Abteilung Presse und Information

PRESSEMITTEILUNG NR. 63/2000

19. September 2000

Urteil des Gerichtshofes in der Rechtssache C-156/98

Deutschland / Kommission

DIE STEUERVERGÜNSTIGUNG ZUR FÖRDERUNG VON INVESTITIONEN IN DEN NEUEN BUNDESLÄNDERN UND WESTBERLIN IST EINE STAATLICHE BEIHILFE, DIE MIT DEM GEMEINSAMEN MARKT UNVEREINBAR IST


Der Gerichtshof bestätigt die Entscheidung der Kommission

Nach dem deutschen Einkommensteuergesetz (EStG) können natürliche Personen, die ihren Wohnsitz oder ständigen Aufenthalt in Deutschland haben, und juristische Personen mit Sitz in Deutschland den Abzug eines bei der Veräußerung von Gesellschaftsanteilen erzielten Gewinns u. a. beim Erwerb neuer Anteile an Kapitalgesellschaften geltend machen.

Durch das Jahressteuergesetz 1996 wurde diese Abzugsmöglichkeit für die Jahre 1996, 1997 und 1998 dergestalt erweitert, dass Gewinne zu 100 % abzugsfähig sind, wenn der Neuerwerb im Zusammenhang mit einer Kapitalerhöhung oder der Neugründung von Kapitalgesellschaften erfolgt, die ihren Sitz und ihre Geschäftsleitung in den neuen Bundesländern oder Westberlin haben und nicht mehr als 250 Arbeitnehmer beschäftigen.

Mit Entscheidung vom 21. Januar 1998 stellte die Kommission fest, dass diese Steuervergünstigung eine mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbare staatliche Beihilfe darstelle und dass Deutschland die Rückzahlung der rechtswidrig gewährten Beihilfen sicherzustellen habe.

Deutschland hat beim Gerichtshof auf Nichtigerklärung dieser Entscheidung der Kommission geklagt.

Der Gerichtshof hat diese Klage heute abgewiesen.

Der Gerichtshof weist zunächst darauf hin, dass die gewährte Steuervergünstigung in der angefochtenen Entscheidung nur insoweit als staatliche Beihilfe qualifiziert werde, als sie durch die von ihr geförderten Investitionen zur Begünstigung bestimmter, in den neuen Bundesländern und Westberlin ansässiger Unternehmen beitrage, was ihr den Charakter einer allgemeinen steuer- oder wirtschaftspolitischen Maßnahme nehme.

Als Beihilfe gälten namentlich Maßnahmen, die in verschiedener Form die Belastungen verminderten, die ein Unternehmen normalerweise zu tragen habe, und die somit zwar keine Subventionen im strengen Sinne des Wortes darstellten, diesen aber nach Art und Wirkung gleichstünden. Der Vorteil, der den Unternehmen mittelbar gewährt werde, bestehe im Verzicht des Mitgliedstaats auf die Steuereinnahmen, die er normalerweise erzielt hätte, da durch diesen Verzicht die Investoren die Möglichkeit erhalten hätten, Beteiligungen an diesen Unternehmen zu steuerlich günstigeren Bedingungen zu erwerben. Die Kommission sei zu Recht davon ausgegangen, dass mit der Steuervergünstigung ein Zufluss staatlicher Mittel verbunden sei.

Was die Gefahr einer Wettbewerbsverzerrung angehe, habe die deutsche Regierung nicht nachgewiesen, dass die Einschätzung der Kommission, wonach die deutschen Rechtsvorschriften tatsächlich eine Entlastung der betreffenden Unternehmen von bestimmten Finanzierungskosten bewirkten, falsch sei. Betriebsbeihilfen, die ein Unternehmen von den Kosten befreien sollten, die es normalerweise im Rahmen seiner laufenden Geschäftsführung oder seiner üblichen Tätigkeit zu tragen gehabt hätte, verfälschten aber grundsätzlich die Wettbewerbsbedingungen.

Was die Wirkungen auf den Handel zwischen Mitgliedstaaten betreffe, schließe nach ständiger Rechtsprechung weder der verhältnismäßig geringe Umfang einer Beihilfe noch die verhältnismäßig geringe Größe des begünstigten Unternehmens von vornherein die Möglichkeit einer Beeinträchtigung des Handels zwischen Mitgliedstaaten aus.

Die deutsche Regierung hatte geltend gemacht, selbst wenn die Regelung des EStG eine staatliche Beihilfe darstelle, falle diese Bestimmung doch in den Anwendungsbereich der im EG-Vertrag vorgesehenen Ausnahme, wonach «[m]it dem Gemeinsamen Markt vereinbar sind: ... Beihilfen für die Wirtschaft bestimmter, durch die Teilung Deutschlands betroffener Gebiete der Bundesrepublik Deutschland, soweit sie zum Ausgleich der durch die Teilung verursachten wirtschaftlichen Nachteile erforderlich sind». Das EStG erfülle diese Voraussetzungen, da diese Bestimmung zum Ausgleich der wirtschaftlichen Nachteile erforderlich sei, die kleinen und mittleren Privatunternehmen im ehemaligen Ostdeutschland aus der Teilung Deutschlands entstanden seien.

Der Gerichtshof stellt fest, es handele sich um eine Ausnahme vom allgemeinen Grundsatz der Unvereinbarkeit staatlicher Beihilfen mit dem Gemeinsamen Markt, die eng auszulegen sei. Sie gelte für die neuen Bundesländer nur unter den gleichen Voraussetzungen, wie sie vor der Herstellung der staatlichen Einheit in den alten Ländern gegolten hätten. Der Ausdruck «Teilung Deutschlands» beziehe sich historisch auf die Ziehung der Trennungslinie zwischen den beiden Besatzungszonen im Jahr 1948. Daher seien «durch die Teilung verursachte wirtschaftliche Nachteile» nur diejenigen wirtschaftlichen Nachteile, die durch die Isolierung aufgrund der Errichtung dieser physischen Grenze - beispielsweise durch die Unterbrechung der Verkehrswege oder den Verlust der Absatzgebiete aufgrund des Abbruchs der Handelsbeziehungen zwischen den beiden Teilen Deutschlands - in bestimmten Gebieten Deutschlands entstanden seien.

Dagegen würde die von der deutschen Regierung vertretene Auffassung, dass diese Ausnahme es erlaube, den wirtschaftlichen Rückstand der neuen Bundesländer, so unbestreitbar er sein möge, vollständig auszugleichen, sowohl den Ausnahmecharakter dieser Bestimmung als auch deren Zusammenhang und Zweck verkennen. Die wirtschaftliche Benachteiligung, unter der die neuen Bundesländer allgemein litten, sei nämlich nicht durch die räumliche Trennung Deutschlands verursacht worden. Die unterschiedliche Entwicklung der alten und der neuen Bundesländer beruhe auf anderen Gründen als der sich aus der Teilung Deutschlands ergebenden geographischen Trennung, namentlich auf den unterschiedlichen politisch-wirtschaftlichen Systemen, die in den beiden Teilen Deutschlands errichtet worden seien.

Da die deutsche Regierung nicht nachgewiesen habe, dass die Steuervergünstigung zum Ausgleich eines durch die physische Teilung Deutschlands verursachten wirtschaftlichen Nachteils erforderlich gewesen sei, greife die Ausnahme nicht ein.

Zur Verwendung durch die Medien bestimmtes nichtamtliches Dokument, das den Gerichtshof nicht bindet. Dieses Dokument liegt in deutscher und französischer Sprache vor.

Wegen des vollständigen Wortlauts des Urteils konsultieren Sie bitte heute ab etwa 15.00 Uhr die Homepage des Gerichtshofes der EG im Internet www.curia.eu.int

Bei weiteren Fragen wenden Sie sich bitte an Frau Isabelle Phalippou, Tel.: (0 03 52) 43 03 - 32 55; Fax: (0 03 52) 43 03 - 27 34.