PRESSEMITTEILUNG N. 46/01
Jean-Claude Martinez und Charles de Gaulle / Europäisches Parlament, Front national /
Europäisches Parlament, Emma Bonino u. a. / Europäisches Parlament
Nach dem Urteil des Gerichts läuft die Verpflichtung der Bestandteile einer Fraktion, eine
politische Zusammengehörigkeit zum Ausdruck zu bringen, nicht dem Gemeinschaftsrecht
zuwider. Demgemäß bestätigt das Urteil, dass die Bildung der Technischen Fraktion der
unabhängigen Abgeordneten - gemischte Fraktion nicht mit der Geschäftsordnung des
Europäischen Parlaments in Einklang steht.
In den Gründungsbestimmungen der Technischen Fraktion der unabhängigen Abgeordneten
(TDI) - gemischte Fraktion hieß es, dass die Fraktionsmitglieder einander gegenseitig ihre
völlige politische Unabhängigkeit bestätigten.
Das Europäische Parlament verabschiedete am 14. September 1999 einen Rechtsakt über die
Auslegung des Artikels 29 seiner Geschäftsordnung. Diese Auslegung lautet: "Nach diesem
Artikel ist die Bildung einer Fraktion unzulässig, die offen jeden politischen Charakter und
jede politische Zusammengehörigkeit zwischen ihren Bestandteilen verneint."
In den drei verbundenen Rechtssachen beantragten die betroffenen Abgeordneten, die Liste
Emma Bonino u. a. und die Front national, diesen Rechtsakt des Europäischen Parlaments, als
dessen Folge die TDI-Fraktion gemäß der Geschäftsordnung für unzulässig erklärt wurde, für
nichtig zu erklären.
Am 25. November 1999 hatte der Präsident des Gerichts erster Instanz im Verfahren des
vorläufigen Rechtsschutzes den Vollzug des Rechtsaktes, der der Bildung der Fraktion
entgegenstand, ausgesetzt. Das Gericht erster Instanz hat heute sein Urteil in der Sache erlassen.
Das Gericht weist zunächst darauf hin, dass lediglich die Handlungen des Parlaments, die nur
die interne Organisation seiner Arbeit betreffen, nicht mit einer Nichtigkeitsklage angegriffen
werden können.
Der Rechtsakt vom 14. September 1999 über die Auslegung des Artikels über die
Fraktionsbildung, infolge dessen Annahme im Plenum die TDI-Fraktion gemäß der
Geschäftsordnung für unzulässig erklärt wurde, lasse sich nicht auf eine solche (nur die interne
Organisation der Parlamentsarbeit betreffende) Handlung reduzieren und unterliege daher der
Rechtmäßigkeitskontrolle durch die Gemeinschaftsgerichte. Er erzeuge nämlich gegenüber den
Abgeordneten Rechtswirkungen im Hinblick auf die Voraussetzungen, unter denen sie ihr
Mandat wahrnehmen könnten.
Das Gericht stellt weiter fest, dass die Bedingung politischer Zusammengehörigkeit für die
Fraktionsbildung eine zwingende Voraussetzung darstelle, und zwar insbesondere unter
Berücksichtigung des Umstands, dass im Rahmen der Organisation der europäischen
parlamentarischen Versammlung regelmäßig auf politische Fraktionen Bezug genommen werde.
Die Anforderung politischer Zusammengehörigkeit hindere die Abgeordneten nicht daran, ihre
Stimmen gelegentlich uneinheitlich abzugeben, denn dies sei Ausdruck des im Akt von 1976 zur
Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten der Versammlung
niedergelegten Grundsatzes des freien Mandats.
Anders als ein solches Stimmverhalten bewertet das Gericht jedoch das erklärte und gewollte
Fehlen politischer Zusammengehörigkeit bei der Bildung einer Fraktion. Für Abgeordnete,
die ihren Zusammenschluss zu Fraktionen erklärten, sei zwar zu vermuten, dass sie eine - und
sei es nur minimale - politische Zusammengehörigkeit aufwiesen; dabei habe das Parlament die
Befugnis, die Zulässigkeit einer solchen Erklärung zu überprüfen. Angesichts vorhandener
Nachweise, dass die Mitglieder einer Fraktion jedes Risiko hätten ausschließen wollen, als
politisch zusammengehörig wahrgenommen zu werden, und dass sie eine politische
Zusammengehörigkeit bewusst verneint hätten, habe das Parlament jedoch feststellen dürfen,
dass die betroffenen Fraktionsmitglieder jede politische Zusammengehörigkeit offen ablehnten.
Das Gericht führt aus, dass die beiden Anforderungen der politischen Zusammengehörigkeit und
der Zugehörigkeit zu mehr als einem Mitgliedstaat, die für die Bildung einer Fraktion
vorgeschrieben seien, eine Überwindung lokaler politischer Partikularismen und die Förderung
der vom EG-Vertrag vorgesehenen europäischen Einigung erlaubten und dazu beitrügen,
politische Parteien auf europäischer Ebene als Faktor der Integration hervortreten zu lassen. Es
handele sich dabei um berechtigte Ziele, und die aus diesen beiden Anforderungen
resultierende unterschiedliche Behandlung fraktionsangehöriger und fraktionsloser Abgeordneter
(nämlich infolge der Rechte, die Fraktionen durch andere Bestimmungen der Geschäftsordnung
eingeräumt seien) bilde keine Diskriminierung.
Das Gericht hebt ferner hervor, dass das Prinzip der Demokratie eine der Grundlagen der
Europäischen Union bilde. Es hindere das Parlament aber nicht am Erlass interner
Organisationsmaßnahmen, sofern sie mit dem Demokratieprinzip vereinbar seien. Jedoch
seien die eingereichten Klagen nicht auf eine Prüfung der Frage gerichtet, ob die internen
Bestimmungen des Parlaments, die den Fraktionen bestimmte Rechte einräumten, mit dem
Demokratieprinzip vereinbar seien.
Überdies sei das Gebot, sich zu politischen Fraktionen zusammenzuschließen, angesichts der
Besonderheiten des Parlaments und der Erfordernisse, die sich aus seiner Tätigkeit und den ihm
als Gemeinschaftsorgan vom EG-Vertrag zugewiesenen Aufgaben und Zielen ergäben, zur
Erreichung dieser Ziele angemessen und notwendig.
Das Gericht stellt schließlich fest, dass die fraglichen Bestimmungen auch nicht den Grundsatz
der Vereinigungsfreiheit gemäß Artikel 11 der Europäischen Konvention zum Schutz der
Menschenrechte und Grundfreiheiten - die auch in der Gemeinschaftsrechtsordnung geschütztseien - verletzten. Auch die parlamentarischen Überlieferungen der Mitgliedstaaten ließen nicht
den Schluss zu, dass die Bildung einer Fraktion, deren Mitglieder jede politische
Zusammengehörigkeit offen verneinten, in den meisten nationalen Parlamenten zulässig wäre.
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