Abteilung Presse und Information

PRESSEMITTEILUNG NR. 6/2000

10. Februar 2000

Urteil des Gerichtshofes in der Rechtssache C-340/97

Nazli / Stadt Nürnberg

EIN MITGLIEDSTAAT KANN EINEN TÜRKISCHEN ARBEITNEHMER, DER STRAFRECHTLICH VERURTEILT WURDE, NICHT AUTOMATISCH AUSWEISEN


Ein Beschluß des durch das Assoziierungsabkommen EG/Türkei errichteten Assoziationsrates gewährt einem türkischen Arbeitnehmer, der nicht wegen seiner Untersuchungshaft und seiner Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe auf Bewährung aufgehört hat, dem regulären Arbeitsmarkt anzugehören, unter bestimmten Voraussetzungen einen Anspruch auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis.

Dem Kläger, einem türkischen Staatsangehörigen, wurde 1978 die Einreise nach Deutschland gestattet. Von 1979 bis 1989 übte er dort bei demselben Arbeitgeber eine unselbständige Erwerbstätigkeit aus, für die er eine Arbeits- und eine Aufenthaltserlaubnis hatte. Seit 1989 ist er im Besitz einer unbefristeten und unbeschränkten Arbeitserlaubnis.

Weil er in Deutschland in Handelsgeschäfte mit Betäubungsmitteln verwickelt war, wurde der Kläger von Dezember 1992 bis Januar 1994 in Untersuchungshaft gehalten.

1994 wurde der Kläger wegen Beihilfe zum vorsätzlichen Handeltreiben mit Betäubungsmitteln (Heroin, Handelsmenge 1 500 g) zu einer Freiheitsstrafe auf Bewährung (ein Jahr und neun Monate) verurteilt. Nach Beendigung seiner Untersuchungshaft stand der Kläger wieder in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis in Deutschland.

Der Kläger beantragte daraufhin die Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis. Dieser Antrag wurde von der Stadt Nürnberg abgelehnt, die die Ausweisung des Klägers aufgrund des deutschen Ausländergesetzes verfügte.

Der Kläger hat diese Entscheidung vor dem Bayerischen Verwaltungsgericht Ansbach angefochten.

Das Gericht stellt dem Gerichtshof die Frage nach der Vereinbarkeit der von den deutschen Behörden getroffenen Maßnahmen (Ablehnung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis und Ausweisung) mit einem Beschluß, den der durch das Assoziierungsabkommen zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei errichtete Assoziationsrat erlassen hat.

Der Gerichtshof stellt zunächst fest, daß ein türkischer Staatsangehöriger, der länger als vier Jahre ununterbrochen eine ordnungsgemäße Beschäftigung in einem Mitgliedstaat ausgeübt habe, dann länger als ein Jahr in Untersuchungshaft gehalten und anschließend zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden sei, deren Vollstreckung insgesamt zur Bewährung ausgesetzt worden sei, nicht deshalb (wegen der fehlenden Ausübung einer Beschäftigung während seiner Untersuchungshaft) aufgehört habe, dem regulären Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats anzugehören, wenn er innerhalb eines angemessenen Zeitraums nach seiner Haftentlassung wieder eine Beschäftigung finde.

Unter diesen Umständen habe der betroffene türkische Staatsangehörige Anspruch auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis, um weiterhin sein Recht auf freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis ausüben zu können, das ihm durch den Beschluß des Assoziationsrates gewährt worden sei. Die Strafaussetzung zur Bewährung solle die schnelle Wiedereingliederung des Verurteilten ermöglichen. Insofern wäre es widersprüchlich, ihn unter Berufung auf diese Verurteilung vom Arbeitsmarkt auszuschließen.

Der Gerichtshof prüft ferner, ob die von den deutschen Behörden geltend gemachte Ausnahme der öffentlichen Ordnung, die nach dem Beschluß des Assoziationsrates gegebenenfalls die Ausweisung eines türkischen Arbeitnehmers begründen kann, im vorliegenden Fall anwendbar ist.

Der Gerichtshof verweist auf die entsprechende Anwendbarkeit der Grundsätze, die im Rahmen der Freizügigkeit der Arbeitnehmer gelten, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen. Ohne die Störung der öffentlichen Ordnung, die die Verwendung von Betäubungsmitteln darstellt, zu bagatellisieren, leitet der Gerichtshof aus diesen Grundsätzen ab, daß die mit einer strafrechtlichen Verurteilung des Betroffenen begründete Ausweisung eines türkischen Staatsangehörigen, der ein durch den Beschluß des Assoziationsrates gewährtes Recht innehabe, nur gerechtfertigt sein könne, wenn das persönliche Verhalten des Täters geeignet sei, die öffentliche Ordnung erneut zu gefährden.

Demgegenüber stehe das Gemeinschaftsrecht der Ausweisung eines solchen türkischen Staatsangehörigen entgegen, die ausschließlich auf generalpräventive Gründe (Abschreckung anderer Ausländer) gestützt werde oder automatisch aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung verfügt werde.

Zur Verwendung durch die Medien bestimmtes nichtamtliches Dokument, das den Gerichtshof nicht bindet. Dieses Dokument liegt in englischer, französischer und deutscher Sprache vor.

Wegen des vollständigen Wortlauts des Urteils konsultieren Sie bitte heute ab ungefähr 15.00 Uhr unsere Homepage im Internet www.curia.eu.int

Für weitere Auskünfte wenden Sie sich bitte an Frau Dr. Ulrike Städtler, Tel.: (0 03 52) 43 03 - 32 55; Fax: (0 03 52) 43 03 - 27 34.