Abteilung Presse und Information

PRESSEMITTEILUNG NR. 10/2000

24. Februar 2000

Rechtssache C-205/98

Kommission / Republik Österreich

GENERALANWALT SAGGIO SCHLÄGT DEM GERICHTSHOF VOR, FESTZUSTELLEN, DASS DIE AUF DER BRENNERAUTOBAHN ERHOBENEN MAUTGEBÜHREN GEGEN DIE RICHTLINIE ÜBER DEN STRASSENGÜTERVERKEHR VERSTOSSEN


Nach Ansicht des Generalanwalts hat Österreich dadurch, daß es die Mautgebühren für Kraftfahrzeuge mit mehr als drei Achsen auf der Gesamtstrecke der Brennerautobahn erhöht hat, eine mittelbare Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit und des Ausgangs- oder Zielpunktes des Verkehrs bewirkt und die Gebührensätze nicht zu den Kosten des Straßennetzes in Beziehung gesetzt.

Die 34,5 km lange Brennerautobahn (A 13) durchquert Tirol von der Stadt Innsbruck bis zur italienischen Grenze; sie ist Teil eines Autobahnkomplexes mit gemeinschaftsweiter Bedeutung, der Italien mit Deutschland und dem übrigen Nordeuropa verbindet. Sie gehört zu den Liegenschaften des Bundes, und seit 1983 ist ihre Entwicklung einer vom Staat kontrollierten Gesellschaft (ASFINAG) übertragen.

Das angewandte Mautsystem ist ein "halb-offenes", bei dem eine Gesamtstrecke, Teilstrecken und eine Kurzstrecke unterschieden und auf dieser Grundlage im wesentlichen drei Arten von Mautgebühren angewandt werden.

1995 und 1996 wurden Änderungen an den Mauttarifen vorgenommen, die für Kraftfahrzeuge mit mehr als drei Achsen und einem Gesamtgewicht von mindestens 12 Tonnen, die die Gesamtstrecke zurücklegen, gelten.

Obwohl von der österreichischen Regierung über die Tarifmaßnahme ordnungsgemäß in Kenntnis gesetzt, leitete die Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren ein und befaßte später den Gerichtshof mit dem Antrag, festzustellen, daß Österreich wegen der Erhöhung der Mautgebühren für die Gesamtstrecke (mittelbare Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit und des Ausgangs- oder Zielpunktes des Verkehrs) und wegen fehlender Wechselbeziehung zwischen den Mautgebühren und den Kosten für Bau, Betrieb und weiteren Ausbau der Brennerautobahn seinen Verpflichtungen nicht nachgekommen sei.

Die Maut- und die Benutzungsgebühren für Autobahnen (die auf die zurückgelegte Strecke bzw. den Zeitraum der Benutzung der Autobahn abstellen) gehören zu den Gemeinschaftspolitiken Verkehr (wegen ihrer Auswirkung auf den innergemeinschaftlichen Verkehr) und Steuerharmonisierung (wegen ihres parafiskalischen Charakters). Nach der Richtlinie 93/89/EWG dürfen die Mautgebühren weder mittelbar noch unmittelbar zu einer unterschiedlichen Behandlung aufgrund der Staatsangehörigkeit der Verkehrsunternehmer bzw. des Ausgangs- oder Zielpunktes des Verkehrs führen.

Im Jahr 1995 hatte der Gerichtshof die Richtlinie wegen Verletzung wesentlicher Formvorschriften (im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens war das Parlament nicht ein zweites Mal angehört worden, wie es in den Artikeln 75 und 99 EWG-Vertrag vorgesehen war) für nichtig erklärt, ihre Wirkungen jedoch bis zum Erlaß einer neuen Richtlinie durch den Rat aufrechterhalten. Die neue Richtlinie 1999/62/EG hat die für nichtig erklärte Richtlinie ersetzt.

Der Generalanwalt weist zunächst darauf hin, daß die Kommission- auch nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes- eine Vertragsverletzungsklage auf eine für nichtig erklärte Richtlinie, deren Wirkungen durch ein Urteil des Gerichtshofes aufrechterhalten worden seien, stützen könne, damit die praktische Wirksamkeit nicht nur der betreffenden Regelung, sondern auch des Urteils des Gerichtshofes jederzeit gewährleistet sei.

Mittelbare Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit des Verkehrsunternehmers

Die Kommission hat geltend gemacht, Österreich habe mit seiner Tarifmaßnahme eine Ungleichbehandlung aufgrund der Staatsangehörigkeit des Verkehrsunternehmers zum Nachteil der Kraftfahrzeuge mit mehr als drei Achsen, die die Gesamtstrecke der Brennerautobahn zurücklegten, eingeführt, da diese Fahrzeuge überwiegend nicht in Österreich zugelassen worden seien. Es handele sich um eine mittelbare Diskriminierung, weil die österreichische Regelung nicht auf die Staatsangehörigkeit des Verkehrsunternehmers, sondern auf andere Merkmale abstelle, die zum gleichen Ergebnis gelangten.

Zunächst sei davon auszugehen, daß den Verkehrsunternehmern eines bestimmten Mitgliedstaats Kraftfahrzeuge zur Verfügung stünden, die de facto in diesem Mitgliedstaat zugelassen worden seien, woraus eine Vermutung dafür abzuleiten sei, daß zwischen der Staatsangehörigkeit des Verkehrsunternehmers und dem Ort der Zulassung Übereinstimmung bestehe.

Die Mautgebühren für Kraftfahrzeuge mit bis zu drei Achsen, die die Gesamtstrecke befahren, und für Kraftfahrzeuge mit mehr als drei Achsen, die nicht die Gesamtstrecke befahren, sind zum 1. Februar 1996 nämlich nicht heraufgesetzt worden.

Von den Mauterhöhungen sind nur die Kraftfahrzeuge mit mehr als drei Achsen, die die Brennerautobahn im Ganzen zurücklegen, betroffen. 84 % aller Kraftfahrzeuge mit mehr als drei Achsen, die die Gesamtstrecke benutzen, gehören nichtösterreichischen Verkehrsunternehmern.

Die Kommission zieht demgemäß die Kraftfahrzeuge des Schwerlastverkehrs, die für industrielle und gewerbliche Zwecke eingesetzt werden, heran und vergleicht innerhalb dieser Gruppe diejenigen Fahrzeuge mit mehr als drei Achsen, die die Gesamtstrecke zurücklegen (ausländische Fahrzeuge), mit denen, die Teilstrecken zurücklegen (österreichische Fahrzeuge).

Die Maut pro Kilometer ist für die Gesamtstrecke mehr als doppelt so hoch wie für die Teilstrecken. Der Generalanwalt bejaht daher eine mittelbare Diskriminierung der ausländischen Kraftfahrzeuge.

Zur Bestätigung dessen führt die Kommission an, daß das Regionalparlament von Tirol (Tiroler Landtag) mit seiner Entschließung, mit der es die Tarifmaßnahme initiiert habe, eine eindeutig protektionistische Haltung an den Tag gelegt habe, indem es darin ausdrücklich den Schutz der inländischen Verkehrsunternehmer vor den drastischen Mauterhöhungen erwähnt habe.

Mittelbare Diskriminierung aufgrund des Ausgangs- oder Zielpunktes des Verkehrs

Die Richtlinie verbietet außerdem Diskriminierungen von Verkehrsunternehmern aufgrund des Ausgangs- oder des Zielpunktes des Verkehrs, um Vorzugsbehandlungen nach Ortschaften, Gebieten oder ganzen Mitgliedstaaten, die von einer besonderen Verkehrsintensität betroffen oder an besonderen wirtschaftlichen Voraussetzungen interessiert sind, und Wettbewerbsverzerrungen zwischen den Verkehrsunternehmen der Mitgliedstaaten zu verhindern.

Der Vollständigkeit halber ist ferner daran zu erinnern, daß zugunsten Österreichs eine abweichende Gemeinschaftsregelung in bezug auf den internationalen reinen Transitverkehr gilt (Verordnung [EG] Nr. 3298/94).

Nach Ansicht der Kommission besteht eine mittelbare Ungleichbehandlung aufgrund des Ausgangs- oder Zielpunktes des Verkehrsunternehmers, da die Mauterhöhungen nur die Kraftfahrzeuge mit mehr als drei Achsen, die die Gesamtstrecke zurücklegten, beträfen und diese Voraussetzungen vor allem beim Transitverkehr erfüllt seien.

Tatsächlich wurden mehr als 86,8 % der Kraftfahrzeuge mit mehr als drei Achsen, die die Gesamtstrecke benutzten, im Transitverkehr eingesetzt.

Der Generalanwalt vertritt die Auffassung, da für Kraftfahrzeuge mit mehr als drei Achsen, die nur Teilstrecken befahren hätten und nicht für den Transitverkehr bestimmt gewesen seien, eine günstigere Mautregelung als für jene Fahrzeuge gegolten habe, die die Gesamtstrecke zurückgelegt hätten und im Transitverkehr eingesetzt worden seien, liege eine mittelbare Ungleichbehandlung aufgrund des Ausgangs- oder Zielpunktes des Verkehrs vor.

Fehlen einer Wechselbeziehung zwischen den Mautsätzen und den Kosten des Straßennetzes

Nach Ansicht der Kommission muß die Wechselbeziehung zwischen Mautsätzen und Kosten des Straßennetzes auf jeden einzelnen Autobahnabschnitt (und nicht, wie Österreich meint, auf das gesamte Straßennetz, das im Rahmen desselben Finanzierungssystems betrieben wird) bezogen werden.

Nach Auffassung des Generalanwalts stellt die Brennerautobahn eine Gesamtheit von Autobahnbrücken, -tunneln und -bergpässen dar, bei der die Höhe der Mautgebühren den Kosten für Bau, Betrieb und weiteren Ausbau dieser Bauwerke Rechnung tragen müsse. Daher dürfe bei der Wechselbeziehung zwischen Mautgebühren und Kosten nur auf die Brennerautobahn (und nicht auf das gesamte österreichische Autobahnnetz) abgestellt werden.

Zugleich stellten nach der der Richtlinie zugrunde liegenden Konzeption der Angemessenheit und des moderaten Charakters der Autobahngebühren die Kosten des Straßennetzes eine Obergrenze für Mauterhöhungen dar.

Eine Gegenüberstellung des vorausgeschätzten Kostenumfangs mit dem vermuteten Mautaufkommen mache deutlich, daß die Summe der Mautgebühren die der Kosten um 153 % übersteige, und beweise, daß die von der Richtlinie gewünschte Wechselbeziehung nicht bestehe.

NB: Die Schlußanträge des Generalanwalts sind für den Gerichtshof nicht bindend. Der Generalanwalt hat die Aufgabe, dem Gerichtshof in völliger Unabhängigkeit eine rechtliche Lösung für die betreffende Rechtssache vorzuschlagen.

Zur Verwendung durch die Medien bestimmtes nichtamtliches Dokument, das den Gerichtshof nicht bindet. Dieses Dokument liegt in deutscher, französischer, italienischer und englischer Sprache vor.

Wegen des vollständigen Wortlauts der Schlußanträge, die in deutsch, italienisch und französisch verfügbar sind, konsultieren Sie bitte heute ab ungefähr 15.00 Uhr unsere Homepage im Internet www.curia.eu.int.

Für weitere Auskünfte wenden Sie sich bitte an Frau Dr. Ulrike Städtler, Tel.: (0 03 52) 43 03 - 32 55; Fax: (0 03 52) 43 03 - 27 34.