PRESSEMITTEILUNG N. 37/01
13. September 2001
Schlussanträge von Generalanwältin Christine Stix-Hackl in der Rechtssache C-60/00
Mary Carpenter / Secretary of State for the Home Department
NACH ANSICHT DER GENERALANWÄLTIN HAT EIN
DRITTSTAATSANGEHÖRIGER EHEGATTE EINES UNIONSBÜRGERS NACH
GEMEINSCHAFTSRECHT EIN AUFENTHALTSRECHT, WENN UND SOLANGE
DER UNIONSBÜRGER VON SEINEN GEMEINSCHAFTSRECHTLICHEN
GRUNDFREIHEITEN AUF GRENZÜBERSCHREITENDE NIEDERLASSUNG
ODER DIENSTLEISTUNGSERBRINGUNG GEBRAUCH MACHT
Bei einem staatlichen Eingriff in dieses Aufenthaltsrecht müssen - so die Generalanwältin -
die nationalen Behörden das Grundrecht auf Achtung des Familienlebens respektieren.
Herr Carpenter betreibt als Alleineigentümer ein Unternehmen, das Anzeigen an Zeitschriften
verkauft und den Herausgebern dieser Zeitschriften diverse Dienstleistungen im Zusammenhang
mit der Verwaltung und der Veröffentlichung von Anzeigen bietet. Das Unternehmen hat seinen
Sitz im Vereinigten Königreich, wo auch einige seiner Kunden niedergelassen sind. Ein
erheblicher Teil des Geschäfts des Unternehmens wird allerdings mit Kunden abgewickelt, die
ihren Sitz in anderen Mitgliedstaaten haben. Herr Carpenter nimmt darüber hinaus zu
Geschäftszwecken auch an Tagungen in anderen Mitgliedstaaten teil.
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Im Juli 1996 beantragte Frau Carpenter beim Secretary of State for the Home Department eine
Erlaubnis zum Aufenthalt als Ehegattin eines Staatsangehörigen des Vereinigten Königreichs. Die
Behörde lehnte den Antrag ab und erließ eine Entscheidung, einen Ausweisungsbeschluß gegen
Frau Carpenter zu fassen, weil sie die Frist ihrer Einreiseerlaubnis nicht eingehalten hatte.
Gegen diesen Beschluß wehrt sich Frau Carpenter. Das inzwischen befaßte Immigration Appeal
Tribunal hat das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof der EG die Frage vorgelegt, ob in
einem solchen Fall die nicht-EG-angehörige Ehefrau eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats
der EG aus EG-Recht ein Aufenthaltsrecht im Vereinigten Königreich herleiten kann.
Generalanwältin Stix-Hackl trägt heute ihre Schlußanträge in dieser Rechtssache vor.
Die Ansicht des Generalanwalts ist für den Gerichtshof nicht bindend. Aufgabe der Generalanwälte ist es, dem Gerichtshof in völliger Unabhängigkeit eine rechtliche Lösung für die Rechtssache vorzuschlagen, mit der sie befasst sind. |
Die Generalanwältin weist zunächst daraufhin, dass Frau Carpenter sich für ihr Aufenthaltsrecht
nicht auf die im EG-Vertrag für EU-Angehörige eingeräumten Grundfreiheiten, wie z.B. die
Dienstleistungsfreiheit, berufen kann, weil sie Staatsangehörige eines Nicht-EU-Staates, nämlich
der Philippinen ist.
Anders sieht es nach Ansicht der Generalanwältin mit der Richtlinie 73/148/EWG zur
Aufhebung der Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Staatsangehörige der Mitgliedstaaten
innerhalb der Gemeinschaft auf dem Gebiet der Niederlassung und des Dienstleistungsverkehrs
aus. Die Generalanwältin führt aus, dass sich danach der aufenthaltsrechtliche Status eines
Drittstaatsangehörigen, der mit einem Unionsbürger verheiratet ist, nach der rechtlichen Stellung
des Unionsbürgers richtet: Nur wenn und solange der Unionsbürger von seinen
gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten auf grenzüberschreitende Niederlassung oder
Dienstleistungserbringung Gebrauch macht, habe sein Nicht-EU-Gatte dank der
Gemeinschaftsrichtlinie ein Aufenthaltsrecht.
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Herr Carpenter macht von seinen gemeinschaftlichen Rechten in zweierlei Hinsicht Gebrauch,
indem er sich aus beruflichen Gründen in einen anderen Mitgliedstaat begibt, um dort eine
selbständige Erwerbstätigkeit auszuüben und, indem er die Dienstleistungen auch vom
Vereinigten Königreich aus über die Grenze erbringt. Folglich hat, so die Generalanwältin, Frau
Carpenter aus Gemeinschaftsrecht ein (von ihrem Mann abgeleitetes) Aufenthaltsrecht im
Vereinigten Königreich.
Die Anwendung der britischen Vorschriften, nach denen Frau Carpenter eine
Aufenthaltsgenehmigung verweigert wird und sie ausgewiesen werden soll, können auch für ihren
Ehemann zu einer Beeinträchtigung seines gemeinschaftlichen Rechts führen, in anderen
Mitgliedstaaten Dienstleistungen zu erbringen.
Die Generalanwältin betont jedoch, dass diese britischen Vorschriften von den nationalen
Behörden und Gerichten im Lichte der gemeinschaftlichen Grundrechte ausgelegt werden
müssen. Zu ihnen gehören auch jene der Europäischen Menschenrechtskonvention. Im
vorliegenden Fall wird das in der Konvention verankerte Recht auf Achtung des Familienlebens -
d.h. der Schutz der Ehe und die Beziehung zu den Kindern - grundsätzlich beeinträchtigt.
Nun genießt aber das Recht auf Achtung des Familienlebens keinen absoluten Schutz; unter
bestimmten Bedingungen sind staatliche Eingriffe erlaubt. Die Generalanwältin weist darauf hin,
dass die Beurteilung der Zulässigkeit eines Eingriffs in Grundrechte von der Berücksichtigung
der Umstände des jeweiligen konkreten Einzelfalles abhängt. Das bleibt Aufgabe des nationalen
Gerichts. Der Gerichtshof der EG kann ihm aber dafür Kriterien an die Hand geben.
So ist bei der Frage der Notwendigkeit des Eingriffs dessen Verhältnismäßigkeit zu prüfen (d. h.
Abwägung der privaten mit den öffentlichen Interessen). Hier erwähnt die Generalanwältin u. a.
folgende Kriterien: Ist es für Frau Carpenter zumutbar, nur vom Ausland aus um die Erteilung
der Erlaubnis zu ersuchen? Wäre eine Ausweisung von Frau Carpenter für Herrn Carpenter und
allenfalls seine Kinder zumutbar? Demgegenüber hat der Staat ein Interesse daran, dass seine
ausländerrechtlichen Regelungen, insbesondere bzgl. des Aufenthaltsrechts, beachtet werden. Wie
schwer wiegt dabei Frau Carpenters Verstoß, im Vereinigten Königreich nach Ablauf der
befristeten Erlaubnis geblieben zu sein? Eine Nichtbeachtung von ausländerrechtlichen Regeln
könnte auch durch Geld- und Haftstrafen geahndet werden. Einer Entfernung aus dem
Hoheitsgebiet sind nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes der EG enge Grenzen gezogen.
das den Gerichtshof nicht bindet.
Dieses Dokument liegt in englischer, französischer und deutscher Sprache vor.
Wegen des vollständigen Wortlauts der Schlussanträge konsultieren Sie bitte heute ab
ungefähr 15.00 Uhr unsere Homepage im Internet www.curia.eu.int
Für weitere Auskünfte wenden Sie sich bitte an Frau Isabelle Phalippou, Tel.: (0 03 52)
43 03 - 32 55; Fax: (0 03 52) 43 03 - 27 34. |