URTEIL DES GERICHTSHOFES
26. Juni 1997(1)
[234s„Maßnahme gleicher Wirkung Vertrieb periodischer Druckschriften
Preisausschreiben Nationales Verbot“[s
In der Rechtssache C-368/95
betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 177 EG-Vertrag vom Handelsgericht
Wien in dem bei diesem anhängigen Rechtsstreit
Vereinigte Familiapress Zeitungsverlags- und vertriebs GmbH
gegen
Heinrich Bauer Verlag
vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung des Artikels 30
EG-Vertrag
erläßt
DER GERICHTSHOF
unter Mitwirkung des Präsidenten G. C. Rodríguez Iglesias, der
Kammerpräsidenten G. F. Mancini, J. C. Moitinho de Almeida und L. Sevón sowie
der Richter C. N. Kakouris, P. J. G. Kapteyn, C. Gulmann, P. Jann,
H. Ragnemalm, M. Wathelet (Berichterstatter) und R. Schintgen,
Generalanwalt: G. Tesauro
Kanzler: H. von Holstein, Hilfskanzler
unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen
- des Heinrich Bauer Verlags, vertreten durch Rechtsanwalt Michael
Winischhofer, Wien,
- der Republik Österreich, vertreten durch Botschafter Franz Cede,
Bundesministerium für auswärtige Angelegenheiten, als Bevollmächtigten,
- der belgischen Regierung, vertreten durch Jan Devadder,
Verwaltungsdirektor im Juristischen Dienst des Ministeriums für Auswärtige
Angelegenheiten, als Bevollmächtigten,
- der deutschen Regierung, vertreten durch Ministerialrat Ernst Röder und
Regierungsrätin z. A. Sabine Maass, beide Bundesministerium für
Wirtschaft, als Bevollmächtigte,
- der niederländischen Regierung, vertreten durch J. G. Lammers,
stellvertretender Rechtsberater im Ministerium für Auswärtige
Angelegenheiten, als Bevollmächtigten,
- der portugiesischen Regierung, vertreten durch Luis Fernandes, Direktor
des Juristischen Dienstes der Generaldirektion für die Europäischen
Gemeinschaften im Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten,
Antonio Silva Ferreira, Inspector Geral de Jogos im Ministerium für
Wirtschaft, und Angelo Cortesao Seiça Neves, Jurist in der Generaldirektion
für die Europäischen Gemeinschaften im Ministerium für Auswärtige
Angelegenheiten, als Bevollmächtigte,
- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch Claudia
Schmidt, Juristischer Dienst, als Bevollmächtigte,
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der mündlichen Ausführungen des Heinrich Bauer Verlags,
vertreten durch die Rechtsanwälte Michael Winischhofer und Harald Koppehele,
Hamburg, sowie Professor Torsten Stein, Universität Saarbrücken, der Republik
Österreich, vertreten durch Legationsrätin Christine Stix-Hackl, Bundesministerium
für auswärtige Angelegenheiten, als Bevollmächtigte, der deutschen Regierung,
vertreten durch Oberregierungsrat Bernd Kloke, Bundesministerium für Wirtschaft,
als Bevollmächtigten, der niederländischen Regierung, vertreten durch J. S. van den
Oosterkamp, Rechtsberater im Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten, als
Bevollmächtigten, der portugiesischen Regierung, vertreten durch Angelo
Cortesao Seiça Neves, und der Kommission, vertreten durch Claudia Schmidt, in
der Sitzung vom 12. November 1996,
nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 13. März
1997,
folgendes
Urteil
- Das Handelsgericht Wien hat mit Beschluß vom 15. September 1995, beim
Gerichtshof eingegangen am 29. November 1995, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag
eine Frage nach der Auslegung des Artikels 30 EG-Vertrag zur Vorabentscheidung
vorgelegt.
- Diese Frage stellt sich in dem Rechtsstreit über die Klage der Vereinigte
Familiapress Zeitungsverlags- und vertriebs GmbH, eines österreichischen
Presseverlags, gegen den Heinrich Bauer Verlag, einen Zeitungsverlag mit Sitz in
Deutschland, die darauf gerichtet ist, diesen zu verhalten, in Österreich den
Verkauf von Druckwerken zu unterlassen, die den Lesern unter Verstoß gegen das
österreichische Gesetz über unlauteren Wettbewerb (UWG) von 1992 die
Möglichkeit der Teilnahme an Gewinnspielen einräumen.
- Der Heinrich Bauer Verlag gibt in Deutschland die Wochenzeitschrift „Laura“
heraus, die er auch in Österreich vertreibt. Die Ausgabe vom 22. Februar 1995
enthielt ein Kreuzworträtsel. Die Leser, die die richtige Lösung einsandten, konnten
an einer Verlosung teilnehmen, in der zwei Preise von jeweils 500 DM ausgesetzt
waren. Dieselbe Ausgabe enthielt zwei weitere Rätsel, für die im einen Fall ein
Preis von 1 000 DM und im anderen ein Preis von 5 000 DM ausgesetzt waren, die
ebenfalls unter den Personen verlost würden, die die richtigen Antworten einsenden
würden. In den folgenden Ausgaben wurden ähnliche Preisausschreiben angeboten.
In jeder Ausgabe war vermerkt, daß diese Preisrätsel jede Woche veranstaltet
würden.
- Nach dem Vorlagebeschluß verstößt diese Praxis gegen das österreichische Recht.
§ 9a Absatz 1 Ziffer 1 UWG verbietet nämlich allgemein, Verbrauchern neben
Waren oder Leistungen unentgeltliche Zugaben zu gewähren. § 9a Absatz 2 Ziffer
8 UWG, der demgegenüber Preisausschreiben und Verlosungen erlaubte, bei denen
„der sich aus dem Gesamtwert der ausgespielten Preise im Verhältnis zur Zahl der
ausgegebenen Teilnahmekarten (Lose) ergebende Wert der einzelnen
Teilnahmemöglichkeiten 5 S und der Gesamtwert der ausgespielten Preise
300 000 S“ nicht überschritten, wurde durch eine Gesetzesnovelle von 1993 für auf
periodische Druckwerke unanwendbar erklärt. Seither gibt es von der Vorschrift,
daß die Herausgeber periodischer Druckwerke dem Leser keine
Teilnahmemöglichkeit an einer Verlosung einräumen dürfen, keine Ausnahme
mehr.
- Da das deutsche Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb keine vergleichbare
Bestimmung enthält, ist das Handelsgericht Wien der Ansicht, daß das Verbot des
Verkaufs periodischer Druckwerke nach dem UWG geeignet sei, den
innergemeinschaftlichen Handel zu beeinträchtigen. Deshalb hat es das Verfahren
unterbrochen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung
vorgelegt:
Ist Artikel 30 EWG-Vertrag dahin auszulegen, daß er der Anwendung der
Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats A entgegensteht, die es einem im
Mitgliedstaat B ansässigen Unternehmen untersagen, die dort hergestellte
periodisch erscheinende Zeitschrift auch im Mitgliedstaat A zu vertreiben, wenn
darin Preisrätsel oder Gewinnspiele enthalten sind, die im Mitgliedstaat B
rechtmäßig veranstaltet werden?
- Nach Artikel 30 EG-Vertrag sind mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen sowie alle
Maßnahmen gleicher Wirkung zwischen den Mitgliedstaaten verboten.
- Nach ständiger Rechtsprechung stellt jede Maßnahme, die geeignet ist, den Handel
zwischen den Mitgliedstaaten unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell
zu behindern, eine Maßnahme mit gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige
Beschränkung dar (Urteil vom 11. Juli 1974 in der Rechtssache 8/74, Dassonville,
Slg. 1974, 837, Randnr. 5).
- Auch stellen nach dem Urteil Cassis de Dijon (Urteil vom 20. Februar 1979 in der
Rechtssache 120/78, Rewe-Zentral, Slg. 1979, 649) Hemmnisse für den freien
Warenverkehr, die sich in Ermangelung einer Harmonisierung der
Rechtsvorschriften daraus ergeben, daß Waren aus anderen Mitgliedstaaten, die
dort rechtmäßig hergestellt und in den Verkehr gebracht worden sind, bestimmten
Vorschriften entsprechen müssen (wie etwa hinsichtlich ihrer Bezeichnung, ihrer
Form, ihrer Abmessungen, ihres Gewichts, ihrer Zusammensetzung, ihrer
Aufmachung, ihrer Etikettierung und ihrer Verpackung), selbst dann, wenn diese
Vorschriften unterschiedslos für alle Erzeugnisse gelten, nach Artikel 30 verbotene
Maßnahmen gleicher Wirkung dar, sofern sich die Anwendung dieser Vorschriften
nicht durch einen Zweck rechtfertigen läßt, der im Allgemeininteresse liegt und den
Erfordernissen des freien Warenverkehrs vorgeht (Urteil vom 24. November 1993
in den verbundenen Rechtssachen C-267/91 und C-268/91, Keck und Mithouard,
Slg. 1993, I-6097, Randnr. 15).
- Demgegenüber ist die Anwendung nationaler Bestimmungen, die bestimmte
Verkaufsmodalitäten beschränken oder verbieten, auf Erzeugnisse aus anderen
Mitgliedstaaten nicht geeignet, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten im Sinne
des Urteils Dassonville unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell zu
behindern, sofern diese Bestimmungen für alle betroffenen Wirtschaftsteilnehmer
gelten, die ihre Tätigkeit im Inland ausüben, und sofern sie den Absatz der
inländischen Erzeugnisse und der Erzeugnisse aus anderen Mitgliedstaaten rechtlich
wie tatsächlich in der gleichen Weise berühren (Urteil Keck und Mithouard,
a. a. O., Randnr. 16).
- Die Republik Österreich macht geltend, daß das streitige Verbot nicht unter Artikel
30 EG-Vertrag falle. Die Möglichkeit, den Lesern einer periodischen Druckschrift
die Teilnahme an Preisausschreiben anzubieten, stelle eine verkaufsfördernde
Maßnahme und damit eine Verkaufsmodalität im Sinne des Urteils Keck und
Mithouard dar.
- Selbst wenn die streitige nationale Regelung eine verkaufsfördernde Maßnahme
betreffen sollte, so bezieht sie sich im vorliegenden Fall doch auf den Inhalt der
Erzeugnisse selbst, denn die fraglichen Preisausschreiben sind Bestandteil der
Zeitschrift, in der sie sich befinden. Daher betrifft die Anwendung der streitigen
nationalen Regelung auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens keine
Verkaufsmodalität im Sinne des Urteils Keck und Mithouard.
- Ferner beeinträchtigt das streitige Verbot den Zugang der fraglichen Zeitschrift
zum Markt des Einfuhrmitgliedstaats und behindert daher den freien
Warenverkehr, da es in anderen Mitgliedstaaten niedergelassene Verlage zwingt,
deren Inhalt zu ändern. Es stellt daher grundsätzlich eine Maßnahme gleicher
Wirkung im Sinne von Artikel 30 EG-Vertrag dar.
- Die Republik Österreich und die Kommission machen jedoch geltend, die streitige
nationale Regelung solle der Aufrechterhaltung der Medienvielfalt dienen, die im
Hinblick auf Artikel 30 EG-Vertrag ein zwingendes Erfordernis darstellen könne.
- Nur kurze Zeit nach Inkrafttreten des Gesetzes über die Deregulierung des
Wettbewerbs in Österreich im Jahre 1992, das u. a. die Veranstaltung von
Gewinnspielen liberalisiert habe, habe sich im Bereich der periodischen
Druckwerke ein aggressiver Wettbewerb durch Gewährung immer umfangreicherer
Zugaben insbesondere in Form der Möglichkeit der Teilnahme an
Preisausschreiben entwickelt.
- Wegen der Befürchtung, die kleinen Verleger könnten diesem ruinösen
Wettbewerb langfristig nicht standhalten, habe der österreichische Gesetzgeber
1993 die Anwendung des § 9a Absatz 1 Ziffer 8 UWG, der, wie bereits aus
Randnummer 4 hervorgeht, in bestimmtem Umfang die Veranstaltung von
Preisausschreiben und Verlosungen im Zusammenhang mit dem Absatz von Waren
oder Leistungen erlaubt, auf Druckwerke ausgeschlossen.
- In den Erläuternden Bemerkungen zur Regierungsvorlage habe die österreichische
Regierung insbesondere ausgeführt, daß im Hinblick auf den relativ niedrigen
Verkaufspreis periodischer Druckwerke, insbesondere von Tageszeitungen, trotz
der in § 9a Absatz 2 Ziffer 8 UWG festgelegten Betragsgrenzen die Gefahr
bestehe, daß der Verbraucher der eingeräumten Gewinnchance größere Bedeutung
beimesse als der Qualität des Druckwerks (Erläuternde Bemerkungen zur
Regierungsvorlage, RV 365 BlgNR 18. GP).
- Von Bedeutung sei auch die hohe Konzentration im österreichischen
Printmedienbereich. Die Republik Österreich führt aus, daß zu Beginn der
neunziger Jahre der Marktanteil des größten Medienkonzerns in Österreich 54,5 %
betragen habe, während er sich im Vereinigten Königreich nur auf 34,7 % und in
Deutschland nur auf 23,9 % belaufen habe.
- Die Aufrechterhaltung der Medienvielfalt kann ein zwingendes Erfordernis
darstellen, das eine Beschränkung des freien Warenverkehrs rechtfertigt. Diese
Vielfalt trägt nämlich zur Wahrung des Rechts der freien Meinungsäußerung bei,
das durch Artikel 10 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und
Grundfreiheiten geschützt ist und zu den von der Gemeinschaftsrechtsordnung
geschützten Grundrechten gehört (Urteile vom 25. Juli 1991 in der Rechtssache
C-353/89, Kommission/Niederlande, Slg. 1991, I-4069, Randnr. 30, und vom 3.
Februar 1993 in der Rechtssache C-148/91, Veronica Omreop Organisatie, Slg.
1993, I-487, Randnr. 10).
- Allerdings sind die betreffenden nationalen Vorschriften nach ständiger
Rechtsprechung (Urteile Cassis de Dijon, a. a. O., vom 13. Dezember 1990 in der
Rechtssache C-238/89, Pall, Slg. 1990, I-4827, Randnr. 12, und vom 6. Juli 1995 in
der Rechtssache C-470/93, Mars, Slg. 1995, I-1923, Randnr. 15) nur zulässig, wenn
sie in einem angemessenen Verhältnis zum verfolgten Zweck stehen und wenn
dieser Zweck nicht durch Maßnahmen erreicht werden kann, die den
innergemeinschaftlichen Handelsverkehr weniger beschränken.
- Zwar rechtfertigen die Besonderheiten der Lotterien nach dem Urteil des
Gerichtshofes vom 24. März 1994 in der Rechtssache C-275/92 (Schindler, Slg.
1994, I-1039, Randnr. 61), in dem es um die Dienstleistungsfreiheit ging, ein
Ermessen der staatlichen Stellen bei der Festlegung der Anforderungen, die wegen
des Schutzes der Spieler und allgemeiner nach Maßgabe der soziokulturellen
Besonderheiten jedes Mitgliedstaats wegen des Schutzes der Sozialordnung an Art
und Weise der Veranstaltung von Lotterien, die Höhe der Einsätze sowie die
Verwendung der dabei erzielten Gewinne zu stellen sind. Somit steht den Staaten
nicht nur die Beurteilung der Frage zu, ob eine Beschränkung der Tätigkeiten im
Lotteriewesen erforderlich ist, sondern sie dürfen diese auch verbieten, sofern diese
Beschränkungen nicht diskriminierend sind.
- Jedoch lassen sich Spiele von der Art, um die es im Ausgangsverfahren geht, nicht
mit Lotterien vergleichen, deren Merkmale im Urteil Schindler untersucht worden
sind.
- Der Sachverhalt, der diesem Urteil zugrunde lag, betraf nämlich, wie der
Gerichtshof ausdrücklich hervorgehoben hat, ausschließlich in größerem Rahmen
veranstaltete Lotterien, bei denen das den nationalen Stellen zugebilligte Ermessen
durch die erhöhte Gefahr von Betrug und anderen Straftaten gerechtfertigt war,
eine Gefahr, die sich aus der Höhe der Beträge, die durch die Lotterien
eingenommen werden konnten, und der Höhe der Gewinne, die sie den Spielernbieten konnten, ergab (Randnrn. 50, 51 und 60).
- An solchen Bestrebungen zum Schutz der Sozialordnung fehlt es hingegen im
vorliegenden Fall. Zunächst werden die fraglichen Verlosungen in kleinem Rahmen
veranstaltet; bei ihnen steht weniger auf dem Spiel. Dann stellen sie keine
unabhängige wirtschaftliche Betätigung dar, sondern nur einen Gesichtspunkt des
redaktionellen Inhalts einer Zeitschrift unter anderen. Schließlich verbietet das
österreichische Recht Verlosungen nur in den Printmedien vollständig.
- Wenn ein Mitgliedstaat sich auf zwingende Erfordernisse beruft, um eine Regelung
zu rechtfertigen, die geeignet ist, den freien Warenverkehr zu behindern, ist diese
Rechtfertigung im übrigen im Lichte der allgemeinen Rechtsgrundsätze und
insbesondere der Grundrechte auszulegen (vgl. Urteil vom 18. Juni 1991 in der
Rechtssache C-260/89, ERT, Slg. 1991, I-2925, Randnr. 43).
- Zu diesen Grundrechten gehört die in Artikel 10 der Konvention zum Schutze der
Menschenrechte und Grundfreiheiten verbürgte Meinungsfreiheit (Urteil ERT,
a. a. O., Randnr. 44).
- Das Verbot, Zeitschriften zu verkaufen, die die Teilnahme an Preisausschreiben
ermöglichen, kann die Meinungsfreiheit beeinträchtigen. Artikel 10 der Konvention
zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten läßt jedoch Ausnahmen von
dieser Freiheit zum Zweck der Aufrechterhaltung der Medienvielfalt zu, soweit sie
durch Gesetz geregelt und in einer demokratischen Gesellschaft erforderlich sind
(Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 24. November
1993, Informationsverein Lentia u. a./Österreich, A Nr. 276).
- Aufgrund der in den Randnummern 19 bis 26 angestellten Erwägungen ist daher
zu untersuchen, ob ein nationales Verbot der im Ausgangsverfahren streitigen Art
in einem angemessenen Verhältnis zur Aufrechterhaltung der Medienvielfalt steht
und ob dieser Zweck nicht durch Maßnahmen erreicht werden kann, die den
innergemeinschaftlichen Handelsverkehr sowie die Meinungsfreiheit weniger
beschränken.
- Zu diesem Zweck ist zum einen zu ermitteln, ob Zeitschriften, die im Rahmen von
Preisausschreiben, Rätseln oder Gewinnspielen eine Gewinnchance eröffnen, mit
kleinen Presseunternehmen im Wettbewerb stehen, von denen angenommen wird,
daß sie keine vergleichbaren Preise aussetzen können, und die die streitige
Regelung schützen will, zum anderen, ob eine solche Gewinnchance einen
Kaufanreiz darstellen kann, der zu einer Verlagerung der Nachfrage führen kann.
- Es ist Sache des nationalen Gerichts, auf der Grundlage einer Untersuchung des
österreichischen Pressemarktes zu beurteilen, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind.
- Im Rahmen dieser Untersuchung wird es den Markt des betreffenden Erzeugnisses
abzugrenzen und die Marktanteile, die die einzelnen Herausgeber oder
Pressekonzerne halten, sowie deren Entwicklung zu berücksichtigen haben.
- Zudem muß das nationale Gericht anhand sämtlicher Umstände, die die
Kaufentscheidung beeinflussen können etwa von Werbung auf der Titelseite, die
auf die Gewinnchance verweist, der Wahrscheinlichkeit des Gewinns, des Wertes
der Preise, der Abhängigkeit des Gewinns von der Lösung einer Aufgabe, die einen
gewissen Grad von Einfallsreichtum, Geschicklichkeit oder Kenntnissen erfordert ,
beurteilen, inwieweit das betreffende Erzeugnis in den Augen des Verbrauchers die
Zeitschriften ersetzen kann, die keine Gewinnchance bieten.
- Die belgische und die niederländische Regierung vertreten die Ansicht, daß der
österreichische Gesetzgeber Maßnahmen hätte ergreifen können, die den freien
Warenverkehr weniger beeinträchtigten als das schlichte Verbot des Vertriebs von
Zeitschriften, die eine Gewinnchance eröffneten, etwa die Schwärzung oder
Entfernung der Seite, die das Gewinnspiel enthalte, in der für Österreich
bestimmten Ausgabe, oder den Hinweis, daß die Gewinnchance Lesern in
Österreich nicht offenstehe.
- Aus den Akten ergibt sich nicht, daß das fragliche Verbot dem Inverkehrbringen
von Zeitschriften entgegenstünde, bei denen solche Maßnahmen ergriffen worden
wären. Sollte das nationale Gericht feststellen, daß dies gleichwohl der Fall ist, wäre
das Verbot unverhältnismäßig.
- Nach alledem ist dem nationalen Gericht zu antworten, daß die Anwendung von
Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats, nach denen in seinem Gebiet der Vertrieb
einer in einem anderen Mitgliedstaat hergestellten periodischen Zeitschrift durch
ein in diesem Staat niedergelassenes Unternehmen verboten ist, wenn diese
Zeitschrift Preisrätsel oder Gewinnspiele enthält, die in dem zuletzt genannten
Staat rechtmäßig veranstaltet werden, nicht gegen Artikel 30 EG-Vertrag verstößt,
wenn dieses Verbot in einem angemessenen Verhältnis zur Aufrechterhaltung der
Medienvielfalt steht und dieser Zweck nicht durch Maßnahmen erreicht werden
kann, die weniger beschränkend sind. Das setzt insbesondere voraus, daß
Zeitschriften, die im Rahmen von Gewinnspielen, Rätseln oder Preisausschreiben
eine Gewinnchance eröffnen, mit den kleinen Presseunternehmen in Wettbewerb
stehen, von denen angenommen wird, daß sie keine vergleichbaren Preise aussetzen
können, und daß eine solche Gewinnchance zu einer Verlagerung der Nachfrage
führen kann. Ferner darf das nationale Verbot dem Inverkehrbringen von
Zeitschriften nicht entgegenstehen, die zwar Preisausschreiben, Rätsel oder
Gewinnspiele enthalten, jedoch Lesern im fraglichen Mitgliedstaat keine
Gewinnchance eröffnen. Es ist Sache des nationalen Gerichts, aufgrund einer
Untersuchung des betroffenen nationalen Pressemarktes zu entscheiden, ob diese
Voraussetzungen erfüllt sind.
Kosten
- Die Auslagen der Republik Österreich, der belgischen, der deutschen, der
niederländischen und der portugiesischen Regierung sowie der Kommission der
Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben
haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das
Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen
Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
Aus diesen Gründen
hatDER GERICHTSHOF
auf die ihm vom Handelsgericht Wien mit Beschluß vom 15. September 1995
vorgelegte Frage für Recht erkannt:
Die Anwendung von Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats, nach denen in seinem
Gebiet der Vertrieb einer in einem anderen Mitgliedstaat hergestellten
periodischen Zeitschrift durch ein in diesem Staat niedergelassenes Unternehmen
verboten ist, wenn diese Zeitschrift Preisrätsel oder Gewinnspiele enthält, die in
dem zuletzt genannten Staat rechtmäßig veranstaltet werden, verstößt nicht gegen
Artikel 30 EG-Vertrag, wenn dieses Verbot in einem angemessenen Verhältnis zur
Aufrechterhaltung der Medienvielfalt steht und dieser Zweck nicht durch
Maßnahmen erreicht werden kann, die weniger beschränkend sind. Das setzt
insbesondere voraus, daß Zeitschriften, die im Rahmen von Gewinnspielen, Rätseln
oder Preisausschreiben eine Gewinnchance eröffnen, mit den kleinen
Presseunternehmen in Wettbewerb stehen, von denen angenommen wird, daß sie
keine vergleichbaren Preise aussetzen können, und daß eine solche Gewinnchance
zu einer Verlagerung der Nachfrage führen kann. Ferner darf das nationale Verbot
dem Inverkehrbringen von Zeitschriften nicht entgegenstehen, die zwar
Preisausschreiben, Rätsel oder Gewinnspiele enthalten, jedoch Lesern im
fraglichen Mitgliedstaat keine Gewinnchance eröffnen. Es ist Sache des nationalen
Gerichts, aufgrund einer Untersuchung des betroffenen nationalen Pressemarktes
zu entscheiden, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind.
Rodríguez Iglesias Mancini Moitinho de Almeida Sevón Kakouris Kapteyn Gulmann Jann Ragnemalm Wathelet Schintgen
|
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 26. Juni 1997.
Der Kanzler
Der Präsident
R. Grass
G. C. Rodríguez Iglesias
1: Verfahrenssprache: Deutsch.