Abteilung Presse und Information

PRESSEMITTEILUNG NR. 8/2000

10. Februar 2000

Urteile des Gerichtshofes in den Rechtssachen

1) C-50/96 Lilli Schröder / Deutsche Telekom AG, zuvor Deutsche Bundespost Telekom
2) C-234/96 und C-235/96 Agnes Vick und Ute Conze / Deutsche Telekom AG
3) C-270/97 und C-271/97 Deutsche Post / Elisabeth Sievers und Brunhilde Schrage

Teilzeitbeschäftigte Frauen bei der Deutschen Bundespost haben Anspruch auf unbefristeten rückwirkenden Anschluß an das betriebliche Altersrentensystem für jene Beschäftigungszeiten, während denen sie ursprünglich tarifvertraglich ausgeschlossen waren.


Das Gemeinschaftsrecht, das insoweit nur einen befristeten rückwirkenden Anschluß vorschreibt, steht der Anwendung einer günstigeren nationalen Regelung bzgl. des Gleichberechtigungsgrundsatzes nicht entgegen.

1. Zum Tarifvertrag über die Versorgung der Arbeitnehmer der Deutschen Bundespost

Nach § 24 des Tarifvertrags für Arbeiter der Deutschen Bundespost sind Arbeiter bei der Versorgungsanstalt der Deutschen Bundespost (VAP) nach Maßgabe des Tarifvertrags über die Versorgung der Arbeitnehmer der Deutschen Bundespost (im folgenden: Versorgungstarifvertrag) in seiner jeweils geltenden Fassung zu versichern.

Bis zum 31. Dezember 1987 bestimmte § 3 des Versorgungstarifvertrags: «Der Arbeitnehmer ist bei der VAP nach Maßgabe der Satzung und ihrer Ausführungsbestimmungen zu versichern, wenn ... seine arbeitsvertraglich vereinbarte durchschnittliche Wochenarbeitszeit mindestens die Hälfte der jeweils geltenden regelmäßigen Wochenarbeitszeit eines entsprechenden vollbeschäftigten Arbeitnehmers beträgt ...».

§ 3 wurde mit Wirkung vom 1. Januar 1988 wie folgt geändert: «Der Arbeitnehmer ist bei der VAP nach Maßgabe der Satzung und ihrer Ausführungsbestimmungen zu versichern, wenn ... seine arbeitsvertraglich vereinbarte durchschnittliche Wochenarbeitszeit mindestens 18 Stunden beträgt».

Durch Tarifvertrag vom 22. September 1992 wurde § 3 des Versorgungstarifvertrags rückwirkend zum 1. April 1991 erneut geändert und lautet nun folgendermaßen: «Der Arbeitnehmer ist bei der VAP nach Maßgabe der Satzung und ihrer Ausführungsbestimmungen zu versichern, wenn ... er in einem Arbeitsverhältnis steht, in dem er nicht nur im Sinne des § 8 Abs. 1 SGB IV geringfügig beschäftigt ist» (d. h. weniger als wöchentlich 15 Stunden).

2. Drei Problemkonstellationen

a) Zur Rechtssache Schröder (C-50/96)

Frau Schröder war als Teilzeitkraft bei der Beklagten beschäftigt, und zwar zunächst aufgrund von befristeten Verträgen vom 9. August 1974 bis zum 19. Mai 1975 und danach aufgrund eines unbefristeten Vertrages vom 20. Mai 1975 bis zum 31. März 1994, dem Zeitpunkt, zu dem sie in den Ruhestand ging.

Seit dem 1. April 1994 bezieht sie eine gesetzliche Altersrente. Als teilzeitbeschäftigte Arbeitnehmerin war die Klägerin zunächst von der Versicherung bei der VAP ausgeschlossen. Nach der Änderung des § 3 des Versorgungstarifvertrags mit Wirkung vom 1. April 1991 war sie von diesem Zeitpunkt an bis zum Ende ihrer Beschäftigung bei der VAP versichert.

Die Klägerin erhob gegen die Beklagte beim Arbeitsgericht Hamburg Klage auf Zahlung einer zusätzlichen Altersrente ab dem 1. April 1994 in Höhe des Betrages, den sie erhalten hätte, wenn sie während des gesamten Zeitraums vom 20. Mai 1975 bis zum 31. März 1991 bei der VAP versichert gewesen wäre. Sie machte geltend, der Ausschluß teilzeitbeschäftigter Arbeitnehmer vom Anspruch auf eine Zusatzversorgung sei eine nach Artikel 119 (jetzt 141) des EG-Vertrages [gleicher Lohn für gleiche Arbeit bei Männern und Frauen] und Art. 3 des deutschen Grundgesetzes (GG) [Gleichberechtigung von Männern und Frauen] verbotene Diskriminierung aufgrund des Geschlechts. Aus den dem nationalen Gericht vorgelegten Zahlen ergebe sich, daß 1991 95 % der Teilzeitbeschäftigten der Beklagten Frauen gewesen seien.

Mit Urteil vom 22. Dezember 1994 gab das Arbeitsgericht der Klage in vollem Umfang statt. Es führte aus, daß diese Entscheidung nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts bereits aus Artikel 3 Absatz 2 GG folge. Danach besteht in einem solchen Fall Anspruch auf unbefristeten rückwirkenden Anschluß an das betriebliche Altersrentensystem.

Die beklagte Post legte gegen dieses Urteil Berufung beim Landesarbeitsgericht Hamburg ein. Sie stützt sich auf eine Rechtsprechung des Gerichtshofes der EG, wonach im Falle eines betrieblichen Rentensystems ein Anspruch auf Gleichbehandlung hinsichtlich eines Rentenanspruchs - der wegen des für Männer und Frauen ursprünglich unterschiedlich festgesetzten Rentenalters nicht zum selben Zeitpunkt entsteht - erst auf Beschäftigungszeiten ab dem 17. Mai 1990 (=Verkündung des Urteils "Barber") gestützt werden kann, in denen Betriebsrentenansprüche erarbeitet worden sind.

Das Landesarbeitsgericht Hamburg hat das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof der EG Fragen vorgelegt, wobei es von den erwähnten rund 95 % der vom betrieblichen Rentenausschluß betroffenen weiblichen Arbeitnehmern ausgeht.

b) Zur den Rechtssachem Vick (C-234/96) und Conze (C-235/96)

Die Klägerin Vick war als Teilzeitkraft bei der Beklagten beschäftigt, zunächst wöchentlich 24 Stunden vom 1. Juli 1971 bis zum 30. September 1972, dann wöchentlich 16 Stunden vom 1. Oktober 1972 bis zum 30. Juni 1991, dem Zeitpunkt, zu dem sie in den Ruhestand ging. Seit dem 1. Juli 1991 bezieht sie eine

gesetzliche Altersrente. Sie war vom 1. Juli 1971 bis zum 30. September 1972 bei der VAP versichert. Mit Herabsetzung ihrer Wochenarbeitszeit ab dem 1. Oktober 1972 wurde sie bei der VAP abgemeldet und erhielt den von ihr getragenen Anteil der Beiträge zur VAP ausgezahlt.

Die Klägerin Conze war zunächst vom 13. September 1971 bis zum 30. April 1972 mit wöchentlich 24 Stunden und ist seit dem 1. Mai 1972 mit wöchentlich 16 Stunden als Teilzeitkraft bei der Beklagten

beschäftigt. Sie arbeitet nach wie vor für die Beklagte. Sie war vom 13. September 1971 bis zum 30. April 1972 bei der VAP versichert. Mit der Herabsetzung ihrer Arbeitszeit ab dem 1. Mai 1972 wurde sie bei der VAP abgemeldet. Nach der Änderung von § 3 des Versorgungstarifvertrags mit Wirkung vom 1. April 1991 ist sie seit diesem Zeitpunkt wieder bei der VAP versichert.

Die Klägerin Vick erhob gegen die Beklagte beim Arbeitgericht Hamburg Klage auf Zahlung einer zusätzlichen Altersrente ab dem 1. Juli 1991 in Höhe des Betrages, den sie erhalten hätte, wenn sie ab dem 1. Juli 1971 bei der VAP versichert gewesen wäre, nebst Zinsen. Die Klägerin Conze erhob ebenfalls Klage gegen die Beklagte beim Arbeitsgericht Hamburg und begehrte, bei Eintritt des Rentenversicherungsfalles so gestellt zu werden, als sei sie vom 1. Januar 1983 bis zum 31. März 1991 bei der VAP versichert gewesen. Beide

machten geltend, daß der Ausschluß der Beschäftigten mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von weniger als 18 Stunden vom Anspruch auf eine Zusatzversorgung eine nach Artikel 119 des EG-Vertrages und Artikel 3 GG verbotene Diskriminierung sei.

Gegen die den Klagen stattgebenden Urteile des Arbeitsgerichts Hamburg vom 7.12.1993 und 21.3.1995, die sich auf die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts stützen, hat die Deutsche Telekom AG unter Hinweis auf die "Barber"-Rechtsprechung des Gerichtshofes der EG Berufung zum Landesarbeitsgericht Hamburg eingelegt. Dieses hat die Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof der EG Fragen vorgelegt.

c) Zu den Rechtssachen Sievers (C-270/97) und Schrage (C-271/97)

Die Klägerin Sievers war vom 16. September 1964 bis zum 28. Februar 1988, dem Zeitpunkt, zu dem sie in den Ruhestand ging, als Teilzeitkraft bei der Beklagten beschäftigt. Seit dem 1. März 1988 bezieht sie eine gesetzliche Altersrente. Aufgrund ihrer Wochenarbeitszeit, die nur von 1963 bis 1964 18 Stunden betrug und sonst stets darunter lag, war die Klägerin niemals bei der VAP versichert.

Die Klägerin Schrage war zunächst aufgrund von befristeten Verträgen, unterbrochen durch Perioden der Nichtbeschäftigung, vom 1. April 1960 bis zum 30. September 1980, dann unbefristet vom 1. Oktober 1981 bis zum 32. März 1993, dem Zeitpunkt ihres Eintritts in den Ruhestand, als Teilzeitkraft bei der Beklagten beschäftigt. Seit dem 1. April 1993 bezieht sie eine gesetzliche Altersrente. Aufgrund ihrer Wochenarbeitszeit, die stets zwischen 8 und 13 Stunden lag, war die Klägerin niemals bei der VAP versichert.

Die Klägerin Sievers erhob gegen die Beklagte beim Arbeitsgericht Hannover Klage mit dem Antrag, ihr beginnend mit ihrem Eintritt in den Ruhestand eine zusätzliche Altersrente in Höhe des Betrages zu zahlen, den sie erhalten hätte, wenn sie im gesamten Beschäftigungszeitraum bei der VAP versichert gewesen wäre.

Die Klägerin Schrage erhob gegen die Beklagte beim Arbeitsgericht Hannover eine Klage mit dem

gleichen Ziel. Beide machten geltend, daß der Ausschluß der Beschäftigten mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von weniger als 20 - später weniger als 18 - Stunden vom Anspruch auf eine Zusatzversorgung eine nach Artikel 119 des EG-Vertrages und Artikel 3 GG verbotene Diskriminierung sei.

Mit Urteilen vom 3. Februar 1994 gab das Arbeitsgericht Hannover den Klagen im wesentlichen statt. Die

beklagte Post legte gegen diese Urteile Berufung beim Landesarbeitsgericht Niedersachsen ein. Dieses hat die Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof der EG Fragen vorgelegt.

3. Zu den drei Urteilen des Gerichtshofes der EG

a) Zur Frage der Anwendbarkeit des Art. 119 EG-Vertrag

Was die Frage angeht, ob der Ausschluß teilzeitbeschäftigter Arbeitnehmer von einem Betriebsrentensystem wie der VAP eine nach Artikel 119 des EG-Vertrages verbotene Diskriminierung

darstellt, verweist der Gerichtshof auf seine bisherige Rechtsprechung. Er antwortet, daß der Ausschluß teilzeitbeschäftigter Arbeitnehmer von einem Betriebsrentensystem wie dem im Ausgangsverfahren fraglichen eine nach Artikel 119 des EG-Vertrages verbotene Diskriminierung darstellt, wenn diese Maßnahme einen wesentlich höheren Prozentsatz weiblicher als männlicher Arbeitnehmer trifft und nicht durch sachliche Gründe gerechtfertigt ist, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben. Die Beteiligten der Ausgangsverfahren sind sich einig, daß hier eine verbotene Diskriminierung vorliegt.

b) Zur Frage der zeitlichen Beschränkung des Anschlusses an ein Betriebsrentensystem nach Gemeinschaftsrecht

Hier macht der Gerichtshof deutlich, daß nicht seine erwähnte "Barber"-Rechtsprechung zum unterschiedlichen Rentenalter bei Männern und Frauen im Falle eines Betriebsrententsystems einschlägig ist, sondern seine Rechtsprechung zum Anspruch auf Anschluß an Betriebsrentensysteme. Danach ist auf Lohn- oder Gehaltsperioden abzustellen, die nach dem 8. April 1976 (dem Tag der Verkündung des Urteils

"Defrenne II") liegen. In diesem Urteil hat der Gerichtshof für Recht erklärt, daß sich die Betroffenen auf den in Artikel 119 aufgestellten Grundsatz des gleichen Arbeitsentgelts vor den innerstaatlichen Gerichten berufen können und daß diese verpflichtet sind, die Rechte zu schützen, die diese Bestimmung den Rechtsbürgern verleiht. Der Gerichtshof hat allerdings auch ausgeführt, daß aus zwingenden Erwägungen der Rechtssicherheit, die sich aus der Gesamtheit der beteiligten öffentlichen und privaten Interessen ergeben, auf die unmittelbare Geltung von Artikel 119 keine Ansprüche gestützt können werden, die vor dem Tag der Verkündung des Urteils, dem 8. April 1976, liegende Lohn- oder Gehaltsperioden betreffen, soweit nicht Arbeitnehmer bereits Klage erhoben oder einen entsprechenden Rechtsbehelf eingelegt haben.

Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, daß der Anschluß an ein Betriebsrentensystem für den Arbeitnehmer völlig bedeutungslos wäre, wenn er ihm keinen Anspruch auf Gewährung der Leistungen aufgrund dieses Systems verschaffen würde. Der Gerichtshof hat daher festgestellt, daß der Anspruch auf Zahlung einer Altersrente aufgrund eines Betriebsrentensystems mit dem Anspruch auf Anschluß an dieses System untrennbar verbunden ist. Allerdings kann sich ein Arbeitnehmer, der Anspruch auf den rückwirkenden Anschluß an ein Betriebsrentensystem hat, nicht der Zahlung der Beiträge für den betreffenden Anschlußzeitraum entziehen.

c) Zur Frage der Anwendbarkeit des gegenüber dem Gemeinschaftsrecht günstigeren nationalen Rechts

Der Gerichtshof stellt aber weiter klar, daß den betroffenen Arbeitnehmern durch die Beschränkung der Möglichkeit, sich auf die unmittelbare Wirkung von Artikel 119 des EG-Vertrages zu berufen, keineswegs die Möglichkeit genommen werden sollte, sich auf nationale Vorschriften, wie Art. 3 GG, zu berufen, in denen ein Gleichheitsgrundsatz aufgestellt wird. Das Gemeinschaftsrecht steht somit der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts nicht entgegen, wonach ein Anspruch auf zeitlich unbeschränkt rückwirkenden Anschluß an ein Betriebsrentensystem besteht. Vielmehr entspricht eine solche Auslegung des deutschen Rechts dem - damals noch nicht unmittelbar anwendbaren - Art. 119 EG-Vertrag.

d) Zur Frage einer gemeinschaftsrechtswidrigen Wettbewerbsverzerrung

Die Anwendung des günstigeren deutschen Gleichheitssatzes kann nun dazu führen, daß der Wettbewerb der Wirtschaftsteilnehmer der verschiedenen Mitgliedstaaten zum Nachteil der im deutschen Mitgliedstaat niedergelassenen Arbeitgeber verzerrt wird. Hierzu macht der Gerichtshof jedoch deutlich, daß der wirt-

schaftliche Zweck des Artikels 119 des EG-Vertrages, der darin besteht, Wettbewerbsverzerrungen zwischen den in verschiedenen Mitgliedstaaten niedergelassenen Unternehmen zu beseitigen, gegenüber dem sozialen Ziel dieser Vorschrift der Verwirklichung eines Grundrechts, u. a. im Hinblick auf die Beschäftigungsbedingungen nicht aufgrund des Geschlechts diskriminiert zu werden, nachgeordnete Be-

deutung hat. Daher hat der Umstand, daß eine Berufung auf den Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen gegenüber in anderen Mitgliedstaaten als der Bundesrepublik Deutschland niedergelassenen Arbeitgebern vor der Verkündung des Urteils Defrenne II weder aufgrund einer nationalen Rechtsvorschrift noch aufgrund der unmittelbaren Wirkung von Artikels 119 des EG-Vertrages möglich war, keine Auswirkung auf die Anwendung der nationalen Vorschriften, durch die die Beachtung dieses Grundsatzes in der Bundesrepublik Deutschland gewährleistet wird.

Zur Verwendung durch die Medien bestimmtes nichtamtliches Dokument, das den Gerichtshof nicht bindet. Dieses Dokument liegt in deutscher Sprache vor.

Wegen des vollständigen Wortlauts des Urteils konsultieren Sie bitte heute ab ungefähr 15.00 Uhr unsere Homepage im Internet www.curia.eu.int

Für weitere Auskünfte wenden Sie sich bitte an Frau Dr. Ulrike Städtler, Tel.: (0 03 52) 43 03 - 32 55; Fax: (0 03 52) 43 03 - 27 34.