SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS

MANUEL CAMPOS SÁNCHEZ-BORDONA

vom 4. Dezember 2018(1)

Rechtssache C621/18

Andy Wightman,

Ross Greer,

Alyn Smith,

David Martin,

Catherine Stihler,

Jolyon Maugham,

Joanna Cherry

gegen

Secretary of State for Exiting the European Union,

Streithelfer:

Chris Leslie,

Tom Brake

Vorabentscheidungsersuchen des Court of Session, Inner House, First Division (Scotland) (Oberstes Gericht, Berufungsabteilung, Erste Kammer [Schottland], Vereinigtes Königreich)]

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Zulässigkeit – Art. 50 EUV – Recht auf Austritt aus der Union – Mitteilung der Austrittsabsicht – Austritt des Vereinigten Königreichs (Brexit) – Rücknehmbarkeit der Mitteilung der Austrittsabsicht – Einseitige Rücknahme – Voraussetzungen für die einseitige Rücknahme – Rücknahme im gegenseitigen Einvernehmen“






1.        Am 29. März 2017 teilte das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland (im Folgenden: Vereinigtes Königreich) dem Europäischen Rat seine Absicht mit, aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft auszutreten (im Folgenden: Mitteilung der Austrittsabsicht)(2).

2.        Durch diese Mitteilung wurde erstmals in der Geschichte der Europäischen Union das Verfahren nach Art. 50 EUV eröffnet, der (in den Abs. 2 und 3) vorsieht, dass zwischen der Union und dem Mitgliedstaat, der sie verlässt, ein „Austrittsabkommen“ ausgehandelt und abgeschlossen wird. Kommt kein solches Abkommen zustande, finden die Verträge auf den Mitgliedstaat zwei Jahre nach der Mitteilung der Austrittsabsicht keine Anwendung mehr, es sei denn, der Europäische Rat beschließt einstimmig, diese Frist zu verlängern.

3.        Der Gerichtshof ist von einem schottischen Gericht ersucht worden, als höchste Instanz für die Auslegung des Unionsrechts Zweifel bei einem Punkt auszuräumen, den Art. 50 EUV nicht regelt. Er muss prüfen, ob ein Mitgliedstaat, der seine Absicht mitgeteilt hat, aus der Union auszutreten, diese Mitteilung (gegebenenfalls einseitig) zurücknehmen kann.

4.        Im Folgenden werde ich darlegen, dass neben der Bedeutung pro futuro der aufgeworfenen Frage für die Rechtslehre ihre praktischen Folgen ebenso unbestreitbar sind wie ihre Auswirkungen auf den Ausgangsrechtsstreit. Bejaht der Gerichtshof die einseitige Rücknehmbarkeit, könnte das Vereinigte Königreich dem Europäischen Rat eine entsprechende Mitteilung übermitteln und so Mitglied der Union bleiben. Da das Parlament des Vereinigten Königreichs abschließend zustimmen muss, ob ein Austrittsabkommen zustande kommt oder nicht, sind mehrere Mitglieder des Parlaments der Ansicht, dass die Möglichkeit, die Mitteilung der Austrittsabsicht zurückzunehmen, einen dritten Weg eröffnen würde, nämlich den Verbleib in der Union angesichts eines unbefriedigenden Brexit. Das vorlegende Gericht scheint sich dieser Ansicht anzuschließen, denn es führt aus, die Antwort des Gerichtshofs werde den Abgeordneten des Vereinigten Königreichs Klarheit über die Optionen verschaffen, die sie bei ihrer Stimmabgabe hätten.

I.      Rechtlicher Rahmen

A.      Unionsrecht

5.        Art. 50 EUV lautet:

„(1)      Jeder Mitgliedstaat kann im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften beschließen, aus der Union auszutreten.

(2)      Ein Mitgliedstaat, der auszutreten beschließt, teilt dem Europäischen Rat seine Absicht mit. Auf der Grundlage der Leitlinien des Europäischen Rates handelt die Union mit diesem Staat ein Abkommen über die Einzelheiten des Austritts aus und schließt das Abkommen, wobei der Rahmen für die künftigen Beziehungen dieses Staates zur Union berücksichtigt wird. Das Abkommen wird nach Artikel 218 Absatz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union ausgehandelt. Es wird vom Rat im Namen der Union geschlossen; der Rat beschließt mit qualifizierter Mehrheit nach Zustimmung des Europäischen Parlaments.

(3)      Die Verträge finden auf den betroffenen Staat ab dem Tag des Inkrafttretens des Austrittsabkommens oder andernfalls zwei Jahre nach der in Absatz 2 genannten Mitteilung keine Anwendung mehr, es sei denn, der Europäische Rat beschließt im Einvernehmen mit dem betroffenen Mitgliedstaat einstimmig, diese Frist zu verlängern.

(4)      Für die Zwecke der Absätze 2 und 3 nimmt das Mitglied des Europäischen Rates und des Rates, das den austretenden Mitgliedstaat vertritt, weder an den diesen Mitgliedstaat betreffenden Beratungen noch an der entsprechenden Beschlussfassung des Europäischen Rates oder des Rates teil.

Die qualifizierte Mehrheit bestimmt sich nach Artikel 238 Absatz 3 Buchstabe b des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union.

(5)      Ein Staat, der aus der Union ausgetreten ist und erneut Mitglied werden möchte, muss dies nach dem Verfahren des Artikels 49 beantragen.“

B.      Völkerrecht

6.        Das am 23. Mai 1969 in Wien geschlossene Übereinkommen über das Recht der Verträge(3) (im Folgenden: WÜRV) regelt das Verfahren zum Abschluss von Abkommen zwischen Staaten.

7.        Sein Art. 54 bestimmt:

„Die Beendigung eines Vertrags oder der Rücktritt einer Vertragspartei vom Vertrag können erfolgen

a)      nach Maßgabe der Vertragsbestimmungen oder

b)      jederzeit durch Einvernehmen zwischen allen Vertragsparteien nach Konsultierung der anderen Vertragsstaaten.“

8.        In Art. 65 („Verfahren bei Ungültigkeit oder Beendigung eines Vertrags, beim Rücktritt von einem Vertrag oder bei Suspendierung eines Vertrags“) heißt es:

„(1)      Macht eine Vertragspartei auf Grund dieses Übereinkommens entweder einen Mangel in ihrer Zustimmung, durch einen Vertrag gebunden zu sein, oder einen Grund zur Anfechtung der Gültigkeit eines Vertrags, zu seiner Beendigung, zum Rücktritt vom Vertrag oder zu seiner Suspendierung geltend, so hat sie den anderen Vertragsparteien ihren Anspruch zu notifizieren. In der Notifikation sind die in Bezug auf den Vertrag beabsichtigte Maßnahme und die Gründe dafür anzugeben.

(2)      Erhebt innerhalb einer Frist, die – außer in besonders dringenden Fällen – nicht weniger als drei Monate nach Empfang der Notifikation beträgt, keine Vertragspartei Einspruch, so kann die notifizierende Vertragspartei in der in Artikel 67 vorgesehenen Form die angekündigte Maßnahme durchführen.

(3)      Hat jedoch eine andere Vertragspartei Einspruch erhoben, so bemühen sich die Vertragsparteien um eine Lösung durch die in Artikel 33 der Charta der Vereinten Nationen genannten Mittel.

…“

9.        Art. 67 bestimmt:

„(1)      Die Notifikation nach Artikel 65 Absatz 1 bedarf der Schriftform.

(2)      Eine Handlung, durch die ein Vertrag auf Grund seiner Bestimmungen oder nach Artikel 65 Absatz 2 oder 3 dieses Übereinkommens für ungültig erklärt oder beendet wird, durch die der Rücktritt vom Vertrag erklärt oder dieser suspendiert wird, ist durch eine den anderen Vertragsparteien zu übermittelnde Urkunde vorzunehmen. Ist die Urkunde nicht vom Staatsoberhaupt, Regierungschef oder Außenminister unterzeichnet, so kann der Vertreter des die Urkunde übermittelnden Staates aufgefordert werden, seine Vollmacht vorzulegen.“

10.      Art. 68 („Rücknahme von Notifikationen und Urkunden nach den Artikeln 65 und 67“) lautet:

„Eine Notifikation oder eine Urkunde nach den Artikeln 65 und 67 kann jederzeit zurückgenommen werden, bevor sie wirksam wird.“

C.      Recht des Vereinigten Königreichs. European Union (Withdrawal) Act 2018(4)

11.      In Section 13 heißt es:

„(1)      Das Austrittsabkommen kann nur ratifiziert werden, wenn

a)      ein Minister der Krone jeder Kammer des Parlaments Folgendes vorgelegt hat:

i)      eine Erklärung, dass eine politische Einigung erzielt worden ist,

ii)      eine Kopie des ausgehandelten Austrittsabkommens und

iii)      eine Kopie des Rahmens für die künftigen Beziehungen,

b)      das ausgehandelte Austrittsabkommen und der Rahmen für die künftigen Beziehungen auf Antrag eines Ministers der Krone durch eine Resolution des House of Commons [(Unterhaus)] gebilligt worden sind;

c)      ein Minister der Krone im House of Lords [(Oberhaus)] einen Antrag auf Kenntnisnahme des ausgehandelten Austrittsabkommens und des Rahmens für die künftigen Beziehungen eingebracht hat und

i)      der Antrag im House of Lords debattiert worden ist oder

ii)      das House of Lords die Debatte über den Antrag nicht vor Ablauf eines Zeitraums von fünf Sitzungstagen, beginnend mit dem ersten Sitzungstag nach dem Tag, an dem das House of Commons die unter Buchstabe b genannte Resolution verabschiedet, abgeschlossen hat

und

d)      ein Parlamentsgesetz verabschiedet worden ist, das Bestimmungen für die Umsetzung des Austrittsabkommens enthält.

(2)      Soweit praktikabel, muss ein Minister der Krone Vorkehrungen treffen, damit der in Subsection (1)(b) genannte Antrag Gegenstand einer Debatte und einer Abstimmung im House of Commons ist, bevor das Europäische Parlament darüber entscheidet, ob es dem gemäß Artikel 50 Absatz 2 des Vertrags über die Europäische Union im Namen der Europäischen Union geschlossenen Austrittsabkommen zustimmt.

(3)      Subsection (4) findet Anwendung, falls das House of Commons beschließt, die in Subsection (1)(b) genannte Resolution nicht zu verabschieden.

(4)      Ein Minister der Krone muss binnen 21 Tagen, beginnend mit dem Tag, an dem das House of Commons beschließt, die Resolution nicht zu verabschieden, eine Erklärung dazu abgeben, wie die Regierung Ihrer Majestät in Bezug auf die Verhandlungen über den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union gemäß Artikel 50 Absatz 2 des Vertrags über die Europäische Union vorzugehen gedenkt.

(6)      Ein Minister der Krone muss Vorkehrungen treffen, damit

a)      ein neutral formulierter Antrag, wonach die in Subsection (4) genannte Erklärung im House of Commons behandelt worden ist, dort von einem Minister der Krone innerhalb von sieben Sitzungstagen des House of Commons, beginnend mit dem Tag der Abgabe der Erklärung, gestellt wird und

b)      im House of Lords ein Antrag auf Kenntnisnahme der abzugebenden Erklärung von einem Minister der Krone innerhalb von sieben Sitzungstagen des House of Lords, beginnend mit dem Tag der Abgabe der Erklärung, gestellt wird.

(7)      Subsection (8) findet Anwendung, falls der Premierminister vor Ablauf des 21. Januar 2019 erklärt, dass in den Verhandlungen gemäß Artikel 50 Absatz 2 des Vertrags über die Europäische Union keine grundsätzliche Einigung erzielt werden kann über den Inhalt

a)      der Einzelheiten des Austritts des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union und

b)      des Rahmens für die künftigen Beziehungen zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich nach dem Austritt.

(8)      Ein Minister der Krone muss binnen 14 Tagen, beginnend mit dem Tag der Abgabe der in Subsection (7) genannten Erklärung,

a)      eine Erklärung dazu abgeben, wie die Regierung Ihrer Majestät vorzugehen gedenkt, und

b)      Vorkehrungen treffen, damit

i)      ein neutral formulierter Antrag, wonach die in Buchstabe a genannte Erklärung im House of Commons behandelt worden ist, dort von einem Minister der Krone innerhalb von sieben Sitzungstagen des House of Commons, beginnend mit dem Tag der Abgabe der in Buchstabe a genannten Erklärung, gestellt wird und

ii)      im House of Lords ein Antrag auf Kenntnisnahme der in Buchstabe a genannten Erklärung von einem Minister der Krone innerhalb von sieben Sitzungstagen des House of Lords, beginnend mit dem Tag der Abgabe der in Buchstabe a genannten Erklärung, gestellt wird.

(10)      Subsection (11) findet Anwendung, falls mit Ablauf des 21. Januar 2019 in Verhandlungen gemäß Artikel 50 Absatz 2 des Vertrags über die Europäische Union keine grundsätzliche Einigung erzielt wird über den Inhalt

a)      der Einzelheiten des Austritts des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union und

b)      des Rahmens für die künftigen Beziehungen zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich nach dem Austritt.

(11)      Ein Minister der Krone muss binnen fünf Tagen, beginnend mit dem Ablauf des 21. Januar 2019,

a)      eine Erklärung dazu abgeben, wie die Regierung Ihrer Majestät vorzugehen gedenkt, und

b)      Vorkehrungen treffen, damit

i)      ein neutral formulierter Antrag, wonach die in Buchstabe a genannte Erklärung im House of Commons behandelt worden ist, dort von einem Minister der Krone innerhalb von fünf Sitzungstagen des House of Commons, beginnend mit dem Ablauf des 21. Januar 2019, gestellt wird und

ii)      im House of Lords ein Antrag auf Kenntnisnahme der in Buchstabe a genannten Erklärung von einem Minister der Krone innerhalb von fünf Sitzungstagen des House of Lords, beginnend mit dem Ablauf des 21. Januar 2019, gestellt wird.

…“

II.    Sachverhalt, Verfahrensablauf und Vorlagefrage

12.      Am 23. Juni 2016 stimmten die Bürger des Vereinigten Königreichs in einem Referendum (mit 51,9 % gegen 48,1 %) für den Austritt („exit“) ihres Landes aus der Europäischen Union.

13.      Der United Kingdom Supreme Court (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) stellte mit Urteil vom 24. Januar 2017 in der Rechtssache Miller(5) fest, dass die Regierung des Vereinigten Königreichs für die Mitteilung der Absicht, aus der Union auszutreten, an den Europäischen Rat der vorherigen Zustimmung des Parlaments bedürfe. Im Urteil wurde dagegen nicht darüber entschieden, ob die Mitteilung zurückgenommen werden kann. Dies war nicht Gegenstand des Rechtsstreits, da die dortigen Parteien sie übereinstimmend für nicht rücknehmbar hielten(6).

14.      Am 13. März 2017 billigte das Parlament des Vereinigten Königreichs den European Union (Notification of Withdrawal) Act 2017(7), mit dem es die Premierministerin ermächtigte, gemäß Art. 50 Abs. 2 EUV die Absicht des Vereinigten Königreichs mitzuteilen, aus der Union auszutreten.

15.      Am 29. März 2017 teilte die Premierministerin des Vereinigten Königreichs dem Europäischen Rat die Austrittsabsicht mit.

16.      Am 29. April 2017 erließ der Europäische Rat (Artikel 50) die Leitlinien zur Festlegung des Rahmens für die in Art. 50 EUV vorgesehenen Verhandlungen und zur Aufstellung der von der Union während dieser Verhandlungen zu vertretenden Standpunkte und allgemeinen Prinzipien(8). Auf der Grundlage der Empfehlung der Kommission vom 3. Mai 2017 nahm der Rat am 22. Mai 2017 im Einklang mit Art. 50 EUV und Art. 218 Abs. 3 AEUV den Beschluss an, mit dem die Kommission ermächtigt wurde, mit dem Vereinigten Königreich Verhandlungen über den Abschluss eines Abkommens über den Austritt aus der Union und Euratom aufzunehmen(9).

17.      Am 14. November 2018 kamen die Verhandlungen mit einem Entwurf für ein Abkommen über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft(10) zum Abschluss. Am 22. November 2018 wurde die Politische Erklärung zur Festlegung des Rahmens für die künftigen Beziehungen zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich verabschiedet(11). Das Abkommen und die Erklärung wurden vom Europäischen Rat am 25. November 2018 gebilligt.

18.      Solange die Verfahren zur Ratifizierung dieses Abkommensentwurfs im Vereinigten Königreich und in der Europäischen Union nicht erfolgreich abgeschlossen wurden, bestehen die beiden in Art. 50 Abs. 3 EUV vorgesehenen Möglichkeiten fort.

19.      Am 19. Dezember 2017 stellten mehrere Abgeordnete des schottischen Parlaments, des Parlaments des Vereinigten Königreichs und des Europäischen Parlaments beim Court of Session, Outer House (Oberstes Gericht, Erste Kammer, [Schottland], Vereinigtes Königreich), einen Antrag auf „judicial review“, damit geklärt werde, ob die Mitteilung der Austrittsabsicht vor Ablauf des in Art. 50 EUV genannten Zweijahreszeitraums einseitig zurückgenommen werden könne, mit der Folge, dass das Vereinigte Königreich im Fall einer solchen Rücknahme in der Union verbliebe.

20.      Der Lord Ordinary (erstinstanzlicher Richter) wies den Antrag mit Entscheidung vom 6. Februar 2018(12) zurück, da er in die Souveränität des Parlaments des Vereinigten Königreichs eingreife und angesichts fehlender Anhaltspunkte dafür, dass die Regierung oder das Parlament des Vereinigten Königreichs die Mitteilung über die Austrittsabsicht zurücknehmen wolle, eine hypothetische Frage aufwerfe.

21.      Die Kläger legten beim Court of Session, Inner House (Oberstes Gericht, Berufungsabteilung [Schottland]), Berufung ein; dieser ordnete mit Beschluss vom 20. März 2018(13) die Fortsetzung des Verfahrens an und verwies den Rechtsstreit zur Entscheidung in der Sache an das erstinstanzliche Gericht zurück.

22.      Mit Entscheidung vom 8. Juni 2018(14) lehnte der Lord Ordinary (erstinstanzlicher Richter) des Court of Session (Oberstes Gericht [Schottland]) es ab, den Gerichtshof um Vorabentscheidung zu ersuchen, und wies den Antrag zurück(15).

23.      Gegen diese Entscheidung legten die Kläger beim Court of Session, Inner House, First Division (Oberstes Gericht, Berufungsabteilung, Erste Kammer [Schottland]), Berufung ein; dieser ließ sie zu und gab mit Beschluss vom 21. September 2018(16) dem Antrag statt, den Gerichtshof gemäß Art. 267 AEUV um Vorabentscheidung zu ersuchen.

24.      Das vorlegende Gericht führt im Wesentlichen aus:

–      Es sei weder verfrüht noch akademisch, sich zu fragen, ob es rechtlich möglich sei, die Mitteilung einseitig zurückzunehmen, mit der Folge, dass das Vereinigte Königreich in der Union verbliebe.

–      Insoweit bestehe Ungewissheit, und die Antwort werde den Abgeordneten Klarheit darüber verschaffen, welche Optionen sie bei der Stimmabgabe hätten. Unabhängig von dem möglichen Interesse der Mitglieder des Schottischen Parlaments und des Europäischen Parlaments an der Klärung dieser Frage, bestehe daran jedenfalls ein Interesse der Mitglieder des House of Commons.

25.      Hierbei berücksichtigte das vorlegende Gericht, dass in Section 13 des European Union (Withdrawal) Act 2018, der am 26. Juni 2018 den Royal Assent (königliche Zustimmung) erhalten habe, eingehend geregelt werde, wie die Zustimmung des Parlaments zum Ergebnis der Verhandlungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der Union im Rahmen von Art. 50 EUV einzuholen sei. Insbesondere könne das Austrittsabkommen nur ratifiziert werden, wenn es zusammen mit dem Rahmen für die künftigen Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der Union durch eine Entschließung des House of Commons gebilligt und im House of Lords debattiert worden sei. Würden sie nicht gebilligt, müsse die Regierung angeben, wie sie in Bezug auf die Verhandlungen vorzugehen gedenke. Erkläre die Premierministerin bis zum 21. Januar 2019, dass keine grundsätzliche Einigung erzielt werden könne, müsse die Regierung ebenfalls angeben, wie sie vorzugehen gedenke. Diese Angaben müsse sie den beiden Kammern des Parlaments vorlegen.

26.      Nach Section 13 des European Union (Withdrawal) Act 2018 fänden die Verträge ab dem 29. März 2019 auf das Vereinigte Königreich keine Anwendung mehr, wenn das House of Commons das Austrittsabkommen nicht billige und sonst nichts geschehe. Dasselbe gelte, wenn bis dahin kein Austrittsabkommen zwischen dem Vereinigten Königreich und der Union zustande komme.

27.      Vor diesem Hintergrund hat der Court of Session, Inner House, First Division (Oberstes Gericht, Berufungsabteilung, Erste Kammer [Schottland]), dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt(17):

Wenn ein Mitgliedstaat im Einklang mit Art. 50 des Vertrags über die Europäische Union dem Europäischen Rat seine Absicht mitgeteilt hat, aus der Europäischen Union auszutreten, lässt das Unionsrecht es dann zu, dass diese Mitteilung von dem mitteilenden Mitgliedstaat einseitig zurückgenommen wird; wenn ja, unter welchen Voraussetzungen ist dies möglich, und welche Auswirkung hat es auf den Verbleib des Mitgliedstaats in der Europäischen Union?

III. Verfahren vor dem Gerichtshof

28.      Das Vorabentscheidungsersuchen ist am 3. Oktober 2018 beim Gerichtshof eingegangen.

29.      Das vorlegende Gericht hat angesichts der Dringlichkeit beantragt, über die Vorlagefrage im beschleunigten Verfahren gemäß Art. 105 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu entscheiden, da die Erörterung und die anschließende Abstimmung im Parlament über den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Union rechtzeitig vor dem 29. März 2019 stattfinden müssten.

30.      Der Präsident des Gerichtshofs hat diesem Antrag mit Beschluss vom 19. Oktober 2018 stattgegeben; darin hat er ausgeführt, dass die Rechtssache dem beschleunigten Verfahren zu unterwerfen ist, weil es erforderlich ist, die Tragweite von Art. 50 EUV klarzustellen, bevor die nationalen Abgeordneten über das Austrittsabkommen entscheiden, und weil diese Bestimmung sowohl für das Vereinigte Königreich als auch für die Verfassungsordnung der Union von fundamentaler Bedeutung ist(18).

31.      Im Vorabentscheidungsverfahren haben die Kläger des Ausgangsverfahrens (Wightman u. a. sowie Tom Brake und Chris Leslie), die Regierung des Vereinigten Königreichs, die Kommission und der Rat schriftliche Erklärungen eingereicht und sind alle zur mündlichen Verhandlung erschienen, die am 27. November 2018 vor dem Gerichtshof stattgefunden hat.

IV.    Zulässigkeit der Vorlagefrage

32.      Die Regierung des Vereinigten Königreichs hält die Vorlagefrage für unzulässig. Die Kommission hat insoweit Zweifel, erhebt aber keine förmliche Einrede der Unzulässigkeit.

33.      Zusammenfassend führt die Regierung des Vereinigten Königreichs aus:

–      Die Frage sei unzulässig, weil sie hypothetischen und theoretischen (akademischen) Charakter habe, denn es gebe keine Anhaltspunkte dafür, dass die britische Regierung oder das britische Parlament die Mitteilung der Austrittsabsicht zurücknehmen würden.

–      Die Zulassung der Vorlagefrage widerspräche dem Rechtsmittelsystem der Gründungsverträge, die nicht die Möglichkeit vorsähen, dass der Gerichtshof gutachtliche Stellungnahmen zu verfassungsrechtlichen Fragen wie dem Austritt eines Mitgliedstaats aus der Union abgebe.

34.      Nach ständiger Rechtsprechung ist es allein Sache des nationalen Gerichts, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, anhand der Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der Fragen zu beurteilen, die es dem Gerichtshof vorlegt. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn diese die Auslegung oder die Gültigkeit einer Vorschrift des Unionsrechts betreffen. Folglich gilt für Fragen, die das Unionsrecht betreffen, eine Vermutung der Entscheidungserheblichkeit.

35.      Nach eben dieser Rechtsprechung kann der Gerichtshof die Beantwortung einer Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur ablehnen, wenn die erbetene Auslegung oder Beurteilung der Gültigkeit einer Vorschrift des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind(19).

36.      Meiner Ansicht nach erfüllt die vorliegende Rechtssache keine dieser für eine Zurückweisung des Vorabentscheidungsersuchens a limine unverzichtbaren Voraussetzungen.

37.      Erstens muss der Gerichtshof davon ausgehen, dass das vorlegende Gericht den Vorlagebeschluss im Einklang mit den innerstaatlichen Vorschriften über das Verfahren, die Zuständigkeit und die Gerichtsorganisation erlassen hat(20). Konkret kann an dieser Stelle nicht in Zweifel gezogen werden, dass der verfahrensrechtliche Mechanismus des judicial review, wie er in Schottland angewandt wird(21), in diesem besonderen Fall (wie auch in anderen Fällen, über die der Gerichtshof bereits entschieden hat)(22) sowohl das Vorabentscheidungsersuchen als auch die spätere Entscheidung des vorlegenden Gerichts rechtfertigen(23).

38.      Zweitens handelt es sich um einen tatsächlichen Rechtsstreit, in dem sich einander widersprechende Rechtsauffassungen der Parteien klar gegenüberstehen. Es gibt nämlich eine echte Kontroverse, in der kontradiktorische Argumente und Begehren vorgebracht werden:

–      Die Antragsteller ersuchen das vorlegende Gericht um die Feststellung, dass es nach Art. 50 EUV zulässig ist, die Mitteilung der Austrittsabsicht einseitig zu widerrufen, und fordern es auf, wegen dieser Frage vorab den Gerichtshof anzurufen.

–      Die britische Regierung tritt diesem Antrag entgegen.

39.      Drittens ist die Frage des vorlegenden Gerichts für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits unverzichtbar. Man könnte sogar sagen, dass diese Frage den Gegenstand dieses Rechtsstreits darstellt. Für die abschließende und einheitliche Auslegung von Art. 50 EUV ist der Gerichtshof zuständig. Die Klärung der Frage, ob dieser Artikel eine einseitige Rücknahme der Mitteilung der Austrittsabsicht zulässt, bedarf erheblicher Anstrengungen. Ohne die sachkundige Unterstützung des Gerichtshofs könnte das vorlegende Gericht den bei ihm anhängigen Rechtsstreit nur schwer entscheiden.

40.      Viertens ist die Vorlagefrage nicht nur akademisch(24). Der Gerichtshof wird um ein Urteil über die Auslegung einer Bestimmung (Art. 50 EUV) ersucht, die tatsächlich derzeit angewandt wird und deren künftige Rechtsfolgen unweigerlich näher rücken. Der Zweck des Vorabentscheidungsersuchens besteht gerade darin, die tatsächliche Tragweite eines sehr zweifelhaften Punkts dieser Bestimmung zu klären(25).

41.      Angesichts der enormen rechtlichen, wirtschaftlichen, sozialen und politischen Folgen des Brexit sowohl für das Vereinigte Königreich als auch für die Union und für die Rechte britischer und anderer Bürger, die vom Austritt betroffen sein werden, ist es offenkundig, dass die Antwort des Gerichtshofs von praktischer und nicht nur theoretischer Bedeutung ist. Es handelt sich also nicht um eine allein die Lehre betreffende Frage, für die sich nur einige wenige Spezialisten auf dem Gebiet des Unionsrechts interessieren: Die Frage, die dem Gerichtshof gestellt wird, kann im Vereinigten Königreich und in der Europäischen Union eine wirkliche Rolle spielen.

42.      Fünftens stimme ich der Beurteilung im Vorlagebeschluss zu, dass die Frage nicht verfrüht ist. Ebenso wie das vorlegende Gericht(26) bin ich sogar der Auffassung, dass der geeignete Zeitpunkt, um Zweifel hinsichtlich der Rücknehmbarkeit der Mitteilung der Austrittsabsicht auszuräumen, vor der Umsetzung des Brexit liegt und nicht erst danach, wenn das Vereinigte Königreich seine Konsequenzen unweigerlich zu tragen hat.

43.      Sechstens kann die Frage auch nicht als überflüssig oder unnötig eingestuft werden, denn durch die Antwort wird geklärt, welche Optionen die Abgeordneten haben, wenn sie ihre Stimme abgeben(27).

44.      Gemäß Section 13 des European Union (Withdrawal) Act 2018 muss das britische Parlament vor dem 21. Januar 2019 das zwischen dem Vereinigten Königreich und der Union vereinbarte Austrittsabkommen billigen oder ablehnen. Sollte dies nicht erreicht werden, muss es anschließend darüber entscheiden, wie die britische Regierung vorgehen soll. Wird ein solches Abkommen nicht gebilligt oder kommt es nicht zustande, endet die Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs in der Europäischen Union am 29. März 2019, es sei denn, der Europäische Rat beschließt im Einvernehmen mit diesem Mitgliedstaat einstimmig, die Frist zu verlängern (Art. 50 Abs. 3 EUV).

45.      Aufgrund der Antwort auf die Vorlagefrage wüssten die Mitglieder des britischen Parlaments demnach, ob ihnen neben den Alternativen, die ihnen derzeit zur Verfügung stehen (Ablehnung oder Billigung des Austrittsabkommens und Entscheidung über das Vorgehen der britischen Regierung in Ermangelung eines Abkommens), ein dritter Weg offensteht. Dieser dritte Weg würde es möglich machen, dass das Parlament die britische Regierung auffordert, die Mitteilung über die Austrittsabsicht zurückzunehmen, mit der Folge, dass das Vereinigte Königreich Partei der Gründungsverträge der Europäischen Union und deren Mitglied bliebe(28).

46.      Siebtens wird der Gerichtshof nicht um eine bloße gutachtliche Stellungnahme mit rein beratender Funktion ersucht, wie die Kommission (mit gewissen Vorbehalten) meint. In ihren schriftlichen Erklärungen räumt die Kommission ein, dass die Antwort des Gerichtshofs notwendig sei, damit das vorlegende Gericht die Feststellung („declarator“(29)), um die es ersucht worden sei, treffen könne, die aber lediglich gutachtlichen Charakter und keine unmittelbaren Folgen für die Parteien habe.

47.      Ich teile diese Ansicht nicht, denn wie ich bereits ausgeführt habe, kann die Entscheidung des vorlegenden Gerichts Rechtswirkungen entfalten, da sie den Klägern, die Mitglieder des britischen Parlaments sind, die Möglichkeit gibt, eine auf das Unionsrecht gestützte Initiative mit dem Ziel einer einseitigen Rücknahme der Mitteilung der Austrittsabsicht auf den Weg zu bringen.

48.      Die britische Regierung führt ferner aus, dass der Gerichtshof um eine gutachtliche Stellungnahme zu einer hypothetischen Rücknahme ersucht werde, die zu erklären sie nicht bereit sei. Die Gründungsverträge gestatteten es unter solchen Voraussetzungen nicht, auf das Vorabentscheidungsverfahren zurückzugreifen, denn anders als Art. 218 Abs. 11 AEUV sehe Art. 50 EUV die Möglichkeit, den Gerichtshof um ein Gutachten zu ersuchen, nicht vor. Die Rechtmäßigkeit einer (eventuellen) Rücknahme müsste überdies mit einer Vertragsverletzungs- oder Nichtigkeitsklage angefochten werden, nachdem sie erfolgt sei. Ein Gutachten des Gerichtshofs in einem politisch derart sensiblen Fall wie dem Brexit würde eine Einmischung in Entscheidungen der Exekutive und der Legislative des Vereinigten Königreichs darstellen, über die noch verhandelt werde.

49.      Ich teile auch diese Argumente nicht. Wie ich bereits ausgeführt habe, soll der Gerichtshof kein Gutachten abgeben, sondern mit dem vorlegenden Gericht zusammenarbeiten, damit es einen tatsächlichen Rechtsstreit entscheiden kann, in dem sich zwei Parteien mit genau festgelegten Rechtsstandpunkten gegenüberstehen und in dem eine Auslegung von Art. 50 EUV erforderlich ist. Angesichts des Zweifels, ob das in dieser Vorschrift geregelte Verfahren die Möglichkeit einer einseitigen Rücknahme der Mitteilung der Austrittsabsicht vorsieht, muss das vorlegende Gericht ein Feststellungsurteil mit erheblichen Auswirkungen erlassen, das wiederum von der Auslegung einer Bestimmung des EU-Vertrags abhängt.

50.      Vor diesem Hintergrund ist das in Art. 267 AEUV geregelte Vorabentscheidungsersuchen geeignet, den genannten Zweifel ex ante auszuräumen, also ohne abwarten zu müssen, bis die Rücknahme erfolgt ist. Das bloße Bestehen der Möglichkeit einer Rücknahme kann, wenn es vom Gerichtshof bestätigt wird, bereits erhebliche Rechtswirkungen entfalten, da es den klagenden Parlamentariern die Möglichkeit gibt, sich unter Berufung darauf für einen Standpunkt zu entscheiden.

51.      Bei der Beantwortung der Vorlagefrage übt der Gerichtshof mithin keine gutachterlichen Funktionen aus, sondern gibt eine Antwort, die seiner gerichtlichen Funktion (d. h. der Funktion, Recht zu sprechen) entspricht, damit das vorlegende Gericht ausgehend von ihr in einem Urteil, das tatsächliche Rechtswirkungen entfaltet, über das Feststellungsbegehren der Kläger entscheiden kann.

52.      Beantwortet er das Vorabentscheidungsersuchen in diesem Sinne, überschreitet der Gerichtshof die ihm durch die Art. 19 EUV und 267 AEUV zugewiesene Funktion nicht. Seine Auslegung des Art. 50 EUV impliziert keine Einmischung in den politischen Prozess der Verhandlungen über den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Union. Sie dient vielmehr dazu, die rechtlichen Konturen des Austritts, bei dem die Exekutive und die Legislative des Vereinigten Königreichs die aktiven Protagonisten sind, aus der Sicht des Unionsrechts klarzustellen.

53.      Im Übrigen darf der Gerichtshof, wie in anderen für die Mitgliedstaaten besonderes sensiblen Fällen, nicht seine Pflichten vernachlässigen, indem er der Beantwortung einer korrekt (also im Einklang mit Art. 267 AEUV) formulierten Frage nur deshalb ausweicht, weil die eine oder andere Partei seine Antwort aus politischer und nicht aus rein juristischer Sicht deuten könnten.

54.      Abschließend muss ich noch auf das im Vorlagebeschluss angeführte Urteil American Express(30) eingehen, wenn auch nur, um einen vermeintlichen Widerspruch zwischen meinem jetzigen Standpunkt und dem, den ich in meinen Schlussanträgen in jener Rechtssache vertrat, auszuräumen(31). Ich lobte zwar die Flexibilität des Judicial-review-Verfahrens, gab aber auch meinen Vorbehalten Ausdruck und kritisierte die zu laxe Haltung des Gerichtshofs in Bezug auf die Zulässigkeit im Rahmen solcher Verfahren gestellter Vorlagefragen, „sofern es um die Prüfung der Gültigkeit von Unionsrecht geht“.

55.      In jenem Fall vertrat ich die Ansicht, dass es gar keinen wirklichen Streit zwischen American Express und der britischen Verwaltung gegeben hatte: Beide riefen das Gericht an, damit es dem Gerichtshof die Fragen vorlegt, die sie selbst vorbereitet hatten. Das Fehlen konträrer Auffassungen der Parteien zeigte, dass es sich weniger um einen wirklichen Rechtsstreit als um ein konstruiertes, einvernehmlich eingeleitetes Verfahren mit dem alleinigen Zweck handelte, eine Entscheidung des Gerichtshofs herbeizuführen.

56.      Wie ich in meinen vorstehenden Ausführungen hervorgehoben habe, liegt im vorliegenden Fall keiner dieser Umstände vor. Außerdem hielt der Gerichtshof jenes Vorabentscheidungsersuchen auch unter den Umständen, die ich soeben dargestellt habe, für zulässig.

57.      Aus all diesen Gründen halte ich das Vorabentscheidungsersuchen für zulässig.

V.      Prüfung der Vorlagefrage

58.      Kann ein Mitgliedstaat (in diesem Fall das Vereinigte Königreich) die Mitteilung der Absicht, aus der Union auszutreten, zurücknehmen, nachdem er sie dem Europäischen Rat übermittelt hat?

59.      Da Art. 50 EUV auf diese scheinbar so einfache Frage keine ausdrückliche Antwort gibt, bieten sich drei Lösungen an: a) nein, in keinem Fall, b) ja, vorbehaltlos, oder c) ja, unter gewissen Voraussetzungen. Die Argumente zur Rechtfertigung jeder dieser drei Antworten sind zweifellos komplex, wie die Diskussion zeigt, die in den Mitgliedstaaten (insbesondere im Vereinigten Königreich) in der Rechtslehre geführt wurde(32).

60.      Die Kontroverse hat sich im Vorabentscheidungsverfahren fortgesetzt, in dem

–      die Kläger (Wightman u. a.) und ihre Streithelfer (Tom Brake und Chris Leslie) sich für eine einseitige Rücknahme aussprechen, die bestimmten Voraussetzungen unterliegt,

–      die Kommission und der Rat hingegen einer einseitigen Rücknahme widersprechen, aber der Ansicht sind, dass nach Art. 50 EUV eine Rücknahme (die ich als einvernehmlich einstufen werde), der der Europäische Rat einstimmig zugestimmt hat, zulässig ist.

61.      Der Sache nach ist die Diskussion der Widerhall eines Streits über die Folgen einseitiger Willenserklärungen gegenüber Dritten und die Möglichkeit ihres späteren Widerrufs, der seit Beginn des Entstehens des Rechts, wie wir es heute kennen, lodert. Im römischen Recht bestanden insoweit neben engen (optione facta, ius eligendi consumitur)(33) andere, flexiblere Sichtweisen, die eine Rücknahme bzw. eine Abstandnahme von solchen Erklärungen zuließen (mutatio consilii), sofern dadurch kein Dritter benachteiligt oder geschädigt wird.

62.      Ich beabsichtige, bei der materiellen Prüfung folgendem Argumentationsschema zu folgen:

–      Zuerst werde ich die völkerrechtlichen Bestimmungen über den Rücktritt von Staaten von völkerrechtlichen Verträgen einschließlich der Bestimmungen über die Rücknahme des Rücktritts prüfen. Diese Prüfung wird ergeben, ob diese Bestimmungen im vorliegenden Fall anwendbar sind.

–      Sodann werde ich Art. 50 EUV als lex specialis auslegen, um festzustellen, ob sich aus ihm kein Hindernis für eine einseitige Rücknahme der Mitteilung der Austrittsabsicht ergibt. Sollte dies der Fall sein, werde ich die Anforderungen prüfen, die die Mitgliedstaaten bei einer solchen einseitigen Rücknahme zu beachten haben.

–      Schließlich werde ich auf die von der Kommission und vom Rat angesprochene Möglichkeit einer einvernehmlichen Rücknahme eingehen.

A.      Rücktritt von Verträgen im Völkerrecht

1.      Bestimmungen des WÜRV, Gewohnheitsrecht und Staatenpraxis bezüglich des Rücktrittsrechts

63.      Da dem Recht der internationalen Verträge der in Art. 26 WÜRV niedergelegte Grundsatz pacta sunt servanda zugrunde liegt, sind die Staaten bei der Akzeptanz des Rechts auf einseitigen Rücktritt eines Staats, der Partei eines völkerrechtlichen Vertrags ist, zurückhaltend. Deshalb bestimmt Art. 42 WÜRV, dass „[d]ie Beendigung eines Vertrags, seine Kündigung oder der Rücktritt einer Vertragspartei … nur in Anwendung der Bestimmungen des Vertrags oder dieses Übereinkommens erfolgen“ kann.

64.      Die Möglichkeit des Rücktritts von einem Vertrag ist im WÜRV ausdrücklich vorgesehen:

–      Art. 54 erlaubt den Rücktritt einer Vertragspartei „nach Maßgabe der Vertragsbestimmungen“(34) oder „jederzeit durch Einvernehmen zwischen allen Vertragsparteien nach Konsultierung der anderen Vertragsstaaten“(35).

–      Art. 56 bestimmt, dass ein Vertrag, der eine Kündigung oder einen Rücktritt nicht ausdrücklich vorsieht, weder der Kündigung noch dem Rücktritt unterliegt, sofern nicht feststeht, dass die Vertragsparteien die Möglichkeit einer Kündigung oder eines Rücktritts zuzulassen beabsichtigten, oder ein Rücktrittsrecht sich nicht aus der Natur des Vertrags herleiten lässt(36).

65.      Die internationale Praxis des einseitigen Rücktritts von multilateralen Verträgen ist nicht sehr umfangreich, aber es hat nicht an Fällen gefehlt. In den letzten Jahren hat sich diese Praxis aufgrund der Vorbehalte einiger Regierungen gegenüber völkerrechtlichen Verträgen und der Beteiligung an internationalen Organisationen ausgedehnt(37).

66.      Es hat auch Fälle zeitweiliger Rücktritte von einem Vertrag gegeben, denen ein erneuter Beitritt zu demselben Vertrag folgte. Bei einem der relevantesten spielten die kommunistischen Länder Europas zu Beginn des Kalten Krieges die Hauptrolle, als sie die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO) verließen. Da die Gründungsverträge beider Organisationen keine Rücktrittsklausel enthielten, machten die westlichen Staaten geltend, dass ein Rücktritt der Zustimmung der übrigen Vertragsparteien bedürfe. Zur Stützung ihrer These brachten die kommunistischen Länder vor, dass es einen allgemeinen völkerrechtlichen Grundsatz gebe, wonach Staaten nicht gezwungen werden könnten, gegen ihren Willen weiterhin Parteien eines Vertrags zu sein(38).

67.      Aufgrund dieser Vorkommnisse wurde der Gründungsvertrag der UNESCO geändert und eine Bestimmung eingeführt, in der das Recht auf einseitigen Rücktritt verankert wurde(39). Von dieser Klausel haben das Vereinigte Königreich (das die UNESCO am 31. Dezember 1985 verließ und ihr am 1. Juli 1997 wieder beitrat) und die Vereinigten Staaten (die am 31. Dezember 1984 aus- und am 3. Oktober 2003 wieder eintraten) Gebrauch gemacht. 2017 haben sich die Vereinigten Staaten wie auch Israel erneut aus dieser internationalen Organisation zurückgezogen(40).

68.      Was die Rücknahme von Mitteilungen des Rücktritts von völkerrechtlichen Verträgen anbelangt, gibt es neben einigen historischen Vorläufern(41) auch Fälle aus neuerer Zeit, die in dieser Rechtssache von Interesse sein könnten. Konkret nehme ich auf die Fälle Panamas, Gambias und der Republik Südafrika Bezug(42).

69.      Am 19. August 2009 notifizierte(43) die Regierung Panamas unter Berufung auf Art. 54 Buchst. b WÜRV ihren Rücktritt vom Vertrag zur Gründung des Zentralamerikanischen Parlaments und anderer politischer Instanzen (im Folgenden: Parlacen)(44). Wegen des Einspruchs der Mitglieder des Parlacen ersuchte die panamaische Regierung die Nationalversammlung um den Erlass des Gesetzes Nr. 78 vom 11. Dezember 2011, das die Notifizierung zum Gegenstand hatte und durch das die panamaische Ratifikationsurkunde für diesen Vertrag annulliert werden sollte. Die Corte Suprema de Justicia de Panamá (Oberster Gerichtshof Panamas) erklärte dieses Gesetz jedoch wegen Verstoßes gegen Art. 4 der Verfassung Panamas („Die Republik Panama befolgt die Normen des Völkerrechts.“) für verfassungswidrig, da der Parlacen-Vertrag keine ausdrückliche Rücktrittsklausel enthalte und der Rücktritt nicht im Einklang mit den Art. 54 und 56 WÜRV durchführbar sei(45). Infolge dieses Urteils wurde die panamaische Austrittsmitteilung widerrufen, und Panama beteiligte sich wieder am Parlacen(46).

70.      Die beiden anderen Fälle betreffen den Vertrag zur Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH), also das Römische Statut von 1998(47):

–      Die Regierung Gambias nahm im Februar 2017 nach der Machtübernahme durch einen neuen Präsidenten die im November 2016 erfolgte Notifikation des Rücktritts zurück(48).

–      Die Regierung der Republik Südafrika, die im Oktober 2016 ihren Rücktritt vom Römischen Statut notifiziert hatte(49), teilte im März 2017(50) die Rücknahme dieser Notifizierung mit, nachdem der südafrikanische High Court (Oberster Gerichtshof) sie für nichtig erklärt hatte(51).

71.      Im Licht dieser internationalen Praxis könnte man sich fragen, ob die Möglichkeit der Rücknahme von Notifizierungen von Rücktritten zu Völkergewohnheitsrecht geworden ist. Oder, mit anderen Worten, ob Art. 68 WÜRV, wonach eine Notifikation oder eine Urkunde nach den Art. 65 und 67 jederzeit zurückgenommen werden kann, bevor sie wirksam wird, eine Regel des Völkergewohnheitsrechts enthält.

72.      Die Art. 65 bis 68 gehören zu Teil V Abschnitt 4 des WÜRV, der die Verfahren bei Ungültigkeit oder Beendigung eines Vertrags, beim Rücktritt von einem Vertrag oder bei Suspendierung eines Vertrags regelt.

–      Art. 65 verpflichtet den Staat, der von einem Vertrag zurücktreten will, den anderen Vertragsparteien seinen Anspruch zu notifizieren und die in Bezug auf den Vertrag beabsichtigte Maßnahme und die Gründe dafür anzugeben. Die anderen Staaten können innerhalb einer Frist von mindestens drei Monaten Einspruch gegen den Rücktritt erheben.

–      Wird kein Einspruch erhoben, kann der Staat, der zurücktreten will, gemäß Art. 67 schriftlich seine Rücktrittsurkunde ausfertigen und sie den anderen Vertragsparteien übermitteln.

–      Gemäß Art. 68 kann „[e]ine Notifikation oder eine Urkunde nach den Artikeln 65 und 67 … jederzeit zurückgenommen werden, bevor sie wirksam wird“.

73.      Art. 68 WÜRV wurde ohne Gegenstimmen der beteiligten Staaten in der Regierungskonferenz, die das Übereinkommen ausarbeitete, auf der Grundlage der Artikelentwürfe der Völkerrechtskommission, in der insoweit auch keine Uneinigkeit bestand, angenommen(52).

74.      Aufgrund dieses Umstands könnte man meinen, dass durch Art. 68 WÜRV eine Regel des Gewohnheitsrechts kodifiziert wird(53). Die Vorschrift, die mit den Art. 65 und 67 in Verbindung steht, kann aber eher als Verfahrensvorschrift angesehen werden, die Ausdruck einer progressiven Entwicklung, nicht aber der Kodifizierung von Völkergewohnheitsrecht ist(54). Dies hat der Gerichtshof zu Art. 65 WÜRV im Urteil Racke(55) entschieden, und ich glaube, dass diese Feststellung auch auf Art. 68 WÜRV erstreckt werden kann (wenngleich ich einräume, dass diesbezüglich Diskrepanzen bestehen)(56).

75.      Angesichts dieser relativen Ungewissheit, die durch die jüngere Staatenpraxis bei der Rücknahme von Mitteilungen über den Rücktritt von völkerrechtlichen Verträgen nicht beseitigt wurde, kann der Gerichtshof meines Erachtens den Inhalt von Art. 68 WÜRV, d. h. die Regel, dass Notifizierungen eines Mitgliedstaats, die den Rücktritt von einem Vertrag betreffen, einseitig zurückgenommen werden können, bis sie wirksam werden, schwerlich zur Regel des Gewohnheitsrechts erklären.

76.      Unabhängig von der Frage, ob Art. 68 WÜRV eine Regel des Völkergewohnheitsrechts ist oder nicht, stellt er bei der Auslegung eine nicht zu unterschätzende Interpretationsquelle dar, wie ich sogleich darlegen werde.

2.      Anwendung der Vorschriften des WÜRV über den Rücktritt von Verträgen auf die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten

77.      Sind die Bestimmungen des WÜRV über den Rücktritt von völkerrechtlichen Verträgen auf den Austritt eines Mitgliedstaats aus der Europäischen Union anwendbar? Wie könnten das WÜRV und Art. 50 EUV gegebenenfalls aufeinander abgestimmt werden?

78.      Der EU-Vertrag ist ein völkerrechtlicher Vertrag zwischen Staaten und gleichzeitig Gründungsurkunde einer internationalen Organisation (der Europäischen Union). Als solcher unterliegt er dem WÜRV, gemäß dessen Art. 5(57). Gleichwohl ist darauf hinzuweisen, dass die Union nicht Vertragspartei des WÜRV ist, und mehrere ihrer Mitgliedstaaten (Frankreich, Rumänien) sind es auch nicht. Dementsprechend sind die Bestimmungen des WÜRV über den Rücktritt von einem Vertrag und seine mögliche Rücknahme und insbesondere Art. 68 WÜRV im Unionsrecht nicht als völkerrechtliche Vertragsbestimmungen anwendbar.

79.      Die Regeln des Völkergewohnheitsrechts sind allerdings für die Mitgliedstaaten und die Europäische Union bindend und können im Unionsrecht Quelle von Rechten und Pflichten sein(58).

80.      Aufgrund meiner Vorbehalte gegen die Einstufung der in Art. 68 WÜRV niedergelegten Regel der Rücknehmbarkeit von Notifikationen über den Rücktritt von Verträgen als Regel des Völkergewohnheitsrechts kann er meines Erachtens nicht als Rechtsgrundlage für den Austritt eines Mitgliedstaats aus der Union neben dem in Art. 50 EUV geregelten Verfahren herangezogen werden.

81.      Die Gründungsverträge der Europäischen Union enthalten vielmehr eine ausdrückliche Austrittsklausel (Art. 50 EUV), die im Verhältnis zu den völkerrechtlichen Vertragsbestimmungen (Art. 54, 56 und 64 bis 68 WÜRV) lex specialis in dieser Materie ist. Daher muss der Rücktritt eines Mitgliedstaats von den Gründungsverträgen der Union grundsätzlich nach den Bestimmungen des Art. 50 EUV erfolgen.

82.      Nichts spricht jedoch dagegen, bei der Auslegung aus den Art. 54, 56, 65, 67 und insbesondere 68 WÜRV einige Auslegungsregeln abzuleiten, die dazu beitragen, Zweifel hinsichtlich der in Art. 50 EUV nicht ausdrücklich geregelten Fragen auszuräumen. Dies ist bei der Rücknehmbarkeit der Austrittsmitteilungen der Fall, zu der Art. 50 EUV schweigt.

83.      An diesem Wechselspiel ist nichts anomal. Der Gerichtshof hat die Bestimmungen des WÜRV über die Auslegung der Verträge, insbesondere die Art. 31 und 32(59), angewandt, um den Sinn der Bestimmungen der Gründungsverträge der Union(60), der von der Union mit Drittländern geschlossenen Verträge, der Bestimmungen des abgeleiteten Rechts(61) und auch der bilateralen Verträge zwischen Mitgliedstaaten klarzustellen, wenn bei ihm eine Streitigkeit aufgrund eines Schiedsvertrags anhängig gemacht wird (Art. 273 AEUV)(62).

84.      Im vorliegenden Fall ist Art. 50 EUV auszulegen, der das Austrittsrecht regelt. Eine solche Option knüpft ebenso wie die Änderung (Art. 48 EUV), der Beitritt (Art. 49 EUV) und die Ratifikation (Art. 54 EUV) der Gründungsverträge der Union an deren Ursprung an und stellt eine typische Frage des Völkerrechts dar.

85.      Art. 50 EUV, dessen Wortlaut von den Art. 65 bis 68 WÜRV inspiriert wurde(63), ist wie gesagt im Verhältnis zu den allgemeinen Bestimmungen des Völkerrechts über den Rücktritt von Verträgen eine lex specialis, aber keine eigenständige Bestimmung, die sämtliche Einzelheiten des Rücktrittsverfahrens abschließend regelt(64). Nichts hindert also daran, zur Schließung der Lücken des Art. 50 EUV den Blick auf Art. 68 WÜRV zu richten, auch wenn er strenggenommen keine Regel des Völkergewohnheitsrechts widerspiegelt.

B.      Einseitige Rücknahme der Mitteilung der Austrittsabsicht im Rahmen des Art. 50 EUV

86.      Das Verfahren nach Art. 50 EUV, das in diesen Vertrag mit der Reform durch den Vertrag von Lissabon eingefügt wurde, beginnt mit der Entscheidung über den Austritt, die der Mitgliedstaat „im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften“ treffen muss.

87.      Die weiteren Verfahrensschritte hat der Gerichtshof folgendermaßen zusammengefasst: „erstens die Mitteilung der Austrittsabsicht an den Europäischen Rat, zweitens das Aushandeln und den Abschluss eines Abkommens über die Einzelheiten des Austritts, wobei den künftigen Beziehungen zwischen dem betreffenden Staat und der Union Rechnung getragen wird, und drittens der eigentliche Austritt aus der Union zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Abkommens oder andernfalls zwei Jahre nach der Mitteilung an den Europäischen Rat, es sei denn, dieser beschließt im Einvernehmen mit dem betroffenen Mitgliedstaat einstimmig, diese Frist zu verlängern“(65).

88.      Um feststellen zu können, ob Art. 50 EUV in Anbetracht seines Schweigens zu diesem Punkt eine einseitige Rücknahme der Mitteilung der Austrittsabsicht zulässt, muss auf die Auslegungstechniken zurückgegriffen werden, die der Gerichtshof gewöhnlich anwendet(66), und hilfsweise auf die in den Art. 31 und 32 WÜRV vorgesehenen.

89.      Ich schicke sogleich vorweg, dass meiner Ansicht nach Art. 50 EUV eine einseitige Rücknahme des mitteilenden Mitgliedstaats bis zum Zeitpunkt des Abschlusses des Abkommens über den Austritt aus der Union zulässt.

1.      Wörtliche und systematische Auslegung von Art. 50 EUV

90.      Generell lässt sich sowohl die Ansicht vertreten, dass alles, was eine Vorschrift nicht verbietet, erlaubt ist, als auch die, dass das Schweigen des Gesetzes bedeutet, dass ein Recht nicht besteht(67). Angesichts dessen, dass Art. 50 EUV keine unmittelbare Antwort auf die Frage des vorlegenden Gerichts gibt, kommt eine wörtliche Auslegung der Sache nach nicht in Betracht, und man wird diesen Artikel in seinem systematischen Zusammenhang prüfen, also seine Bedeutung im Hinblick auf seine ratio im Rahmen des weiteren Normengefüges, in dem er steht, ermitteln müssen.

91.      Art. 50 Abs. 1 EUV regelt den ersten Abschnitt des Verfahrens, indem er bestimmt, dass „[j]eder Mitgliedstaat … im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften beschließen [kann], aus der Union auszutreten“. Mithin ist dieser erste (nationale) Abschnitt ausschließlich Sache des austretenden Mitgliedstaats, denn der Austritt ist ein Recht, das jedem Staat, der Partei der Gründungsverträge der Union ist, zusteht.

92.      Der in Ausübung der Souveränität des austretenden Mitgliedstaats einseitig angenommene Austrittsbeschluss(68) unterliegt gemäß Art. 50 EUV nur der Bedingung, dass er im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften ergangen ist. Die Verpflichtung, dem Europäischen Rat die Austrittsabsicht mitzuteilen, und die Zweijahresfrist für das Aushandeln des Abkommens, mit dem sie umgesetzt wird, sind ausschließlich formelle Kriterien, die die Einseitigkeit des ursprünglichen Austrittsbeschlusses nicht berühren.

93.      Wie ich bereits ausgeführt habe, geht die Ausgestaltung des Austrittsrechts in Art. 50 EUV auf Regeln des Völkerrechts zurück (insbesondere in den Art. 54 und 56 WÜRV). Das erscheint mir logisch, denn der Rücktritt von einem völkerrechtlichen Vertrag ist definitionsgemäß ein einseitiger Akt eines Vertragsstaats. Ebenso wie die Befugnis, ihn abzuschließen (treaty making power), kommt in dem Recht, sich von einem Vertrag, dessen Partei ein Staat ist, zu lösen (Rücktritt oder Kündigung), die Souveränität dieses Staats zum Ausdruck. Ist die Entscheidung eines Staats, einen Vertrag abzuschließen, einseitig, so ist es auch die Entscheidung, von ihm zurückzutreten.

94.      Der einseitige Charakter der Austrittsentscheidung spricht für die Möglichkeit, die Mitteilung dieser Entscheidung einseitig zurückzunehmen, bevor sie endgültig wirksam wird. Aus diesem Blickwinkel wäre die einseitige Rücknahme ebenfalls Ausdruck der Souveränität des austretenden Staats, der beschlossen hat, seine ursprüngliche Entscheidung rückgängig zu machen.

95.      Die Einseitigkeit des ersten Abschnitts wirkt sich meines Erachtens auch auf den zweiten Abschnitt des in Art. 50 EUV geregelten Verfahrens aus, also den Verhandlungsabschnitt, der mit der Mitteilung der Austrittsabsicht an den Europäischen Rat beginnt und nach zwei Jahren seinen Abschluss findet, es sei denn, der Europäische Rat beschließt einstimmig eine Verlängerung. Es trifft allerdings auch zu, dass der Einseitigkeit in diesem zweiten Abschnitt durch das Handeln der Unionsorgane entgegengewirkt wird; darauf werde ich später eingehen.

96.      Zugunsten der Rücknehmbarkeit von Austrittsmitteilungen haben meines Erachtens die Gründe, die ich sogleich darstelle, eine größere Argumentationskraft als die dagegen sprechenden (wenngleich ich anerkenne, dass es ihnen nicht an Gewicht fehlt).

97.      Erstens erlegt Art. 50 EUV dem Mitgliedstaat, der sich für einen Austritt entscheidet, nur sehr wenige inhaltliche Pflichten und Verfahrenspflichten auf:

–      Er muss dem Europäischen Rat (gemeint ist wohl schriftlich, wenngleich dies nicht klargestellt wird) seine Absicht mitteilen, ist aber nicht verpflichtet, sie zu rechtfertigen oder die Gründe für seinen Austritt aus der Union darzulegen.

–      Er muss nach der Mitteilung zwei Jahre warten und kann nach ihrem Ablauf die Union ohne Weiteres verlassen(69), denn der Abschluss eines Abkommens ist keine Voraussetzung für den Vollzug des Austritts(70).

98.      Diese Merkmale der Verhandlungsphase sind ein erstes Indiz dafür, dass der Staat, der seine Austrittsabsicht mitgeteilt hat, während der Zweijahresfrist gewissermaßen die Kontrolle über den mit dieser Mitteilung zum Ausdruck gebrachten Willen behält. Wie in anderen Rechtsbereichen auch kann in Ermangelung eines ausdrücklichen Verbots oder einer anderslautenden Vorschrift eine an einen anderen gerichtete einseitige Willenserklärung bis zu dem Zeitpunkt widerrufen werden, zu dem sie mit der Annahme durch den Empfänger in Form eines Rechtsakts oder dem Abschluss eines Vertrags ihre Wirkungen entfaltet.

99.      Zweitens bestimmt Art. 50 Abs. 2 EUV, dass „[e]in Mitgliedstaat, der auszutreten beschließt, … dem Europäischen Rat seine Absicht [mitteilt]“ und auf diese Weise den zweiten Abschnitt des Verfahrens aktiviert. Die Bestimmung spricht von der „Absicht“, auszutreten, und nicht vom Austritt selbst, der nur nach einem Abkommen oder ohne ein solches nach Ablauf der Zweijahresfrist erfolgen kann.

100. Absichten sind nicht endgültig und können sich ändern. Wer einem Dritten seine Absicht mitteilt, kann in ihm eine Erwartung hervorrufen, aber er geht keine Verpflichtung ein, sie unwiderruflich aufrechtzuerhalten. Um diese Wirkung entfalten zu können, muss die Mitteilung dieser Absicht eine ausdrückliche Bezugnahme auf ihre Unwiderrufbarkeit enthalten.

101. Dieses eher wortlautbezogene Argument ist zwar nicht so schlagkräftig, wie es auf den ersten Blick erscheint, denn Art. 50 Abs. 2 EUV verwendet auch das Wort Beschluss (der „Mitgliedstaat, der auszutreten beschließt, teilt dem Europäischen Rat seine Absicht mit“), ebenso wie Abs. 1 („Jeder Mitgliedstaat kann beschließen“). In Abs. 2 hätte man jedoch die Wendung „teilt diesen Beschluss“ (oder eine entsprechende Wendung) anstelle von „teilt … seine Absicht mit“ verwenden können. Irgendeine Bedeutung muss letztgenannter Wendung zu entnehmen sein, die zweifelsohne nicht das Ergebnis einer Unachtsamkeit ist.

102. Daher ist die Annahme zulässig, dass die Verwendung des Worts „Absicht“ und des Präsens („der … beschließt“ und nicht „der … beschlossen hat“) in Art. 50 Abs. 2 EUV den Staat im Rahmen seiner verfassungsrechtlichen Vorschriften berechtigt, seine ursprüngliche Austrittsabsicht während des Verfahrens „zurückzunehmen“ und sie nicht umzusetzen(71).

103. Drittens besteht ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem ersten und dem zweiten Verfahrensabschnitt, an dem auch deutlich wird, wie sich der Vorrang der Einseitigkeit im ersten Abschnitt auf den nachfolgenden auswirkt. Die Verhandlungen können nur nach der Mitteilung der Austrittsabsicht aufgenommen werden. Hierfür ist es unumgänglich, dass der Mitgliedstaat im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften gehandelt hat.

104. Allerdings kann der Austrittsbeschluss für nichtig erklärt werden, wenn derjenige, der hierzu befugt ist (im Allgemeinen der Oberste Gerichtshof des jeweiligen Staats), feststellt, dass er nicht im Einklang mit den verfassungsrechtlichen Vorschriften ergangen ist. Unter solchen Umständen lässt sich meines Erachtens kaum bestreiten, dass der Staat, der seine Absicht mitgeteilt hat, auch mitteilen muss, dass er diese Mitteilung einseitig zurücknimmt, wenn seine ursprüngliche Entscheidung die unverzichtbare Voraussetzung nicht erfüllte.

105. Die Situation entspricht zwar nicht genau der, die vorstehend in Nr. 104 beschrieben worden ist. Wenn sich der ursprüngliche Beschluss des Mitgliedstaats aber infolge einer Handlung, die im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften steht (neben anderen Möglichkeiten beispielsweise ein Referendum, eine wichtige Abstimmung im Parlament, die Durchführung allgemeiner Wahlen mit einer entgegengesetzten Mehrheit), umkehrt und seine verfassungsrechtliche Grundlage später wegfällt, halte ich es auch für logisch, dass dieser Staat in Übereinstimmung mit Art. 50 Abs. 1 EUV diese Änderung dem Europäischen Rat mitteilen kann und muss.

106. In beiden Fällen verlöre der erste Verfahrensabschnitt seine Grundlage, weil der ursprüngliche Beschluss rechtswidrig ergangen war oder weil er durch die Anwendung der innerstaatlichen Verfassungsmechanismen in Frage gestellt oder wirkungslos wurde(72). Logischerweise muss der zweite Abschnitt des Verfahrens auch davon betroffen sein, da die Prämisse, auf der er beruht, weggefallen ist. Da für den Austritt keine verfassungsmäßige Grundlage mehr besteht, muss der Staat dem Europäischen Rat mitteilen, dass er seine vorangegangene Mitteilung der Austrittsabsicht zurücknimmt(73).

107. Die zuvor(74) dargestellte internationale Praxis bestätigt diese Schlussfolgerung. Die Präzedenzfälle, die ich angeführt habe, deuten klar darauf hin, dass eine Notifikation des Rücktritts von einem völkerrechtlichen Vertrag zurückgenommen werden kann, wenn ein Verstoß gegen verfassungsrechtliche Vorschriften des Staats erkennbar wird oder es zu einem politischen Wechsel kommt und der austretende Staat deshalb seine Meinung ändert und beschließt, weiterhin an den Vertrag gebunden zu sein.

108. Diese Präzedenzfälle liegen auf der von Art. 68 WÜRV vorgezeichneten Linie, nach dem, wie bereits gezeigt wurde, Notifikationen des Rücktritts zurückgenommen werden können, bis er wirksam wird. Unabhängig davon, ob in diesem Artikel eine Regel des Völkergewohnheitsrechts zum Ausdruck kommt, steht fest, dass das WÜRV Art. 50 EUV inspirierte, und ich kann keinen Grund dafür erkennen, weshalb dieselbe Regel nicht im Rahmen des Verfahrens zum Austritt aus der Union entsprechend anwendbar sein sollte.

109. Das Festhalten an der Aushandlung des Abkommens über den Rücktritt von den Gründungsverträgen der Union mit einem Mitgliedstaat, der sie nicht mehr verlassen will, nachdem er seine Verfassungsmechanismen aktiviert hat, um die ursprüngliche Entscheidung umzukehren, ist meines Erachtens zudem ein Ergebnis, das vernunftwidrig ist und zu dem eine systematische Auslegung von Art. 50 EUV nicht führen sollte.

110. Anders betrachtet: Wenn diese Mechanismen den Beschluss eines nationalen Parlaments einschließen, das auf diese Weise dazu beiträgt, die Merkmale der eigenen „nationale[n] Identität, die in [den] grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen … zum Ausdruck kommt“, festzulegen, indem es sie mit seiner Zugehörigkeit zur Union verknüpft, sollten die Art. 4 EUV zugrunde liegenden Prinzipien die Akzeptanz dieses neuen Beschlusses als Zeichen der „Achtung“, auf die Abs. 2 dieses Artikels Bezug nimmt, fördern.

111. Viertens stimme ich mit Wightman u. a. überein, die in ihren Erklärungen ausgeführt haben, die Unzulässigkeit der Rücknahme von Mitteilungen der Austrittsabsicht eines Mitgliedstaats, der seinen Willen im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften geändert habe und in der Union verbleiben wolle, liefe de facto darauf hinaus, ihn zum Austritt aus dieser internationalen Organisation zu zwingen.

112. Tatsächlich käme ein solches Nein einem indirekten Ausschluss aus der Union gleich, während in Art. 50 EUV nichts darauf hindeutet, dass das Austrittsverfahren zu einem Mittel zum Ausschluss eines Mitgliedstaats gemacht werden kann. Außerdem wurde während des Konvents zur Zukunft Europas ein Änderungsvorschlag nicht angenommen, mit dem das Recht der Mitgliedstaaten auf freiwilligen Austritt um ein Recht der Union auf Ausschluss von Mitgliedstaaten, die wiederholt gegen ihre Werte verstoßen, ergänzt werden sollte(75).

113. Fünftens kann die Rücknehmbarkeit der Mitteilung der Austrittsabsicht nicht mit dem Einwand verneint werden, der Mitgliedstaat, der in der Union verbleiben wolle, habe die Möglichkeit (Art. 50 Abs. 5 EUV), erneut seinen Beitritt zur Union nach dem Verfahren des Art. 49 EUV zu beantragen.

114. Meines Erachtens enthält Art. 50 EUV keinen Anhaltspunkt dafür, dass er als Verfahren konzipiert worden ist, das nur in eine Richtung geht und von dem es keine Umkehr gibt („one way street with no exits“), so dass die einzige Möglichkeit, die ein Mitgliedstaat hätte, nachdem er seine Austrittsabsicht mitgeteilt und seine Entscheidung später überdacht hat, darin bestünde, zwei Jahre zu warten, um aus der Union auszutreten und sofort wieder seinen Beitritt zu beantragen(76). Es widerspräche meiner Meinung nach auch dem Zweck von Art. 50 EUV, den künftigen Beitritt während des zweiten Abschnitts des Verfahrens innerhalb von zwei Jahren auszuhandeln, wenn sich der Wille des Mitgliedstaats geändert hat und er die Europäische Union nicht mehr verlassen will. Eine systematische Auslegung von Art. 50 EUV kann nicht zu so wenig logischen (oder sogar widersprüchlichen) Situationen wie diesen führen, nur weil man der Auffassung ist, dass eine einseitige Rücknahme der Mitteilung der Austrittsabsicht nicht möglich sei.

115. Sechstens ändert der Verhandlungsabschnitt, der mit der Mitteilung der Austrittsabsicht eröffnet wird, nichts daran, dass der mitteilende Staat in jeder Hinsicht den Status eines Mitgliedstaats der Union hat. Der Gerichtshof hat dies im Urteil RO mit den Worten bestätigt, dass die Mitteilung „nicht die Aussetzung der Anwendung des Unionsrechts in dem Mitgliedstaat bewirkt, der mitgeteilt hat, dass er beabsichtige, aus der Union auszutreten. Folglich bleiben die unionsrechtlichen Vorschriften … in diesem Staat bis zu seinem tatsächlichen Austritt aus der Union vollumfänglich in Kraft“(77).

116. Daher kann der Mitgliedstaat, der Art. 50 EUV aktiviert hat, um aus der Union auszutreten, ihn im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften deaktivieren, wenn sich sein Wille ändert, denn Art. 50 Abs. 1 EUV – nunmehr in seiner Auslegung e contrario – ist weiterhin auf ihn anwendbar. Die Mitteilung der Austrittsabsicht eröffnet einen zweijährigen Verhandlungszeitraum, nimmt ihm aber nicht seine Eigenschaft als Mitgliedstaat und alle damit verbundenen Rechte, mit Ausnahme der Einschränkung seiner Teilnahme an den Beratungen und der Beschlussfassung des Europäischen Rates oder des Rates, die seinen Austritt betreffen (Art. 50 Abs. 4 EUV).

117. Ich glaube, dass den Argumenten, die ich soeben nach dieser Prüfung von Art. 50 EUV dargelegt habe, größeres Gewicht zukommt als den Gegenargumenten, die die Kommission und der Rat in ihren schriftlichen Erklärungen sowie ein Teil der Literatur vertreten(78).

118. Wenn ich die grundsätzlich übereinstimmenden Erwägungen der Kommission und des Rates richtig verstanden habe, legen beide Organe Art. 50 EUV in einer Weise aus, die dem ersten, dem mittleren und dem letzten Abschnitt des Austrittsverfahrens völlig verschiedene Merkmale zuweist.

119. Sie meinen, der erste Abschnitt sei vollkommen einseitig und verbleibe unter der Kontrolle des Mitgliedstaats. Hingegen habe der mittlere Abschnitt (das Aushandeln) bilateralen oder multilateralen Charakter, so dass die Befugnisse der Unionsorgane vorrangig seien. Sobald dieser zweite Abschnitt aktiviert werde, verliere der mitteilende Mitgliedstaat die Kontrolle über das Verfahren, mit der Folge, dass er seine Austrittsmitteilung nicht einseitig zurücknehmen könne. Die Rücknahme könne nur einvernehmlich aufgrund eines einstimmigen Beschlusses des Europäischen Rates erfolgen.

120. Dieser Auslegung kann ich mich nicht anschließen.

121. Zwar sind die Organe in erheblichem Maß am zweiten Abschnitt, der Aushandlung des Austrittsverfahrens, beteiligt:

–      Der Europäische Rat nimmt die Mitteilung der Austrittsabsicht, die ihm der austretende Mitgliedstaat übermittelt, entgegen.

–      Die Unionsorgane sind berechtigt, mit dem austretenden Mitgliedstaat das Austrittsabkommen auszuhandeln, wobei der Rahmen für seine künftigen Beziehungen zur Union berücksichtigt wird.

–      Das Verfahren umfasst das Aushandeln nach Art. 218 Abs. 3 AEUV und den (eventuellen) Abschluss des Abkommens durch den Rat im Namen der Union mit qualifizierter Mehrheit nach Zustimmung des Europäischen Parlaments. Die Möglichkeit, den Verhandlungszeitraum von zwei Jahren zu verlängern, hat der Europäische Rat im Einvernehmen mit dem austretenden Mitgliedstaat.

122. Diese Befugnisse der Unionsorgane, die das Austrittsverfahren multilateralisieren, beseitigen allerdings die Einseitigkeit in diesem zweiten Abschnitt nicht vollständig, denn zum einen ist die Voraussetzung, auf die sich dieser Abschnitt stützt, die Mitteilung des Beschlusses (rectius, der Absicht), auszutreten, die dem Mitgliedstaat obliegt und deren Ungültigkeit oder einseitige Rücknahme den nachfolgenden Abschnitten ihre Grundlage entzieht. Zum anderen ist dieser Staat nicht verpflichtet, ein Abkommen zu schließen, um aus der Union austreten zu können, und es würde ausreichen, dass er den zwingenden Verhandlungszeitraum von zwei Jahren verstreichen lässt, um seinen Austritt zu vollziehen, was bestätigt, dass auch dieser Abschnitt des Verfahrens eine einseitige Komponente aufweist.

123. Die Frist von – vorbehaltlich einer Verlängerung – höchstens zwei Jahren für das Aushandeln der Austrittsbedingungen ist in den Klauseln anderer völkerrechtlicher Verträge üblich(79). Daraus, dass ein solcher Zeitraum existiert, kann nicht geschlossen werden, dass eine einseitige Rücknahme der Mitteilung der Austrittsabsicht unmöglich ist. Dieser Zeitraum dient überdies nicht nur zur Vorbereitung des Austritts, sondern auch als „cooling off period“, damit der austretende Mitgliedstaat seine ursprüngliche Absicht gegebenenfalls überdenken und seinen Standpunkt ändern kann(80).

124. Auch die Befugnis des Europäischen Rates, den genannten Zeitraum zu verlängern, bedeutet nicht, dass sich diese Verlängerung der Kontrolle des austretenden Staats entzieht und unausweichlich dazu führt, dass er aus der Union austreten muss, obwohl er seine Auffassung geändert hat. Die Verlängerung der Zweijahresfrist wird gemäß Art. 50 Abs. 3 EUV vom Europäischen Rat einstimmig beschlossen, aber „im Einvernehmen mit dem betroffenen Mitgliedstaat“. Mit anderen Worten: Der Europäische Rat kann dem Mitgliedstaat die Verlängerung nicht aufzwingen; dieser verfügt sowohl über die Befugnis, seinen Austritt aus der Union zum Fristablauf zu vollziehen, als auch über die Möglichkeit, seine Mitteilung vor dem Abschluss des Austrittsabkommens zu widerrufen.

125. Der Rat bringt als Argument gegen die einseitige Rücknehmbarkeit zudem vor, dass die Mitteilung der Austrittsabsicht mit der Einleitung und im Verlauf des zweiten Abschnitts des Verfahrens gewisse Rechtswirkungen zu entfalten beginne(81). Ich bin jedoch der Meinung, dass die Rechtsakte, die die Union während der Verhandlungsphase erlässt, genau genommen keine Wirkungen der Mitteilung der Austrittsabsicht sind, sondern Maßnahmen, die den Verhandlungen inhärent sind (wie die Abwesenheit des Vereinigten Königreichs von den Formationen des Europäischen Rates und des Rates, die über den Verhandlungsprozess oder die Leitlinien zu dessen Steuerung entscheiden), oder Beschlüsse, die im Hinblick auf den künftigen Austritt gefasst werden (die Verlagerung des Sitzes bestimmter Agenturen, um ihren ununterbrochenen Fortbestand zu gewährleisten)(82).

126. Diese Rechtsakte der Union, die mehrheitlich formeller Art sind, stehen wie gesagt mit dem Verhandlungsprozess in Verbindung(83), und ihre Existenz bietet keine Grundlage dafür, die Möglichkeit, die Mitteilung der Austrittsabsicht zurückzunehmen, zu verneinen. Zusammenhängende Rechtsakte wie solche, die die Verlagerung der Agenturen der Union betreffen, wären von dieser Rücknahme nicht betroffen, und nur die wirtschaftlichen Kosten, die sie möglicherweise verursachen, könnten zu Streitigkeiten führen.

127. Die Ausarbeitung und die Anwendung der formellen Rechtsakte im Zusammenhang mit den Verhandlungen über den Austritt des Vereinigten Königreichs und die damit verbundenen Rechtsakte haben der Union ebenso wirtschaftliche Kosten verursacht wie die Bildung eines Verhandlungsteams, das sich ausschließlich dem Brexit widmet. Der Rat bringt vor, dass die Union diese Kosten im Fall einer einseitigen Rücknahme tragen müsse, was gegen eine solche Möglichkeit spreche.

128. Diese Erwägung überzeugt mich nicht. Die Lösung, für die sich der Rat offenbar ausspricht, ist nicht die einzige für das Problem, wer die Kosten (als „Kollateralschäden“) übernimmt. Durch die Verhandlungen über den Abschluss oder den Rücktritt von einem völkerrechtlichen Vertrag entstehen den Vertragsstaaten immer Kosten, die sie tragen müssen, und an dieser Regel sollte sich durch die einseitige Rücknahme einer Austrittsmitteilung nichts ändern. Letzten Endes dürften die wirtschaftlichen Kosten des Austritts eines Mitgliedstaats (für die Union und ihre Bürger) wesentlich höher sein als die (geringen) Kosten, die eine Rücknahme verursacht.

2.      Teleologische Auslegung von Art. 50 EUV

129. Nach Art. 1 Abs. 2 EUV stellt „[d]ieser Vertrag … eine neue Stufe bei der Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas dar“.

130. Wie ich bereits ausgeführt habe, ist die Union gemäß Art. 4 Abs. 2 EUV verpflichtet, die nationale Identität der Mitgliedstaaten zu achten, „die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen … zum Ausdruck kommt“. Nach Abs. 3 der Präambel zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) muss die Union bei ihrem Handeln die nationale Identität der Mitgliedstaaten achten.

131. Art. 50 Abs. 1 EUV ist der Sache nach ein bedeutsamer Beleg für die Achtung der nationalen Identität der Staaten, denen er ihr Recht auf Austritt aus der Union im Einklang mit ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften zuerkennt. Genauso wie ein Mitgliedstaat zu einem bestimmten Zeitpunkt der Ansicht sein kann, dass seine nationale Identität mit der Zugehörigkeit zur Union unvereinbar sei, ist er durch nichts daran gehindert, seine Identität (die nicht als unveränderlicher, in Stein gemeißelter Begriff verstanden werden darf) mit seiner Integration in die Union zu verknüpfen.

132. Zuvor habe ich erläutert, wie der Grundsatz, dass die Verfassungsidentität der Staaten zu achten ist, die von mir vorgeschlagene systematische Auslegung des Art. 50 EUV stützt. Zu demselben Ergebnis kommt man aus teleologischer Sicht. Eine Lesart von Art. 50 EUV, wonach die Rücknahme der Austrittsabsicht möglich ist, entspricht dem diesem Grundsatz innewohnenden Zweck besser, denn sie gestattet es, eine gemäß den verfassungsrechtlichen Vorschriften erfolgte Änderung des souveränen Willens eines Mitgliedstaats zu berücksichtigen(84), um das Verfahren zum Austritt aus der Union, den dieser Staat rückgängig machen will, zum Stillstand zu bringen.

133. Das Ziel der Verwirklichung „einer immer engeren Union der Völker Europas“ spricht ebenfalls für eine Auslegung von Art. 50 EUV im Sinne einer Rücknehmbarkeit der Mitteilung der Austrittsabsicht. Dieses Ziel spricht für eine Auslegung unionsrechtlicher Vorschriften, die auf eine Stärkung der Union und nicht auf ihre Auflösung gerichtet ist. Einem Mitgliedstaat, der beschlossen hat, aus der Union auszutreten, dann aber im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften seine Meinung ändert und Mitglied bleiben will, dabei keine Hindernisse in den Weg zu legen, scheint mir daher ein besonders sachdienliches Auslegungskriterium zu sein.

134. Der Austritt eines Mitgliedstaats ist hingegen immer ein Scheitern des Integrationsziels. Gibt es Argumente von gleichem Gewicht im einen und im anderen Sinn, ist der favor societatis als Schlüsselelement zur Ermittlung der dem Fortbestand und nicht der (teilweisen) Auflösung von Vereinigungen jeder Art, in denen sehr tiefgehende Verbindungen geknüpft worden sind, am besten entsprechenden Lösung verstanden worden.

135. Diese Auslegung ist überdies für den Schutz der von den Unionsbürgern erworbenen Rechte, die durch den Austritt eines Mitgliedstaats unweigerlich eingeschränkt würden, am günstigsten. Da die Rücknahme der Mitteilung der Austrittsabsicht den Austritt des mitteilenden Mitgliedstaats aus der Union stoppt, gewährleistet sie, dass die Bürger dieses Staats und der übrigen Staaten die im AEU-Vertrag und in der Charta geregelten Bürgerrechte weiterhin genießen können.

136. Hingegen liefe eine Unwiderruflichkeit der Mitteilung, nachdem der Mitgliedstaat eine Umkehr beschlossen hat, darauf hinaus, dass dieser Staat zum Austritt gezwungen würde, mit der Folge, dass diese Bürgerechte für seine in der Union ansässigen Staatsangehörigen und für die im austretenden Staat ansässigen Staatsangehörigen der übrigen Mitgliedstaaten eingeschränkt oder wegfallen würden.

137. Zusammenfassend bringt die von mir vorgeschlagene Auslegung von Art. 50 EUV (einseitige Rücknehmbarkeit der Mitteilung der Austrittsabsicht) die Achtung der Verfassungsidentität der Mitgliedstaaten am besten mit dem Ziel der Fortentwicklung des Integrationsprozesses in Einklang(85) und begünstigt darüber hinaus den Schutz der Rechte der Unionsbürger.

3.      Historische Auslegung des Art. 50 EUV

138. Vorgänger des Art. 50 EUV ist Art. I-60 des nicht zustande gekommenen Vertrags über eine Verfassung für Europa, dessen Vorarbeiten(86) im Rahmen des Konvents zur Zukunft Europas stattfanden.

139. Ich bin der Ansicht, dass diese Vorarbeiten den einseitigen Charakter der Ausgestaltung des Austrittsrechts bestätigen und die von mir vorgeschlagene Auslegung des Art. 50 EUV stützen. Die Kommentare zu Art. 46 des Entwurfs des Präsidiums des Konvents(87) bestätigen nämlich den Vorrang der Einseitigkeit im Austrittsverfahren auch während der Verhandlungsphase, denn in ihnen wird ausgeführt, dass ein (üblicherweise als Scheidungsabkommen bezeichnetes) Abkommen keine Bedingung für den Austritt sein sollte, da sonst das Konzept des freiwilligen Austritts ausgehöhlt würde.

140. Dem Konvent zur Zukunft Europas wurden zudem verschiedene Änderungsvorschläge vorgelegt, mit denen der Austrittsbeschluss an materielle Voraussetzungen geknüpft oder vom Abschluss eines Abkommens zwischen dem austretenden Staat und der Union abhängig gemacht werden sollte(88). Alle diese Änderungsvorschläge wurden abgelehnt, woran die Bedeutung der Einseitigkeit im Verfahren nach Art. 50 EUV deutlich wird.

141. Ich gelange daher anhand der vorstehenden wörtlichen, systematischen, teleologischen und historischen Auslegung des Art. 50 EUV zu dem Schluss, dass er die einseitige Rücknahme der Mitteilung der Austrittsabsicht eines Mitgliedstaats bis zum Abschluss des Austrittsabkommens erlaubt.

4.      Voraussetzungen und Grenzen für die einseitige Rücknahme der Mitteilung der Austrittsabsicht

142. Bejaht man die Möglichkeit einer einseitigen Rücknahme der Mitteilung der Austrittsabsicht im Rahmen von Art. 50 EUV, bleibt noch zu klären, ob für sie bestimmte Voraussetzungen und Grenzen gelten, was meines Erachtens der Fall ist.

143. Die erste Voraussetzung betrifft die Form. Wie die Mitteilung der Austrittsabsicht muss ihre Rücknahme durch einen förmlichen, an den Europäischen Rat gerichteten Akt des Mitgliedstaats erfolgen (Art. 50 Abs. 2 EUV). Die Rücknahme ist wie die Austrittsmitteilung ein förmlicher Akt, der das Leben eines Vertrags betrifft, so dass es zwischen beiden verfahrensrechtliche Parallelen geben muss(89).

144. Die zweite Voraussetzung besteht in der Einhaltung der innerstaatlichen verfassungsrechtlichen Vorschriften. Die Anforderungen des Verfassungsrechts des Mitgliedstaats, die für den Erlass des Austrittsbeschlusses gelten, der sodann dem Europäischen Rat mitgeteilt wird (Art. 50 Abs. 1 EUV), müssen auch eingehalten werden, wenn sich der Mitgliedstaat zur Rücknahme dieser Mitteilung entschließt.

145. Für die Lösung dieses Problems ist zwar eher jeder Staat zuständig, aber wenn nach den innerstaatlichen verfassungsrechtlichen Vorschriften beispielsweise die Zustimmung des Parlaments eine Vorbedingung für die Mitteilung des Austritts aus der Union ist (nach dem Urteil Miller ist das im Vereinigten Königreich der Fall)(90), muss das Parlament logischerweise auch der Rücknahme dieser Mitteilung zustimmen. Dadurch wird der Mitgliedstaat an der Mitteilung fadenscheiniger oder auch zweideutiger und unklarer Rücknahmen(91), aus denen sich nicht eindeutig auf seinen Standpunkt schließen lässt, gehindert.

146. Eine Rechtfertigung für die Rücknahme der Austrittsabsicht ist, da Art. 50 EUV sie für die Mitteilung der ursprünglichen Absicht nicht verlangt, auch für ihre Rücknahme nicht zwingend erforderlich. Gleichwohl wäre es sachgerecht, wenn der Staat den übrigen Mitgliedstaaten darlegt, aus welchen Gründen er seine Meinung geändert hat, was, da sie seinen vorangegangenen Handlungen zuwiderläuft, nach einer Erklärung verlangt.

147. Aus Art. 50 Abs. 3 EUV ergibt sich eine zeitliche Grenze für die Rücknahme von Mitteilungen der Austrittsabsicht: Sie ist nur innerhalb der durch die Mitteilung der Austrittsabsicht an den Europäischen Rat in Gang gesetzten zweijährigen Verhandlungsfrist möglich. Logischerweise wird die Rücknahme der Mitteilung nach Abschluss des Austrittsabkommens, das die Zustimmung beider Parteien voraussetzt, unmöglich, denn das Abkommen entfaltet dann bereits volle Wirkung.

148. Eine andere Grenze für die Ausübung des Rechts auf einseitige Rücknahme wird durch die Grundsätze des guten Glaubens und der loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 Abs. 3 EUV)(92) gezogen.

149. Die Kommission und der Rat haben insbesondere hervorgehoben, dass das Verfahren des Art. 50 EUV missbraucht werden könnte, wenn man eine einseitige Rücknahme zuließe. Die Rücknehmbarkeit würde es dem Mitgliedstaat ihres Erachtens ermöglichen, über sein Austrittsabkommen aus einer vorteilhaften Stellung gegenüber den Unionsorganen und den übrigen Mitgliedstaaten heraus zu verhandeln, denn er könnte seine Mitteilung zurücknehmen und die Verhandlungen zum Stillstand bringen, wenn sie für ihn nicht günstig verliefen.

150. Zudem könnte der Mitgliedstaat, wie die Kommission und der Rat vorbringen, seine Austrittsabsicht erneut mitteilen und dadurch einen neuen zweijährigen Verhandlungszeitraum einleiten. Der Rat meint, dass der Mitgliedstaat auf diese Weise den Verhandlungszeitraum verlängern und dadurch Art. 50 Abs. 3 EUV, der dem Europäischen Rat die Befugnis verleihe, einstimmig eine Verlängerung dieses Zeitraums zu beschließen, umgehen würde. Der Kommission zufolge liefe die Möglichkeit stillschweigender Rücknahmen der Logik des Verfahrens des Art. 50 EUV zuwider.

151. Diese Argumente (insbesondere das zweite) sprechen in der Tat am ehesten dafür, eine einseitige Rücknahme auszuschließen. Ich glaube aber nicht, dass sie in diesem Maß entscheidend sind.

152. Erstens ist die Möglichkeit eines Rechtsmissbrauchs im Allgemeinen kein Grund dafür, das Bestehen dieses Rechts zu verneinen. Vielmehr muss dem Missbrauch durch die Anwendung geeigneter Rechtsinstrumente Einhalt geboten werden.

153. Zweitens findet das Gegenmittel gegen eine missbräuchliche Ausübung des Rücknahmerechts seine Grundlage in dem vom Gerichtshof aufgestellten allgemeinen Grundsatz des Verbots missbräuchlicher Praktiken, wonach zum einen eine betrügerische oder missbräuchliche Berufung auf das Unionsrecht nicht erlaubt ist und zum anderen die Anwendung einer Unionsrechtsnorm nicht so weit gehen kann, dass missbräuchliche Praktiken von Wirtschaftsteilnehmern gedeckt werden(93). Dieser allgemeine Grundsatz könnte im Rahmen des Art. 50 EUV angewandt werden, wenn ein Mitgliedstaat missbräuchlich handelt, indem er sich aufeinanderfolgender Mitteilungen und Rücknahmen bedient, um bessere Bedingungen für seinen Austritt aus der Union zu erreichen.

154. Den taktischen Rücknahmen, von denen die Kommission und der Rat sprechen, messe ich aus zwei Gründen nicht dieselbe Bedeutung bei wie diese Organe.

155. Der eine besteht darin, dass die einzige vom Gerichtshof aktuell zu beantwortende Vorlagefrage keinen Gesichtspunkt enthält, der auf eine zweckfremde Ausübung (im Sinne von Ermessensmissbrauch, der zur Ungültigkeit eines Rechtsakts der öffentlichen Gewalt, auf die Art. 263 AEUV Bezug nimmt, führt) der Befugnis zur Rücknahme des ursprünglichen Beschlusses hindeutet. Überdies käme ein Missbrauch nur in Betracht, wenn eine zweite Mitteilung der Austrittsabsicht erfolgt, nicht aber, wenn die erste einseitig zurückgenommen wird.

156. Der andere Grund besteht darin, dass es für mich nur äußerst schwer nachvollziehbar ist, dass sich taktische Rücknahmen in der Praxis häufen und eine Möglichkeit entwerten könnten, die zweifelsohne schwerwiegende Konsequenzen hat. Die Rücknahme ist eine Entscheidung, die vom austretenden Mitgliedstaat im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften zu treffen war. Da es darum geht, einen vorangegangenen verfassungsmäßigen Beschluss zurückzunehmen, setzt die Änderung eine andere Regierungsmehrheit, die Anberaumung eines Referendums, eine Entscheidung des obersten Gerichtshofs des Landes, mit der der Austrittsbeschluss für nichtig erklärt wird, oder eine andere Handlung voraus, die praktisch schwer umzusetzen sein und die Durchführung langwieriger und umfangreicher rechtlicher Verfahren erforderlich machen wird. Die Verpflichtung zur Rücknahme im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften ist mithin ein Filter, der abschreckende Wirkung hat und einen Missbrauch des Austrittsverfahrens des Art. 50 EUV durch solche taktische Rücknahmen erschwert.

C.      Einvernehmliche Rücknahme der Mitteilung der Austrittsabsicht im Rahmen des Art. 50 EUV

157. Das vorlegende Gericht bittet den Gerichtshof lediglich um eine Auslegung von Art. 50 EUV, um feststellen zu können, ob er eine einseitige Rücknahme der Mitteilung der Austrittsabsicht zulässt. Es bittet folglich nicht um eine Entscheidung darüber, ob eine einvernehmliche Rücknahme mit diesem Artikel vereinbar ist(94).

158. Die Kommission und der Rat haben gleichwohl, nachdem sie in ihren schriftlichen Erklärungen verneint haben, dass Art. 50 EUV eine einseitige Rücknahme zulasse, die Möglichkeit angesprochen, dass nach dieser Bestimmung eine vom Europäischen Rat einstimmig beschlossene Rücknahme zulässig sein könnte.

159. Sollte der Gerichtshof eine einseitige Rücknahme bejahen, bedarf es keiner Antwort auf die Thesen der Kommission und des Rates. Ich werde sie der Vollständigkeit halber dennoch prüfen.

160. Die Kommission meint, wenn ein Mitgliedstaat seine Mitteilung der Austrittsabsicht zurücknehmen und in der Union verbleiben wolle, müsse ein Weg gefunden werden, seinem Begehren nachzukommen, da eine einseitige Rücknahme nicht zulässig sei.

161. Da Art. 50 EUV keinen derartigen Weg vorzeichnet, schlagen die Kommission und der Rat vor, eine vom Europäischen Rat einstimmig beschlossene Rücknahme für durchführbar zu erachten. Da Art. 50 Abs. 3 und 4 EUV dem Europäischen Rat die Befugnis verleihe, die Verhandlungsphase einstimmig und ohne Beteiligung des austretenden Staats zu verlängern, müsse er der Rücknahme der Austrittsmitteilung ebenfalls einstimmig zustimmen.

162. Die Kommission ergänzt, dass der Europäische Rat diese Befugnis innehaben müsse, denn eine Annahme durch alle Mitgliedstaaten im Einklang mit ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften sei in Anbetracht dessen, dass über die Zustimmung zur Rücknahme schnell entschieden werden müsse, nicht durchführbar. Wenn die Rücknahme erfolgt sei und der Staat in die Union zurückkehren wolle, sei nach Art. 50 Abs. 5 EUV seine Wiedereingliederung nach dem Beitrittsverfahren des Art. 49 EUV wiederum Sache der Mitgliedstaaten.

163. Ich bin der Ansicht, dass Art. 50 EUV eine Rücknahme im gegenseitigen Einvernehmen zwischen dem austretenden Staat, der seine Meinung ändert, und den Unionsorganen, die mit ihm über seinen Austritt verhandeln, zulässt. Akzeptiert man das Mehr (einseitige Rücknahme), muss man auch das Weniger (einvernehmliche Rücknahme) akzeptieren. Eine solche einvernehmliche Rücknahme steht darüber hinaus im Einklang mit dem Art. 54 Buchst. b WÜRV zugrunde liegenden Grundsatz, wonach der Rücktritt von einem Vertrag „jederzeit durch Einvernehmen zwischen allen Vertragsparteien nach Konsultierung der anderen Vertragsstaaten“ erfolgen kann.

164. Die Möglichkeit einer solchen einvernehmlichen Rücknahme widerspricht folglich nicht der einseitigen Rücknahme der Mitteilung der Austrittsabsicht, die dem austretenden Staat gemäß Art. 50 EUV jederzeit zur Verfügung steht.

165. Ich bin allerdings der Ansicht, dass es nicht mit Art. 50 EUV vereinbar ist, die Möglichkeit einer Rücknahme der Mitteilung der Austrittsabsicht von einem einstimmigen Beschluss des Europäischen Rates (Format Art. 50 EUV) abhängig zu machen, wie die Kommission und der Rat, unter Ausschluss einer einseitigen Rücknahme, offenbar vorschlagen.

166. Die Rücknahme durch einstimmigen Beschluss des Europäischen Rates müsste, damit sie einvernehmlich erfolgt, der austrittswillige Staat beantragen, so dass der Europäische Rat, wenn dieser Staat nicht einverstanden ist, sie ihm nicht aufzwingen könnte, auch nicht durch einstimmigen Beschluss.

167. Art. 50 Abs. 3 EUV gestattet keine Verlängerung des zweiten Verhandlungsabschnitts, „es sei denn, der Europäische Rat beschließt im Einvernehmen mit dem betroffenen Mitgliedstaat einstimmig, diese Frist zu verlängern“. Entsprechend bedürfte es meines Erachtens eines Ersuchens des austretenden Staats als unabdingbare Voraussetzung für eine einstimmige Zustimmung zur Rücknahme seiner Mitteilung durch den Europäischen Rat.

168. Diese Garantie stellt die Einseitigkeit der Rücknahme des Austrittsbeschlusses sicher. Wenn die Annahme der Rücknahme der Mitteilung der Austrittsabsicht nur von einem einstimmigen Votum im Europäischen Rat im Format Art. 50 EUV abhinge, wäre das Recht auf Austritt aus (und umgekehrt das Recht auf Verbleib in) der Union der Kontrolle des Mitgliedstaats, seiner Souveränität und seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften entzogen und bliebe in den Händen des Europäischen Rates.

169. Wenn man davon ausginge, dass der Europäische Rat das letzte Wort über die Rücknahme der Mitteilung der Austrittsabsicht haben und dabei einstimmig entscheiden müsste, würde sich die Gefahr erhöhen, dass der Mitgliedstaat die Union gegen seinen Willen verlassen muss. Es würde ausreichen, wenn sich einer der 27 verbliebenen Mitgliedstaaten einem einstimmigen Beschluss des Europäischen Rates (im Format Art. 50 EUV) widersetzen würde, um die Absicht des Staats zu vereiteln, der seinen Wunsch zum Ausdruck gebracht hat, in der Union zu bleiben. Dieser Staat müsste die Union (gezwungenermaßen) nach einer Frist von zwei Jahren ab der Mitteilung der Austrittsabsicht gegen seinen Willen zum Verbleib in dieser internationalen Organisation verlassen.

VI.    Ergebnis

170. Angesichts der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, die vom Court of Session, Inner House (Oberstes Gericht, Berufungsabteilung [Schottland]), zur Vorabentscheidung vorgelegte Frage wie folgt zu beantworten:

Hat ein Mitgliedstaat dem Europäischen Rat seine Absicht mitgeteilt, aus der Europäischen Union auszutreten, lässt Art. 50 des Vertrags über die Europäische Union es zu, diese Mitteilung bis zum Zeitpunkt des Abschlusses des Austrittsabkommens einseitig zurückzunehmen, sofern über die Rücknahme im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften entschieden wurde, sie dem Europäischen Rat förmlich mitgeteilt wird und keine missbräuchliche Praxis vorliegt.


1      Originalsprache: Spanisch.


2      Prime Minister’s letter to Donald Tusk triggering Article 50, 29-3-2017. Der vollständige Text kann unter http://data.consilium.europa.eu/doc/document/XT‑20001-2017‑INIT/en/pdf abgerufen werden.


3      United Nations Treaty Series, Bd. 1155, S. 331.


4      Gesetz von 2018 über den Austritt aus der Europäischen Union.


5      R (Miller) v Secretary of State for Exiting the European Union [2017] UKSC 5.


6      R (Miller) v Secretary of State for Exiting the European Union [2017] UKSC 5, Rn. 26. Lord Neuberger führte aus: „In these proceedings, it is common ground that notice under article 50(2) (which we shall call ‚Notice‘) cannot be given in qualified or conditional terms and that, once given, it cannot be withdrawn. Especially as it is the Secretary of State’s case that, even if this common ground is mistaken, it would make no difference to the outcome of these proceedings, we are content to proceed on the basis that that is correct, without expressing any view of our own on either point …“


7      European Union (Notification of Withdrawal) Act 2017 (Gesetz von 2017 über die Mitteilung des Austritts aus der Europäischen Union), c. 9, section 1.


8      Dokument EUCO XT 20004/17 vom 29. April 2017, Leitlinien im Anschluss an die Mitteilung des Vereinigten Königreichs gemäß Artikel 50 EUV (http://data.consilium.europa.eu/doc/document/XT‑20004-2017‑INIT/de/pdf).


9      Beschluss (EU, Euratom) XT 21016/17 des Rates der Europäischen Union vom 22. Mai 2017 zur Ermächtigung zur Aufnahme von Verhandlungen mit dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland über ein Abkommen, in dem die Einzelheiten seines Austritts aus der Europäischen Union festgelegt werden (http://data.consilium.europa.eu/doc/document/XT‑21016-2017-ADD-1-REV-2/de/pdf). Eine Gruppe britischer Bürger mit Wohnsitz in verschiedenen Ländern der Union erhob gegen diesen Beschluss eine Nichtigkeitsklage, die vom Gericht mit Urteil vom 26. November 2018, Shindler u. a./Rat (T‑458/17, EU:T:2018:838), für unzulässig erklärt wurde.


10      Agreement on the withdrawal of the United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland from the European Union and the European Atomic Energy Community. Der Text muss einer juristischen Überprüfung unterzogen werden und ist (nur in englischer Fassung) verfügbar unter https://www.consilium.europa.eu/media/37099/draft_withdrawal_agreement_incl_art 132.pdf.


11      Political declaration setting out the framework for the future relationship between the European Union and the United Kingdom. Englischer Text unter https://www.consilium.europa.eu/media/37100/20181121-cover-political-declaration.pdf.


12      [2018] CSOH 8, https://www.scotcourts.gov.uk/docs/default-source/cos-general-docs/pdf-docs-for-opinions/2018csoh8.pdf?sfvrsn=0.


13      [2018] CSIH 18, https://www.scotcourts.gov.uk/docs/default-source/cos-general-docs/pdf-docs-for-opinions/2018csih18.pdf?sfvrsn=0.


14      https://www.scotcourts.gov.uk/docs/default-source/cos-general-docs/pdf-docs-for-opinions/2018csoh61.pdf?sfvrsn=0.


15      Vgl. zu einer kritischen Analyse dieser Entscheidung Taylor, R., und Wilson, A., „Brexit, the revocation of article 50, and the path not taken: Wightman and Others for Judicial Review against the Scretary of State for Exiting the European Union“, Edinburgh Law Review, 2018, Bd. 22, S. 417 bis 422.


16      Dem Beschluss sind die Stellungnahmen der Mitglieder der Kammer beigefügt [2018] CSIH 62, http://www.bailii.org/scot/cases/ScotCS/2018/[2018]_CSIH_62.html.


17      Am 19. Oktober 2018 stellte der Beklagte (der Secretary of State for Exiting the European Union) beim vorlegenden Gericht einen Antrag auf Zulassung eines Rechtsmittels (permission to appeal) gegen das Vorabentscheidungsersuchen zum United Kingdom Supreme Court (Oberster Gerichtshof, Vereinigtes Königreich). Der Antrag wurde vom Court of Session, Inner House, First Division (Oberstes Gericht, Berufungsabteilung, Erste Kammer [Schottland]), am 8. November 2018 und vom United Kingdom Supreme Court (Oberster Gerichtshof, Vereinigtes Königreich) am 20. November 2018 zurückgewiesen.


18      Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom 19. Oktober 2018, Wightman u. a. (C‑621/18, EU:C:2018:851, Rn. 9 und 11).


19      Urteile vom 16. Juni 2015, Gauweiler u. a. (C‑62/14, EU:C:2015:400, Rn. 24 und 25), vom 4. Mai 2016, Pillbox 38 (C‑477/14, EU:C:2016:324, Rn. 15 und 16), vom 5. Juli 2016, Ognyanov (C‑614/14, EU:C:2016:514, Rn. 19), vom 15. November 2016, Ullens de Schooten (C‑268/15, EU:C:2016:874, Rn. 54), vom 28. März 2017, Rosneft (C‑72/15, EU:C:2017:236, Rn. 50 und 155), und vom 7. Februar 2018, American Express (C‑304/16, EU:C:2017:524, Rn. 31 und 32).


20      Es ist insbesondere nicht Sache des Gerichtshofs, sich in die – im Vorlagebeschluss dargestellte – Diskussion über die Voraussetzungen, unter denen das Judicial-review-Verfahren im Ausgangsrechtsstreit statthaft ist, oder über die Sachverhaltswürdigung durch das vorlegende Gericht für die Zwecke der Anwendung der im schottischen Recht geltenden Kriterien einzumischen. Vgl. entsprechend Urteile vom 16. Juni 2015, Gauweiler u. a. (C‑62/14, EU:C:2015:400, Rn. 26), und vom 7. Februar 2018, American Express (C‑304/16, EU:C:2018:66, Rn. 34).


21      Eine allgemeine Darstellung des Judicial-Review-Verfahrens findet sich bei Harvie-Clark, S., „Judicial Review“, SPICe Briefing 16/62, Scottish Parliament, 2016.


22      Der Gerichtshof beantwortete im Urteil vom 23. Dezember 2015, Scotch Whisky Association u. a. (C‑333/14, EU:C:2015:845), die im Rahmen eines schottischen „judicial-review“ gestellten Vorlagefragen. Generalanwalt Bot nahm in seinen Schlussanträgen (C‑333/14, EU:C:2015:527, Nrn. 19 bis 24) ebenfalls ausdrücklich in diesem Sinne Stellung.


23      Der Gerichtshof hat schon mehrere die Auslegung des Unionsrechts oder die Gültigkeit von Handlungen der Organe betreffende Vorabentscheidungsersuchen für zulässig erklärt, die ihm aufgrund von Klagen, die auf die Überprüfung der Rechtmäßigkeit („judicial review“) gerichtet waren, vorgelegt wurden, insbesondere in den Rechtssachen, in denen die Urteile vom 10. Dezember 2002, British American Tobacco (Investments) und Imperial Tobacco (C‑491/01, EU:C:2002:741), vom 3. Juni 2008, Intertanko u. a. (C‑308/06, EU:C:2008:312), vom 8. Juli 2010, Afton Chemical (C‑343/09, EU:C:2010:419), vom 4. Mai 2016, Pillbox 38 (C‑477/14, EU:C:2016:324), und Philip Morris Brands u. a. (C‑547/14, EU:C:2016:325), und vom 7. Februar 2018, American Express (C‑304/16, EU:C:2018:66), ergingen.


24      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs liegt die Rechtfertigung eines Vorabentscheidungsersuchens nicht in der Abgabe von Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen, sondern darin, dem Bedürfnis nach einer tatsächlichen Entscheidung eines Rechtsstreits über das Unionsrecht Genüge zu tun (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 24. April 2012, Kamberaj, C‑571/10, EU:C:2012:233, Rn. 41, vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson, C‑617/10, EU:C.2013:105, Rn. 42, vom 27. Februar 2014, Pohotovosť, C‑470/12, EU:C:2014:101, Rn. 29, und vom 21. Dezember 2016, Tele2 Sverige und Watson u. a., C‑203/15 und C‑698/15, EU:C:2016:970, Rn. 130).


25      Beschluss vom 14. März 2013, Loreti u. a. (C‑555/12, EU:C:2013:174, Rn. 20); Urteile vom 16. November 1981, Foglia (244/80, EU:C:1981:302, Rn. 18), und vom 12. Juni 2008, Gourmet Classic (C‑458/06, EU:C:2008:338, Rn. 26).


26      Stellungnahme von Lord Drummond Young im Anhang zum Vorlagebeschluss, Rn. 59: „… departure from the European Union using the mechanism in article 50 involves venturing into completely new territory. In these circumstances, ascertaining the legal principles that apply to the use of article 50 and its consequences are a matter of great practical importance; to suggest otherwise appears to me to be manifestly absurd. The present situation should be contrasted with the position before article 50 was invoked, when the consequences of that act and the possibility of revoking it were truly hypothetical. Furthermore, many of the consequences of the article 50 declaration will become material as soon as the two-year time limit specified in that declaration comes into effect, on 29 March 2019. After that, the possibility of revocation will plainly be hypothetical. If the rights and powers of interested parties cannot be determined before that date, the country, and its legislature and executive, will be, metaphorically, sleepwalking into the consequences. That is plainly an impractical and undesirable result.“


27      Vorlagebeschluss, Rn. 10.


28      Vgl. Rn. 7 und 27 des Votums von Lord Carloway im Anhang zum Vorlagebeschluss.


29      Unter „declarator“ versteht man die gerichtliche Entscheidung, die als Antwort auf das Ersuchen der Partei ergeht, die eine für ihre Rechte oder ihren Status günstige Deklaration begehrt.


30      Urteil vom 7. Februar 2018, C‑304/16, EU:C:2018:66.


31      Schlussanträge vom 6. Juli 2017, American Express (C‑304/16, EU:C:2017:524, Nrn. 42 bis 47).


32      Unter den Autoren, die sich für eine Rücknehmbarkeit der Mitteilung der Austrittsabsicht aussprechen, vgl. Craig, P., „Brexit: A Drama in Six Acts“, European Law Review, 2016, Bd. 41, S. 447 bis 468, Eeckhout, P., und Frantziou, E., „Brexit and Article 50 TEU: A constitutionalist reading“, Common Market Law Review, 2017, Bd. 54(3), S. 695 bis 734, Edward, D., Jacobs, F., Lever, J., Mountfield, H., und Facenna, G., „In the matter of Article 50 of the Treaty on European Union (‚The Three Knights‘ Opinion)“, 2017, Sari, A., „Reversing a withdrawal notification under article 50 TEU: can a Member State change its mind?“, European Law Review, 2017, Bd. 42, S. 451 bis 473, Tridimas, T., „Article 50: An Endgame without an End?“, King’s Law Journal, 2016, Bd. 27, S. 297 bis 313.


      Unter den Autoren, die sich gegen eine Rücknehmbarkeit aussprechen, vgl. Gatti, M., „The Article 50 Procedure for Withdrawal from the EU: A Well-Designed Secession Clause“, Paper presented at the EU Studies Association (EUSA) Conference, Miami, 4. bis 6. Mai 2017. Panel 3I – Brexit: Impact upon European Law and Integration, S. 10 (https://www.eustudies.org/conference/papers/download/431); Papageorgiou, I., „The (ir‑)revocability of the withdrawal notification under Article 50 TEU“, Policy Department for Citizens’ Rights and Constitutional Affairs, Europäisches Parlament, 2018; Ostendorf, P., „The withdrawal cannot be withdrawn: the irrevocability of a withdrawal notification under art. 50(2) TEU“, European Law Review, 2017, Bd. 42(5), S. 767 bis 776.


33      „Ist die Wahl getroffen worden, erschöpft sich das Wahlrecht“ (Pandekten 33.5.2.2 bis 3).


34      Das ist genau der Fall des Art. 50 EUV.


35      In den Art. 64 bis 68 WÜRV ist das Verfahren beim Rücktritt von einem multilateralen Vertrag gemäß den Art. 54 und 56 WÜRV geregelt.


36      Im letztgenannten Fall muss die Vertragspartei ihre Absicht, von dem Vertrag zurückzutreten, mindestens zwölf Monate im Voraus notifizieren.


37      Vgl. das Referenzwerk von Helfer, R. L., „Exiting treaties“, Virginia Law Review, Bd. 91, November 2005, S. 1579 bis 1648, sowie Brölmann, C., Collins, R., El Droubi, S., und Wessel, R., „Exiting International Organizations. A brief introduction“, draft to be published in International Organizations Law Review, 2018, Nr. 2, und Bradley, C., und Helfer, R. L., „Treaty Exit in the United States: Insights from the United Kingdom or South Africa?“, AJIL, 2018, Bd. 111, S. 428 bis 433. Die Afrikanische Union hat massive Austritte aus dem Internationalen Strafgerichtshof angekündigt: Decision on the International Criminal Court, AU Doc Assembly/AU/Dec. 622 (XXVIII) vom 31. Januar 2017, und Annex-Withdrawal Strategy Document to the Decision on the International Criminal Court, AU Doc Assembly/AU/Dec. 672 (XXX) vom 29. Januar 2018.


38      Dock, M. C., „Le retrait des membres des organisations internationales de la famille des Nations Unies“, Annuaire français de droit international,1994, S. 111.


39      Art. II Abs. 6 (dieser Absatz wurde auf der 8. Tagung [1954] der Generalkonferenz angenommen [8 C/Resolutions, S. 12]) der am 16. November 1945 in London verabschiedeten Verfassung der Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft und Kultur bestimmt: „Jeder Mitgliedstaat und jedes Assoziierte Mitglied der UNESCO kann nach einer an den Generaldirektor/die Generaldirektorin zu richtenden Kündigung aus der Organisation austreten. Die Kündigung wird am 31. Dezember des Jahres wirksam, das auf das Jahr folgt, in dessen Verlauf die Kündigung angezeigt wurde. Der Austritt berührt nicht die finanziellen Verpflichtungen, die gegenüber der UNESCO an dem Tage bestehen, mit dem der Austritt wirksam wird. Die Kündigung durch ein Assoziiertes Mitglied erfolgt in dessen Namen durch den für seine internationalen Beziehungen verantwortlichen Mitgliedstaat oder die dafür verantwortliche Stelle.“


40      http://www.unesco.org/new/en/member-states/member-states-information/.


41      Spanien verließ den Völkerbund 1926, nahm aber 1928 seine Entscheidung zurück und beteiligte sich aktiv an seiner neunten Sitzungsperiode.


42      Papageorgiou, I., a. a. O. (Fn. 32), S. 9 und 10.


43      https://www.mire.gob.pa/index.php/es/noticias-mire/4755-.


44      Der Wortlaut dieses Vertrags, der keine ausdrückliche Rücktrittsklausel enthält, ist unter http://www.parlacen.int/Informaci%C3%B3nGeneral/MarcoPol%C3%ADticoyJur%C3%ADdico/TratadoConstitutivo.aspx abrufbar.


45      Urteil der Corte Suprema de Justicia (Plenum) vom 2. Februar 2012, https://vlex.com.pa/vid/accion-inconstitucionalidad-sala-pleno-375091942?_ga=2.13901559.115975578.1539971406-1717765214.1539971406.


46      http://www.parlacen.int/Actualidad/Actualidad/tabid/146/EntryId/369/Reintegro-de-Panama-al-PARLACEN.aspx.


47      Der Wortlaut des Römischen Statuts wurde publiziert als Dokument A/CONF.183/9 vom 17. Juli 1998, geändert durch die Protokolle vom 10. November 1998, 12. Juli 1999, 30. November 1999, 8. Mai 2000, 17. Januar 2001 und 16. Januar 2002. Das Statut trat am 1. Juli 2002 in Kraft. Vor kurzem hat die Afrikanische Union mit massiven Austritten aus dem IStGH gedroht (Decision on the International Criminal Court, AU Doc Assembly/AU/Dec. 622 [XXVIII] vom 31. Januar 2017 und Annex-Withdrawal Strategy Document to the Decision on the International Criminal Court, AU Doc Assembly/AU/Dec. 672 [XXX] vom 29. Januar 2018).


48      Assembly of States Parties President welcomes Gambia’s decision not to withdraw from the Rome Statute, ICC [Press Communique] vom 17. Februar 2017, unter https://www.icc-cpi.int/Pages/item.aspx?name=PR1274.


49      Grund war die Weigerung, den sudanesischen Präsidenten Al Bashir während seiner Teilnahme am Gipfel der Afrikanischen Union im Juni 2015 in Südafrika festzunehmen und dem Internationalen Strafgerichtshof zu überstellen.


50      Assembly of States Parties President welcomes the revocation of South Africa’s withdrawal from the Rome Statute, [Press Communique] vom 11. März 2017, unter https://www.icc-cpi.int/Pages/item.aspx?name=pr1285.


51      Die Regierung hatte den Rücktritt ohne vorherige Zustimmung des südafrikanischen Parlaments notifiziert, worin der High Court einen Verstoß gegen die südafrikanische Verfassung sah. Urteil des High Court of South Africa (Gauteng Division, Pretoria), Case number 83145/2016, vom 22. Februar 2017, Democratic Alliance v. Minister of International Relations and Cooperation, 2017 (3) SA 212 (GP).


52      Der Entwurf wurde mit 94 Ja-Stimmen ohne Gegenstimme bei acht Enthaltungen angenommen. Vgl. 28th Plenary Meeting (vom 16. Mai 1969), in United Nations, Official Records of the United Nations Conference on the Law of Treaties, Second Session (New York: United Nations, 1970), S. 157.


53      Anderer Ansicht: Tzanakopoulos, A., „Article 68 of the 1969 Vienna Convention on the Law of Treaties“, in Corten, O., und Klein, P. (Hrsg.), Oxford University Press, 2011, Bd. II, S. 1565. Krieger, H., „Article 68“, in Dörr, O., Schmalenbach, K. (Hrsg.), Vienna Convention on the Law of Treaties – A Commentary, 2. Aufl., Springer, Berlin, 2018, S. 1259, nimmt eine positivere Haltung zum gewohnheitsrechtlichen Charakter von Art. 68 ein.


54      Im Urteil vom 3. Februar 2006, Bewaffnete Tätigkeiten im Gebiet des Kongo, Demokratische Republik Kongo gegen Ruanda – Neue Klage aus dem Jahr 2002, I.C.J. Reports 2006, S. 6, Rn. 125, führte der Internationale Gerichtshof aus, dass Art. 66 WÜRV das Völkerrecht nicht feststelle. Gleichwohl hat der Internationale Gerichtshof im Urteil vom 25. September 1997, Projekt Gabčíkovo – Nagymaros (Ungarn/Slowakei), I.C.J. Reports 1997, S. 7, Rn. 109, festgestellt, dass die Art. 65 und 67 WÜRV kein Gewohnheitsrecht kodifizierten, wohl aber ein solches Gewohnheitsrecht widerspiegelten und gewisse Verfahrensgrundsätze enthielten, die auf der Verpflichtung, nach Treu und Glauben zu handeln, basierten.


55      Urteil vom 16. Juni 1998 (C‑162/96, EU:C:1998:293, Rn. 59: „[Die in Art. 65 WÜRV] enthaltenen speziellen Verfahrensvorschriften [sind] jedenfalls nicht Teil des Völkergewohnheitsrechts.“ Noch klarer äußerte sich Generalanwalt Jacobs in seinen Schlussanträgen in dieser Rechtssache (EU:C:1997:582, Nr. 96): „In Artikel 65 des Wiener Übereinkommens werden die einschlägigen Anforderungen an das Verfahren festgelegt, aber diese Anforderungen scheinen die Anforderungen des Völkergewohnheitsrechts nicht genau widerzuspiegeln. Die Bestimmungen des Wiener Übereinkommens über die Anforderungen an das Verfahren sind offenbar – wie zu erwarten – genauer und konkreter als die Regeln des Völkergewohnheitsrechts.“


56      Vgl. zu dieser Frage die konträren Auffassungen von Sari, A., a. a. O. (Fn. 32), Nr. 3, S. 466 bis 469, der meint, Art. 68 enthalte eine Bestimmung des Völkergewohnheitsrechts, und von Papageorgiou, I., a. a. O. (Fn. 32), S. 13 bis 16, der der Ansicht ist, Art. 68 sei eine Regel, die Ausdruck einer progressiven Entwicklung sei.


57      Nach Art. 5 WÜRV, der Gründungsverträge internationaler Organisationen und im Rahmen einer internationalen Organisation angenommene Verträge betrifft, findet dieses Übereinkommen „auf jeden Vertrag Anwendung, der die Gründungsurkunde einer internationalen Organisation bildet, sowie auf jeden im Rahmen einer internationalen Organisation angenommenen Vertrag, unbeschadet aller einschlägigen Vorschriften der Organisation“.


58      Urteil vom 27. Februar 2018, Western Sahara Campaign UK (C‑266/16, EU:C:2018:118, Rn. 47): „[D]ie Union [muss] nach ständiger Rechtsprechung ihre Befugnisse unter Beachtung des gesamten Völkerrechts ausüben, also nicht nur der Regeln und Grundsätze des allgemeinen Völkerrechts und des Völkergewohnheitsrechts, sondern auch der Vorschriften der internationalen Übereinkünfte, die sie binden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 24. November 1992, Poulsen und Diva Navigation, C‑286/90, EU:C:1992:453, Rn. 9, vom 3. September 2008, Kadi und Al Barakaat International Foundation/Rat und Kommission, C‑402/05 P und C‑415/05 P, EU:C:2008:461, Rn. 291, und vom 21. Dezember 2011, Air Transport Association of America u. a., C‑366/10, EU:C:2011:864, Rn. 101 und 123).“


59      Gemäß Art. 31 Abs. 1 WÜRV ist „[e]in Vertrag … nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Zieles und Zweckes auszulegen“. Art. 32 WÜRV nennt als ergänzende Auslegungsmittel konkret die vorbereitenden Arbeiten und die Umstände des Vertragsabschlusses.


60      Im Urteil vom 15. September 2011, Kommission/Slowakei (C‑264/09, EU:C:2011:580, Rn. 41), heißt es: „Nach ständiger Rechtsprechung bezweckt Art. 307 Abs. 1 EG, gemäß den Grundsätzen des Völkerrechts, wie sie sich insbesondere aus Art. 30 Abs. 4 Buchst. b des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969 ergeben, klarzustellen, dass die Anwendung des EG-Vertrags nicht die Pflicht des betreffenden Mitgliedstaats berührt, die Rechte von Drittländern aus einer älteren Übereinkunft zu wahren und seine entsprechenden Verpflichtungen zu erfüllen.“ Vgl. auch Urteil vom 14. Oktober 1980, Burgoa (812/79, EU:C:1980:231, Rn. 8).


61      Urteile vom 25. Februar 2010, Brita (C‑386/08, EU:C:2010:91, Rn. 43), vom 3. September 2008, Kadi und Al Barakaat International Foundation/Rat und Kommission (C‑402/05 P und C‑415/05 P, EU:C:2008:461, Rn. 291), vom 24. November 2016, SECIL (C‑464/14, EU:C:2016:896, Rn. 94), vom 21. Dezember 2016, Rat/Front Polisario (C‑104/16 P, EU:C:2016:973, Rn. 86), und vom 27. Februar 2018, Western Sahara Campaign UK (C‑266/16, EU:C:2018:118, Rn. 58). Im Urteil vom 11. Juli 2018, Bosphorus Queen Shipping (C‑15/17, EU:C:2018:557, Rn. 67), heißt es: „Zur Auslegung der Bestimmungen des Übereinkommens von Montego Bay sind die in Art. 31 des Wiener Übereinkommens wiedergegebenen Regeln des Völkergewohnheitsrechts heranzuziehen, die die Unionsorgane binden und Bestandteil der Rechtsordnung der Union sind … Aus ihnen ergibt sich, dass ein Vertrag nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Licht seines Ziels und Zwecks auszulegen ist.“


62      Urteil vom 12. September 2017, Österreich/Deutschland (C‑648/15, EU:C:2017:664, Rn. 39).


63      Dies ergibt sich aus den Vorarbeiten des Europäischen Konvents, die dem Wortlaut des Art. 50 EUV zugrunde liegen. Vgl. das Dokument CONV 648/03, Titel X: Die Zugehörigkeit zur Union, 2. April 2003, Anhang II, S. 9, http://european-convention.europa.eu/pdf/reg/de/03/cv00/cv00648.de03.pdf, in dem ausgeführt wird: „Diese Regelung ist in den geltenden Verträgen nicht enthalten. Sie betrifft das Verfahren für den Fall, dass ein Mitgliedstaat aus der Europäischen Union auszutreten wünscht. Dieses Verfahren ist zum Teil den entsprechenden Bestimmungen des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge nachempfunden“ (Hervorhebung nur hier).


64      Anderer Ansicht: Odermatt, J., „Brexit and International law: disentangling legal orders“, Emory International Law Review, Bd. 31, 2017, S. 1065.


65      Urteil vom 19. September 2018, RO (C‑327/18 PPU, EU:C:2018:733, Rn. 46).


66      Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind bei der Auslegung einer Unionsvorschrift nicht nur ihr Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (Urteile vom 25. Januar 2017, Vilkas, C‑640/15, EU:C:2017:39, Rn. 30, und vom 16. November 2016, Hemming u. a., C‑316/15, EU:C:2016:879, Rn. 27).


67      „Ubi lex voluit dixit, ubi noluit tacuit“ (Wo das Gesetz etwas regeln wollte, tat es dies; wo es das nicht wollte, schwieg es).


68      Die Kommission führt aus, dass „das Recht auf Austritt aus der Union ein einseitiges Recht eines jeden Mitgliedstaats ist“ (schriftliche Erklärungen, Rn. 17).


69      Deshalb wurde ausgeführt, dass das Austrittsrecht des Art. 50 EUV einseitig und unbedingt sei, wenn auch nicht unmittelbar. Vgl. Closa Montero, C., „Interpreting Article 50: exit and voice and what about loyalty?“, EUI Working Paper RSCAS 2016/71, S. 12 bis 16, und Mariani, P., Lasciare l’Unione Europea. Riflessioni giuridiche sul recesso nei giorni di Brexit, Egea, Mailand, 2018, S. 94 bis 101.


70      Allenfalls würde der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit den austretenden Staat dazu verpflichten, Verhandlungen mit der Union aufzunehmen, um die Bedingungen des Austritts auszuhandeln, aber im Sinne einer Verhaltenspflicht und nicht einer Erfolgspflicht.


71      Edward, D., Jacobs, F., Lever, J., Mountfield, H., und Facenna, G., a. a. O. (Fn. 32), S. 18 und 19.


72      In diesem Sinne Craig, P., a. a. O. (Fn. 32), S. 464, sowie Eeckhout, P., und Frantziou, E., a. a. O. (Fn. 32), S. 712 und 713.


73      Das Argument, dass nach erfolgter Mitteilung der Austrittsabsicht an den Europäischen Rat das Verfahren beginne und es unter keinen Umständen ein Zurück gebe, und daher jede Änderung des anfänglichen Beschlusses des Staats gemäß seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften unbeachtlich sei und die Durchführung des Austrittsverfahrens nicht aufhalten könne, mit der Folge, dass eine Rücknahme der Mitteilung nicht möglich sei (Gatti, M., a. a. O. [Fn. 32]), überzeugt mich nicht.


74      Nrn. 68 bis 70 dieser Schlussanträge.


75      Es wurde nur die Möglichkeit akzeptiert, einige Rechte der Mitgliedstaaten in den Fällen auszusetzen, die der jetzige Art. 7 EUV regelt. Vgl. http://european-convention.europa.eu/docs/Treaty/pdf/46/global46.pdf, S. 5.


76      Derrick Wyatt, QC, stuft diese Möglichkeit in „The Process of Withdrawing from the European Union“, House of Lords European Committee, 11th Report of Session 2015-16, Mai 2016, Nr. 10, als inkongruent ein (Dokument abrufbar unter http://www.publications.parliament.uk/pa/ld201516/ldselect/ldeucom/138/138.pdf).


77      Urteil vom 19. September 2018, RO (C‑327/18 PPU, EU:C:2018:733, Rn. 46).


78      Vgl. neben anderen die in Fn. 32 angeführten Autoren.


79      Zum Beispiel Art. II Abs. 6 der Verfassung der Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft und Kultur.


80      Closa Montero, C., a. a. O. (Fn. 69), S. 15.


81      Der Mitgliedstaat nimmt nicht mehr an den seinen Austritt betreffenden Beratungen und der Beschlussfassung im Europäischen Rat und im Rat teil (für die Tagungen und Beschlüsse des Europäischen Rates, des Rates, des COREPER und der Brexit-Arbeitsgruppen ist ein Format „Artikel 50“ eingerichtet worden). Desgleichen bedarf es der Verhandlungsrichtlinien des Europäischen Rates und der Beschlüsse des Rates für die Verhandlungen mit dem austretenden Mitgliedstaat.


82      Vgl. die Verordnung (EU) 2018/1718 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. November 2018 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 726/2004 in Bezug auf den Sitz der Europäischen Arzneimittel-Agentur (ABl. 2018, L 291, S. 3) und die Verordnung (EU) 2018/1717 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. November 2018 zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 1093/2010 in Bezug auf den Sitz der Europäischen Bankenaufsichtsbehörde (ABl. 2018, L 291, S. 1).


      Mit dem Beschluss (GASP) 2018/1083 des Rates vom 30. Juli 2018 zur Änderung der Gemeinsamen Aktion 2008/851/GASP über die Militäroperation der Europäischen Union als Beitrag zur Abschreckung, Verhütung und Bekämpfung von seeräuberischen Handlungen und bewaffneten Raubüberfällen vor der Küste Somalias (ABl. 2018, L 194, S. 142) wurde ebenfalls die Verlegung des Hauptquartiers für diese EU-Operation von Northwood (Vereinigtes Königreich) nach Rota (Spanien) vorgesehen, mit Ausnahme des Maritimen Sicherheitszentrums am Horn von Afrika, das sich in Brest (Frankreich) befinden wird.


83      Dasselbe lässt sich vom Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Aufteilung der Zollkontingente in der WTO-Liste der Union nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Union und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 32/2000 des Rates im Dokument COM(2018) 312 final vom 22. Mai 2018 sagen.


84      In der Geschichte der Europäischen Union gab es (einseitige) Änderungen der Betrachtungsweise von Mitgliedstaaten in Bezug auf den Integrationsprozess. Gute Belege dafür sind die dänischen Referenden über die Ratifizierung des Vertrags von Maastricht und die irischen Referenden über die Ratifizierung des Vertrags von Nizza und des Vertrags von Lissabon.


85      Sari, A., a. a. O. (Fn. 32), S. 472.


86      Ich erinnere daran, dass gemäß Art. 32 WÜRV die Vorarbeiten zum Vertrag und die Umstände seines Abschlusses ein ergänzendes Mittel zur Vertragsauslegung sind.


87      Vgl. das Dokument CONV 648/03, Titel X: Die Zugehörigkeit zur Union, 2. April 2003, Anhang II, S. 9, http://european-convention.europa.eu/pdf/reg/de/03/cv00/cv00648.de03.pdf, in dem es heißt: „Diese Regelung ist in den geltenden Verträgen nicht enthalten. Sie betrifft das Verfahren für den Fall, dass ein Mitgliedstaat aus der Europäischen Union auszutreten wünscht. Dieses Verfahren ist zum Teil den entsprechenden Bestimmungen des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge nachempfunden.


      Der Konvent wird auf drei Aspekte aufmerksam gemacht:


      – Obwohl es wünschenswert ist, dass zwischen der Europäischen Union und dem austretenden Staat über den Austritt sowie über ihre künftigen Beziehungen ein Abkommen geschlossen wird, erscheint es nicht angebracht, dies zur Bedingung für den Austritt zu machen, um das Konzept des freiwilligen Austritts nicht auszuhöhlen …“


88      Dokument CONV 672/03 vom 14. April 2003, Übersicht über die Änderungsvorschläge betreffend die Zugehörigkeit zur Europäischen Union: Entwürfe für die Artikel von Titel X des Teils I (Artikel 43 bis 46), http://european-convention.europa.eu/pdf/reg/de/03/cv00/cv00672.de03.pdf.


89      Im Fall des Vereinigten Königsreichs würde, da die Mitteilung der Austrittsabsicht mit einem Schreiben der britischen Premierministerin erfolgt ist, für die Mitteilung der Rücknahme an den Europäischen Rat ein ähnliches Dokument ausreichen.


90      Siehe oben, Fn. 5.


91      Benrath, D., „Bona fide and revocation of withdrawal: how Article 50 TEU handles the potential abuse of a unilateral revocation of withdrawal“, European Law Review, 2018, Nr. 2, S. 243 bis 245.


92      Aufgrund des in Art. 4 Abs. 3 Unterabs. 1 EUV niedergelegten Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit achten und unterstützen sich die Union und die Mitgliedstaaten gegenseitig bei der Erfüllung der Aufgaben, die sich aus den Verträgen ergeben (Urteile vom 6. September 2016, Petruhhin, C‑182/15, EU:C:2016:630, Rn. 42, und vom 25. Juli 2018, Generalstaatsanwaltschaft [Haftbedingungen in Ungarn], C‑220/18 PPU, EU:C:2018:589, Rn. 109). Der Gerichtshof hat entschieden, dass „[d]ieser Grundsatz … es einem Mitgliedstaat … nicht [erlaubt], die ihm durch das Unionsrecht auferlegten Verpflichtungen zu umgehen“ (Urteil vom 18. Oktober 2016, Nikiforidis, C‑135/15, EU:C:2016:774, Rn. 54).


93      Vgl., statt aller, Urteil vom 22. November 2017, Cussens u. a. (C‑251/16, EU:C:2017:881, Rn. 27).


94      In der Literatur wird die einvernehmliche Rücknahme der Mitteilung der Austrittsabsicht im Allgemeinen für zulässig erachtet, wenn zwischen dem mitteilenden Staat und den übrigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union Einigkeit besteht. Vgl., statt aller, Edward, D., Jacobs, F., Lever, J., Mountfield, H., und Facenna, G., a. a. O. (Fn. 32), S. 19.