URTEIL DES GERICHTSHOFS (Zweite Kammer)

17. Juli 2014(*)

„Vorabentscheidungsersuchen – Recht auf Familienzusammenführung – Richtlinie 2003/86/EG – Art. 4 Abs. 5 – Nationale Regelung, wonach der Zusammenführende und der Ehegatte bereits zum Zeitpunkt der Einreichung des Antrags auf Familienzusammenführung das 21. Lebensjahr vollendet haben müssen – Unionsrechtskonforme Auslegung“

In der Rechtssache C‑338/13

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Verwaltungsgerichtshof (Österreich) mit Entscheidung vom 29. Mai 2013, beim Gerichtshof eingegangen am 20. Juni 2013, in dem Verfahren

Marjan Noorzia

gegen

Bundesministerin für Inneres

erlässt

DER GERICHTSHOF (Zweite Kammer)

unter Mitwirkung der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta (Berichterstatterin) sowie der Richter J. L. da Cruz Vilaça, G. Arestis, J.‑C. Bonichot und A. Arabadjiev,

Generalanwalt: P. Mengozzi,

Kanzler: A. Calot Escobar,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von Frau Noorzia, vertreten durch Rechtsanwalt L. Binder,

–        der österreichischen Regierung, vertreten durch C. Pesendorfer als Bevollmächtigte,

–        der griechischen Regierung, vertreten durch M. Michelogiannaki als Bevollmächtigte,

–        der Europäischen Kommission, vertreten durch M. Condou-Durande und W. Bogensberger als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 30. April 2014

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 4 Abs. 5 der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl. L 251, S. 12).

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits, den Frau Noorzia gegen die Bundesministerin für Inneres (im Folgenden: Bundesministerin) führt, weil diese den Antrag von Frau Noorzia auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung zum Zweck der Familienzusammenführung abgewiesen hat.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        Art. 4 der Richtlinie 2003/86 bestimmt:

„(1)      Vorbehaltlich der in Kapitel IV sowie in Artikel 16 genannten Bedingungen gestatten die Mitgliedstaaten gemäß dieser Richtlinie folgenden Familienangehörigen die Einreise und den Aufenthalt:

a)      dem Ehegatten des Zusammenführenden;

(5)      Zur Förderung der Integration und zur Vermeidung von Zwangsehen können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass der Zusammenführende und sein Ehegatte ein Mindestalter erreicht haben müssen, das höchstens auf 21 Jahre festgesetzt werden darf, bevor der Ehegatte dem Zusammenführenden nachreisen darf.

…“

 Österreichisches Recht

4        Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass für den Ausgangsrechtsstreit das am 1. Januar 2006 in Kraft getretene Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (BGBl. I, 100/2005, im Folgenden: NAG) maßgeblich ist.

5        § 46 Abs. 4 NAG in der auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (BGBl. I, 111/2010) sieht vor, dass Familienangehörigen von Drittstaatsangehörigen unter bestimmten Voraussetzungen eine Niederlassungsbewilligung zu erteilen ist.

6        § 2 Abs. 1 Ziff. 9 NAG definiert den Begriff des Familienangehörigen wie folgt:

„Familienangehöriger: wer Ehegatte oder minderjähriges lediges Kind, einschließlich Adoptiv- oder Stiefkind, ist (Kernfamilie); dies gilt weiters auch für eingetragene Partner; Ehegatten und eingetragene Partner müssen das 21. Lebensjahr zum Zeitpunkt der Antragstellung bereits vollendet haben; lebt im Fall einer Mehrfachehe bereits ein Ehegatte gemeinsam mit dem Zusammenführenden im Bundesgebiet, so sind die weiteren Ehegatten keine anspruchsberechtigten Familienangehörigen zur Erlangung eines Aufenthaltstitels“.

 Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

7        Frau Noorzia wurde am 1. Januar 1989 geboren und ist afghanische Staatsangehörige. Am 3. September 2010 beantragte sie die Erteilung einer Niederlassungsbewilligung zum Zweck der Familienzusammenführung mit ihrem am 1. Januar 1990 geborenen Ehemann, der ebenfalls afghanischer Staatsangehöriger ist und in Österreich lebt.

8        Mit Bescheid vom 9. März 2011 wies die Bundesministerin diesen Antrag mit der Begründung ab, dass der Ehemann von Frau Noorzia zwar am 1. Januar 2011, jedoch noch nicht zum Zeitpunkt der Antragstellung bei der österreichischen Botschaft in Islamabad (Pakistan) das 21. Lebensjahr vollendet habe, so dass eine besondere Voraussetzung für die Familienzusammenführung nicht erfüllt sei.

9        Die Bundesministerin machte geltend, dass die Voraussetzung, wonach das 21. Lebensjahr zum Zeitpunkt der Antragstellung vollendet sein müsse, im Einklang mit der Richtlinie 2003/86 stehe.

10      Das vorlegende Gericht, bei dem Frau Noorzia Beschwerde gegen den Bescheid der Bundesministerin erhoben hat, ist der Ansicht, dass in Art. 4 Abs. 5 der Richtlinie 2003/86 nicht eindeutig angegeben werde, auf welchen Zeitpunkt für die Beurteilung der Frage abgestellt werden müsse, ob das in dieser Bestimmung festgelegte Mindestalter von 21 Jahren erreicht sei.

11      Der Verwaltungsgerichtshof hat daher das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist Art. 4 Abs. 5 der Richtlinie 2003/86 dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, der zufolge Ehegatten und eingetragene Partner das 21. Lebensjahr bereits zum Zeitpunkt der Antragstellung vollendet haben müssen, um als nachzugsberechtigte Familienangehörige gelten zu können?

 Zur Vorlagefrage

12      Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass Art. 4 Abs. 5 der Richtlinie 2003/86 den Mitgliedstaaten zur Förderung der Integration und zur Vermeidung von Zwangsehen erlaubt, ein Mindestalter von höchstens 21 Jahren festzusetzen, das der Zusammenführende und sein Ehegatte erreicht haben müssen, bevor der Ehegatte dem Zusammenführenden nachreisen darf.

13      Da in dieser Bestimmung jedoch nicht festgelegt ist, auf welchen Zeitpunkt die nationalen Behörden zur Klärung der Frage abstellen müssen, ob die Voraussetzung des Mindestalters erfüllt ist, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 4 Abs. 5 der Richtlinie 2003/86 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, wonach Ehegatten und eingetragene Partner das 21. Lebensjahr bereits zum Zeitpunkt der Antragstellung vollendet haben müssen, um als nachzugsberechtigte Familienangehörige gelten zu können.

14      Hierzu ist festzustellen, dass der Unionsgesetzgeber, indem er nicht präzisiert hat, ob die nationalen Behörden zur Klärung der Frage, ob die Voraussetzung des Mindestalters erfüllt ist, auf den Zeitpunkt der Einreichung des Antrags auf Familienzusammenführung oder auf den Zeitpunkt der Bescheidung dieses Antrags abstellen müssen, den Mitgliedstaaten einen Gestaltungsspielraum lassen wollte, soweit nicht die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt wird.

15      In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass das von den Mitgliedstaaten gemäß Art. 4 Abs. 5 der Richtlinie 2003/86 festgesetzte Mindestalter letztlich dem Alter entspricht, in dem eine Person nach Auffassung des betreffenden Mitgliedstaats nicht nur für die Verweigerung einer erzwungenen Eheschließung die nötige Reife besitzen dürfte, sondern auch für die Entscheidung, sich freiwillig mit dem Ehegatten in einem anderen Land niederzulassen, um dort mit ihm ein Familienleben zu führen und sich dort zu integrieren.

16      Vor diesem Hintergrund ist festzustellen, dass eine Maßnahme wie die im Ausgangsverfahren fragliche, wonach der Zusammenführende und sein Ehegatte das erforderliche Mindestalter zum Zeitpunkt der Antragstellung erreicht haben müssen, weder die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung verhindert noch Letztere übermäßig erschwert. Eine solche Maßnahme stellt auch nicht das Ziel der Verhinderung von Zwangsehen in Frage, da sie die Annahme zulässt, dass es wegen der größeren Reife weniger leicht sein wird, die Betroffenen dahin zu beeinflussen, dass sie eine Zwangsehe schließen und die Familienzusammenführung akzeptieren, wenn sie bereits zum Zeitpunkt der Antragstellung das Alter von 21 Jahren erreicht haben müssen, als wenn sie zu diesem Zeitpunkt jünger als 21 Jahre wären.

17      Darüber hinaus steht es auch im Einklang mit den Grundsätzen der Gleichbehandlung und der Rechtssicherheit, wenn zur Klärung der Frage, ob die Voraussetzung des Mindestalters erfüllt ist, auf den Zeitpunkt der Einreichung des Antrags auf Familienzusammenführung abgestellt wird.

18      Wie die österreichische Regierung betont hat, ermöglicht nämlich das Anknüpfen an den Zeitpunkt der Antragstellung, die Gleichbehandlung aller Antragsteller zu gewährleisten, die sich zeitlich in der gleichen Situation befinden, indem sichergestellt wird, dass der Erfolg eines Antrags in erster Linie von Umständen abhängt, die in der Sphäre der Antragsteller liegen, nicht aber von Umständen, die in der Behördensphäre liegen, wie die Dauer der Bearbeitung des Antrags.

19      Nach alledem ist auf die vorgelegte Frage zu antworten, dass Art. 4 Abs. 5 der Richtlinie 2003/86 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, wonach Ehegatten und eingetragene Partner das 21. Lebensjahr bereits zum Zeitpunkt der Antragstellung vollendet haben müssen, um als nachzugsberechtigte Familienangehörige gelten zu können.

 Kosten

20      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:

Art. 4 Abs. 5 der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung nicht entgegensteht, wonach Ehegatten und eingetragene Partner das 21. Lebensjahr bereits zum Zeitpunkt der Antragstellung vollendet haben müssen, um als nachzugsberechtigte Familienangehörige gelten zu können.

Unterschriften


* Verfahrenssprache: Deutsch.