Nach Ansicht des Generalanwalts ist die erhebliche Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts der Krankenpflichtversicherung in den Niederlanden, die ihren Versicherten nur Sachleistungen gewährt, ein zwingender Grund, der diese Einschränkung der freien Gewährung ärztlicher und klinischer Versorgung innerhalb der Union rechtfertigt. Im übrigen ist Generalanwalt Ruiz-Jarabo der Meinung, daß die ärztliche und klinische Versorgung im Rahmen eines in Sachleistungen bestehenden Systems der sozialen Sicherheit wegen des Fehlens eines Entgelts keine Dienstleistung darstellt und deshalb nicht in den Anwendungsbereich des EG-Vertrages fällt.
Frau Geraets-Smits, eine niederländische Staatsangehörige, die an der Parkinsonschen Krankheit leidet, begab sich zur medizinischen Behandlung in eine deutsche Klinik, ohne die vorherige Zustimmung ihrer Krankenkasse einzuholen. Nach ihrer Rückkehr in die Niederlande beantragte sie die Erstattung der ihr in Deutschland entstandenen Kosten; dies wurde von ihrer Krankenkasse mit der Begründung abgelehnt, daß es im Inland die nötigen Mittel für eine angemessene Behandlung dieser Krankheit gebe und daß ihre Behandlung in Deutschland ihr keinen zusätzlichen Nutzen gebracht habe.
Herr Peerbooms, der ebenfalls niederländischer Staatsangehöriger ist, fiel infolge eines Verkehrsunfalls in ein Koma. Er wurde ohne vorherige Zustimmung seiner Krankenkasse in eine österreichische Klinik verlegt und dort mit einer speziellen Intensivtherapie behandelt, durch die sich sein Befinden besserte. Diese Therapie wird versuchsweise auch in zwei niederländischen Krankenhäusern angewandt, aber Herr Peerbooms erfüllte deren Aufnahmevoraussetzungen nicht, da er das zulässige Höchstalter von 25 Jahren überschritt. Seine Krankenkasse lehnte die Erstattung der ihm entstandenen Kosten ab, weil die in Österreich bei Komapatienten angewandte Therapie nicht wirkungsvoller sei als die in den Niederlanden verfügbaren Behandlungsmethoden.
Nach den niederländischen Rechtsvorschriften über die Krankenpflichtversicherung dürfen Versicherte nur dann Ärzte oder Krankenhäuser im In- oder Ausland, mit denen ihre Krankenkasse keinen Vertrag geschlossen hat, in Anspruch nehmen, wenn sie zuvor die Zustimmung der Krankenkasse eingeholt haben.
Das niederländische Gericht, das mit den Rechtsstreitigkeiten befaßt ist, die Frau Geraets-Smits und Herr Peerbooms mit ihren Krankenkassen führen, fragt den Gerichtshof, ob der Grundsatz des freien Dienstleistungsverkehrs innerhalb der Gemeinschaft der Anwendung derartiger Rechtsvorschriften entgegensteht.
Generalanwalt Ruiz-Jarabo prüft in seinen Schlußanträgen zunächst die Einstufung der fraglichen Gesundheitsfürsorge. Seines Erachtens muß geklärt werden, ob die ärztliche Versorgung und Gesundheitsfürsorge, die von der niederländischen Krankenpflichtversicherung gewährt wird, zum freien Dienstleistungsverkehr gehört. Die ärztliche Versorgung und Gesundheitsfürsorge, auf die die Versicherten Anspruch hätten, bestehe in allen Fällen ausschließlich aus Sachleistungen. Die Versicherten würden von den Ärzten und Krankenhäusern, mit denen die Krankenkassen zu diesem Zweck Verträge geschlossen hätten, kostenlos behandelt: Sie brauchten nichts zu zahlen und hätten auch keinen Erstattungsanspruch. Aber auch die Kassen bezahlten die Ärzte und Krankenhäuser nicht nach medizinischen Leistungen, sondern ihr wirtschaftlicher Beitrag bestehe in der Zahlung eines Pauschbetrags für jeden in der Kartei geführten Patienten oder in der Zahlung eines Beihilfesatzes pro Tag des Krankenhausaufenthalts, der dessen tatsächliche Kosten nicht widerspiegele.
Aus diesen Gründen fehlt den unter den geschilderten Umständen erbrachten Sachleistungen nach Ansicht des Generalanwalts das Element des Entgelts, so daß sie nicht als Dienstleistungen im Sinne des EG-Vertrages angesehen werden können.
Generalanwalt Ruiz-Jarabo setzt seine Prüfung der vorgelegten Fragen gleichwohl für den Fall fort, daß der Gerichtshof diesen Standpunkt nicht teilen sollte.
Er prüft dabei, ob die niederländische Regelung den freien Dienstleistungsverkehr einschränkt.
Nach dieser Regelung müssen die Krankenkassen ihren Versicherten, die sich zur Gesundheitsfürsorge ins Ausland begeben wollen, nur dann die Zustimmung dazu erteilen,
Bei diesen Voraussetzungen handelt es sich nach Ansicht des Generalanwalts um eine Einschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs. Es müsse deshalb geklärt werden, ob diese Einschränkung in gemeinschaftsrechtlicher Hinsicht gerechtfertigt sei.
Generalanwalt Ruiz-Jarabo setzt sich mit den zwingenden Gründen des Allgemeininteresses auseinander, auf die sich die Krankenkassen berufen haben und die von den elf Mitgliedstaaten der Europäischen Union und den zwei Staaten des Europäischen Wirtschaftsraums vorgetragen wurden, die im Verfahren schriftliche Erklärungen abgegeben haben.1 Diese Staaten machen geltend, daß das Erfordernis der Einholung einer Zustimmung vor der Inanspruchnahme von Maßnahmen der Gesundheitsfürsorge durch nicht vertragsgebundene Einrichtungen es ermögliche, die Krankheitskosten unter Kontrolle zu halten und in jedem Staat die gesundheitspolitischen Prioritäten mit den verfügbaren Mitteln in Einklang zu bringen. Es gehe jedenfalls darum, das finanzielle Gleichgewicht der Krankenpflichtversicherung zu wahren, eine ausgewogene und allen Versicherten in gleicher Weise zugängliche ärztliche und klinische Versorgung zu garantieren und im Inland die nötige Pflegekapazität und das erforderliche Niveau der Heilkunde sicherzustellen.
Aus diesen Gründen sieht der Generalanwalt das Erfordernis der vorherigen Zustimmung als gerechtfertigt an und hält die damit verbundene Einschränkung für ein erforderliches und verhältnismäßiges Mittel, um das finanzielle Gleichgewicht des Systems zu wahren.
Zur Verwendung durch die Medien bestimmtes nichtamtliches Dokument, das den Gerichtshof nicht bindet. Dieses Dokument liegt in deutscher, englischer, französischer und spanischer Sprache vor.
Der vollständige Wortlaut der Schlußanträge wird in spanisch, französisch und niederländisch heute ab etwa 15.00 Uhr auf der Homepage des Gerichthofes im Internet www.curia.eu.int verfügbar sein.
Mit Fragen wenden Sie sich bitte an Frau Dr. Ulrike Städtler, Tel.: (00352) 4303-3255, Fax: (00352) 4303-2734.
1 Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Irland, Niederlande, Österreich, Portugal, Finnland, Schweden, Vereinigtes Königreich sowie Island und Norwegen