertraglich vorgesehene Entgelt zu zahlen.

18      Wie verschiedene Regierungen, die beim Gerichtshof Erklärungen eingereicht haben, sowie die Kommission der Europäischen Gemeinschaften vorschlagen, sind, um dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort zu geben, bei der Prüfung der Vorlagefrage die Bestimmungen der Richtlinie 96/71 zu berücksichtigen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 12. Oktober 2004, Wolff & Müller, C‑60/03, Slg. 2004, I‑9553, Randnr. 27, und vom 29. Januar 2008, Promusicae, C‑275/06, Slg. 2008, I‑0000, Randnr. 42).

19      Diese Richtlinie ist nämlich, wie sich aus ihrem Art. 1 Abs. 3 Buchst. a ergibt, insbesondere auf eine Situation anwendbar, in der ein in einem Mitgliedstaat ansässiges Unternehmen im Rahmen einer staatenübergreifenden Erbringung von Dienstleistungen Arbeitnehmer in seinem Namen und unter seiner Leitung in das Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats im Rahmen eines Vertrags entsendet, der zwischen dem entsendenden Unternehmen und dem in diesem Mitgliedstaat tätigen Dienstleistungsempfänger geschlossen wurde, sofern für die Dauer der Entsendung ein Arbeitsverhältnis zwischen dem entsendenden Unternehmen und dem Arbeitnehmer besteht. Eine solche Situation ist im Ausgangsverfahren in der Tat gegeben.

20      Weiter kann, wie der Generalanwalt in Nr. 64 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, die bloße Tatsache, dass die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats, wie das Landesvergabegesetz, nicht die Regelung der Entsendung von Arbeitnehmern bezwecken, nicht zur Folge haben, dass eine Situation, wie sie im Ausgangsverfahren gegeben ist, nicht in den Anwendungsbereich der Richtlinie 96/71 fällt.

21      Nach Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 erster und zweiter Gedankenstrich der Richtlinie 96/71 sind bei der staatenübergreifenden Erbringung von Dienstleistungen im Bausektor den entsandten Arbeitnehmern die Arbeits‑ und Beschäftigungsbedingungen bezüglich der in den Buchst. a bis g dieser Bestimmung genannten Aspekte zu garantieren, zu denen nach Buchst. c die Mindestlohnsätze zählen. Diese Arbeits‑ und Beschäftigungsbedingungen sind durch Rechts‑ oder Verwaltungsvorschriften und/oder durch für allgemein verbindlich erklärte Tarifverträge oder Schiedssprüche festzulegen. Nach Abs. 8 Unterabs. 1 dieses Artikels handelt es sich bei den Tarifverträgen oder Schiedssprüchen im Sinne dieser Bestimmung um diejenigen, die von allen in den jeweiligen geografischen Bereich fallenden und die betreffende Tätigkeit oder das betreffende Gewerbe ausübenden Unternehmen einzuhalten sind.

22      Nach Art. 3 Abs. 8 Unterabs. 2 der Richtlinie 96/71 können die Mitgliedstaaten, wenn es kein System zur Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen oder Schiedssprüchen gibt, auch die Tarifverträge oder Schiedssprüche zugrunde legen, die für alle in den jeweiligen geografischen Bereich fallenden und die betreffende Tätigkeit oder das betreffende Gewerbe ausübenden gleichartigen Unternehmen allgemein wirksam sind, oder diejenigen Tarifverträge, die von den auf nationaler Ebene repräsentativsten Organisationen der Tarifvertragsparteien geschlossen werden und innerhalb des gesamten nationalen Hoheitsgebiets zur Anwendung kommen.

23      Es ist zu prüfen, ob der Lohnsatz, den eine Maßnahme wie die im Ausgangsverfahren fragliche vorschreibt, die in einer gesetzlichen Vorschrift des Landes Niedersachsen über die Vergabe öffentlicher Aufträge besteht und darauf abzielt, einen diesen Lohnsatz vorsehenden Tarifvertrag insbesondere einem Unternehmen wie dem Nachunternehmen von Objekt und Bauregie gegenüber verbindlich zu machen, nach einer der in den Randnrn. 21 und 22 dieses Urteils beschriebenen Modalitäten festgelegt worden ist.

24      Erstens kann eine Gesetzesnorm wie das Landesvergabegesetz, die selbst keinen Mindestlohnsatz festlegt, nicht als Rechtsvorschrift im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 erster Gedankenstrich der Richtlinie 96/71, mit der ein Mindestlohnsatz wie der in Buchst. c dieses Unterabsatzes vorgesehene festgelegt worden ist, angesehen werden.

25      Zweitens ist hinsichtlich der Frage, ob ein Tarifvertrag wie der, um den es im Ausgangsverfahren geht, einen für allgemein verbindlich erklärten Tarifvertrag im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 zweiter Gedankenstrich in Verbindung mit Abs. 8 Unterabs. 1 der Richtlinie 96/71 darstellt, den dem Gerichtshof übersandten Akten zu entnehmen, dass das Arbeitnehmer-Entsendegesetz, das die Umsetzung der Richtlinie 96/71 bezweckt, die Anwendung der Bestimmungen über Mindestlohnsätze in Tarifverträgen, die in Deutschland für allgemein verbindlich erklärt wurden, auf in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Arbeitgeber erweitert, die ihre Arbeitnehmer nach Deutschland entsenden.

26      In Beantwortung einer schriftlichen Frage des Gerichtshofs hat das Land Niedersachsen allerdings bestätigt, dass der Baugewerbe-Tarifvertrag kein für allgemein verbindlich erklärter Tarifvertrag im Sinne des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes ist. Auch ist den dem Gerichtshof übersandten Akten kein Hinweis darauf zu entnehmen, dass dieser Tarifvertrag trotzdem als im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 zweiter Gedankenstrich in Verbindung mit Abs. 8 Unterabs. 1 der Richtlinie 96/71 allgemein verbindlich erklärt angesehen werden könnte.

27      Was drittens Art. 3 Abs. 8 Unterabs. 2 der Richtlinie 96/71 betrifft, geht schon aus dem Wortlaut dieser Bestimmung hervor, dass sie nur für den Fall gilt, dass es kein System zur Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen gibt; das ist in der Bundesrepublik Deutschland nicht der Fall.

28      Jedenfalls kann ein Tarifvertrag wie der im Ausgangsverfahren fragliche nicht als Tarifvertrag im Sinne der genannten Bestimmung angesehen werden, insbesondere nicht als ein solcher nach dem ersten Gedankenstrich dieser Bestimmung, der „für alle in den jeweiligen geografischen Bereich fallenden oder die betreffende Tätigkeit oder das betreffende Gewerbe ausübenden gleichartigen Unternehmen allgemein wirksam [ist]“.

29      In einem Kontext wie dem des Ausgangsverfahrens erstreckt sich nämlich die Bindungswirkung eines Tarifvertrags wie des im Ausgangsverfahren fraglichen nur auf einen Teil der in den geografischen Bereich des Tarifvertrags fallenden Bautätigkeit, da zum einen die Rechtsvorschriften, die diese Bindungswirkung herbeiführen, nur auf die Vergabe öffentlicher Aufträge anwendbar sind und nicht für die Vergabe privater Aufträge gelten und zum anderen dieser Tarifvertrag nicht für allgemein verbindlich erklärt worden ist.

30      Daraus folgt, dass mit einer Maßnahme, wie sie im Ausgangsverfahren in Rede steht, kein Lohnsatz nach einer der Modalitäten, die in Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 erster und zweiter Gedankenstrich und Abs. 8 Unterabs. 2 der Richtlinie 96/71 vorgesehen sind, festgelegt worden ist.

31      Daher kann ein solcher Lohnsatz nicht als Mindestlohnsatz im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c der Richtlinie 96/71 angesehen werden, den die Mitgliedstaaten nach dieser Richtlinie den in anderen Mitgliedstaaten ansässigen Unternehmen bei einer staatenübergreifenden Erbringung von Dienstleistungen vorschreiben können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Dezember 2007, Laval un Partneri, C‑341/05, Slg. 2007, I‑0000, Randnrn. 70 und 71).

32      Dieser Lohnsatz kann auch nicht als für die Arbeitnehmer günstigere Beschäftigungs‑ und Arbeitsbedingung im Sinne von Art. 3 Abs. 7 der Richtlinie 96/71 angesehen werden.

33      Diese Bestimmung lässt sich insbesondere nicht dahin auslegen, dass sie einem Aufnahmemitgliedstaat erlaubt, die Erbringung einer Dienstleistung in seinem Hoheitsgebiet davon abhängig zu machen, dass Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen eingehalten werden, die über die zwingenden Bestimmungen über ein Mindestmaß an Schutz hinausgehen. Für die in ihrem Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. a bis g genannten Aspekte sieht nämlich die Richtlinie 96/71 ausdrücklich den Grad an Schutz vor, den der Aufnahmemitgliedstaat in anderen Mitgliedstaaten ansässigen Unternehmen zugunsten der von diesen in sein Hoheitsgebiet entsandten Arbeitnehmer abzuverlangen berechtigt ist. Zudem liefe eine derartige Auslegung darauf hinaus, der genannten Richtlinie ihre praktische Wirksamkeit zu nehmen (Urteil Laval un Partneri, Randnr. 80).

34      Folglich und vorbehaltlich dessen, dass die in anderen Mitgliedstaaten ansässigen Unternehmen aus freien Stücken im Aufnahmemitgliedstaat – insbesondere im Rahmen einer gegenüber ihrem eigenen entsandten Personal eingegangenen Verpflichtung – einem womöglich günstigeren Tarifvertrag beitreten können, ist das Schutzniveau, das den entsandten Arbeitnehmern im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats garantiert wird, grundsätzlich auf das beschränkt, was Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. a bis g der Richtlinie 96/71 vorsieht, es sei denn, die genannten Arbeitnehmer genießen bereits nach den Gesetzen oder Tarifverträgen im Herkunftsmitgliedstaat hinsichtlich der Aspekte, die die genannte Vorschrift betrifft, günstigere Arbeits‑ und Beschäftigungsbedingungen (Urteil Laval un Partneri, Randnr. 81). Das scheint im Ausgangsverfahren jedoch nicht der Fall zu sein.

35      Daher ist ein Mitgliedstaat nicht berechtigt, in anderen Mitgliedstaaten ansässigen Unternehmen nach der Richtlinie 96/71 einen Lohnsatz wie den im Baugewerbe-Tarifvertrag vorgesehenen mit einer Maßnahme vorzuschreiben, wie sie im Ausgangsverfahren in Rede steht.

36      Diese Auslegung der Richtlinie 96/71 wird durch deren Würdigung im Licht des Art. 49 EG bestätigt, da diese Richtlinie insbesondere auf die Verwirklichung des freien Dienstleistungsverkehrs abzielt, der eine der vom EG-Vertrag garantierten Grundfreiheiten ist.

37      Wie der Generalanwalt in Nr. 103 seiner Schlussanträge festgestellt hat, können Rechtsvorschriften wie das Landesvergabegesetz dadurch, dass sie die Zuschlagsempfänger und mittelbar deren Nachunternehmer verpflichten, das Mindestentgelt zu zahlen, wie es im Baugewerbe-Tarifvertrag vorgesehen ist, den Leistungserbringern, die in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassen sind, in dem die Mindestlohnsätze niedriger sind, eine zusätzliche wirtschaftliche Belastung auferlegen, die geeignet ist, die Erbringung ihrer Dienstleistungen im Aufnahmemitgliedstaat zu unterbinden, zu behindern oder weniger attraktiv zu machen. Eine Maßnahme wie die, um die es im Ausgangsverfahren geht, kann daher eine Beschränkung im Sinne von Art. 49 EG darstellen.

38      Entgegen der Auffassung des Landes Niedersachsen und mehrerer der Regierungen, die Erklärungen beim Gerichtshof eingereicht haben, kann eine solche Maßnahme auch nicht als durch das Ziel des Arbeitnehmerschutzes gerechtfertigt angesehen werden.

39      Wie in Randnr. 29 dieses Urteils festgestellt worden ist, gilt nämlich der durch einen Tarifvertrag wie den im Ausgangsverfahren fraglichen festgelegte Lohnsatz aufgrund von Rechtsvorschriften wie dem Landesvergabegesetz nur für einen Teil der Bautätigkeit, da zum einen diese Rechtsvorschriften nur auf die Vergabe öffentlicher Aufträge anwendbar sind und nicht für die Vergabe privater Aufträge gelten und zum anderen dieser Tarifvertrag nicht für allgemein verbindlich erklärt worden ist.

40      Die dem Gerichtshof übersandten Akten enthalten jedoch keinen Hinweis darauf, dass ein im Bausektor tätiger Arbeitnehmer nur bei seiner Beschäftigung im Rahmen eines öffentlichen Auftrags für Bauleistungen und nicht bei seiner Tätigkeit im Rahmen eines privaten Auftrags des Schutzes bedarf, der sich aus einem solchen Lohnsatz ergibt, der im Übrigen, wie auch das vorlegende Gericht feststellt, über den Lohnsatz nach dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz hinausgeht.

41      Aus den gleichen Gründen, wie sie in den Randnrn. 39 und 40 dieses Urteils dargelegt worden sind, kann diese Beschränkung auch nicht als durch den Zweck gerechtfertigt angesehen werden, den Schutz der autonomen Ordnung des Arbeitslebens durch Koalitionen zu gewährleisten.

42      Was schließlich den Zweck der finanziellen Stabilität der sozialen Versicherungssysteme angeht, auf den sich die deutsche Regierung ebenfalls beruft, nach deren Ansicht die Leistungsfähigkeit des Sozialversicherungssystems vom Lohnniveau für die Arbeitnehmer abhängt, so geht aus den dem Gerichtshof übersandten Akten nicht hervor, dass eine Maßnahme, wie sie im Ausgangsverfahren in Rede steht, erforderlich wäre, um den – vom Gerichtshof als möglichen zwingenden Grund des Allgemeininteresses anerkannten – Zweck zu erreichen, eine erhebliche Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit zu verhindern (vgl. u. a. Urteil vom 16. Mai 2006, Watts, C‑372/04, Slg. 2006, I‑4325, Randnr. 103 und die dort angeführte Rechtsprechung).

43      Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Richtlinie 96/71, ausgelegt im Licht des Art. 49 EG, in einer Situation, wie sie dem Ausgangsverfahren zugrunde liegt, einer gesetzlichen Maßnahme eines Hoheitsträgers eines Mitgliedstaats entgegensteht, mit der dem öffentlichen Auftraggeber vorgeschrieben wird, Aufträge für Bauleistungen nur an solche Unternehmen zu vergeben, die sich bei der Angebotsabgabe schriftlich verpflichten, ihren Arbeitnehmern bei der Ausführung dieser Leistungen mindestens das am Ort der Ausführung tarifvertraglich vorgesehene Entgelt zu zahlen.

 Kosten

44      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:

Die Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen, ausgelegt im Licht des Art. 49 EG, steht in einer Situation, wie sie dem Ausgangsverfahren zugrunde liegt, einer gesetzlichen Maßnahme eines Hoheitsträgers eines Mitgliedstaats entgegen, mit der dem öffentlichen Auftraggeber vorgeschrieben wird, Aufträge für Bauleistungen nur an solche Unternehmen zu vergeben, die sich bei der Angebotsabgabe schriftlich verpflichten, ihren Arbeitnehmern bei der Ausführung dieser Leistungen mindestens das am Ort der Ausführung tarifvertraglich vorgesehene Entgelt zu zahlen.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Deutsch.