Abteilung Presse und Information


PRESSEMITTEILUNG N. 46/01


2. Oktober 2001

Verbundene Rechtssachen T-222/99, T-327/99 und T-329/99

Jean-Claude Martinez und Charles de Gaulle / Europäisches Parlament, Front national / Europäisches Parlament, Emma Bonino u. a. / Europäisches Parlament

DAS GERICHT ERSTER INSTANZ WEIST DIE KLAGEN VON ABGEORDNETEN UND DER FRONT NATIONAL GEGEN DEN RECHTSAKT VOM 14. SEPTEMBER 1999 ÜBER DIE AUSLEGUNG DER GESCHÄFTSORDNUNG DES EUROPÄISCHEN PARLAMENTS HINSICHTLICH DER BILDUNG VON FRAKTIONEN AB

Nach dem Urteil des Gerichts läuft die Verpflichtung der Bestandteile einer Fraktion, eine politische Zusammengehörigkeit zum Ausdruck zu bringen, nicht dem Gemeinschaftsrecht zuwider. Demgemäß bestätigt das Urteil, dass die Bildung der “Technischen Fraktion der unabhängigen Abgeordneten - gemischte Fraktion” nicht mit der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments in Einklang steht.


Gemäß Artikel 29 der Geschäftsordnung des Europäischen Parlaments (.Bildung der Fraktionen“) können die Mitglieder des Parlaments ihrer politischen Zugehörigkeit entsprechende Fraktionen bilden. Nach den europäischen Wahlen im Juni 1999 wurden im Parlament neue Fraktionen für die Legislaturperiode 1999-2004 gebildet.

In den Gründungsbestimmungen der Technischen Fraktion der unabhängigen Abgeordneten (TDI) - gemischte Fraktion hieß es, dass die Fraktionsmitglieder einander gegenseitig ihre völlige politische Unabhängigkeit bestätigten.

Das Europäische Parlament verabschiedete am 14. September 1999 einen Rechtsakt über die Auslegung des Artikels 29 seiner Geschäftsordnung. Diese Auslegung lautet: "Nach diesem Artikel ist die Bildung einer Fraktion unzulässig, die offen jeden politischen Charakter und jede politische Zusammengehörigkeit zwischen ihren Bestandteilen verneint."

In den drei verbundenen Rechtssachen beantragten die betroffenen Abgeordneten, die Liste Emma Bonino u. a. und die Front national, diesen Rechtsakt des Europäischen Parlaments, als dessen Folge die TDI-Fraktion gemäß der Geschäftsordnung für unzulässig erklärt wurde, für nichtig zu erklären.

Am 25. November 1999 hatte der Präsident des Gerichts erster Instanz im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes den Vollzug des Rechtsaktes, der der Bildung der Fraktion entgegenstand, ausgesetzt. Das Gericht erster Instanz hat heute sein Urteil in der Sache erlassen.

Das Gericht weist zunächst darauf hin, dass lediglich die Handlungen des Parlaments, die nur die interne Organisation seiner Arbeit betreffen, nicht mit einer Nichtigkeitsklage angegriffen werden können.

Der Rechtsakt vom 14. September 1999 über die Auslegung des Artikels über die Fraktionsbildung, infolge dessen Annahme im Plenum die TDI-Fraktion gemäß der Geschäftsordnung für unzulässig erklärt wurde, lasse sich nicht auf eine solche (nur die interne Organisation der Parlamentsarbeit betreffende) Handlung reduzieren und unterliege daher der Rechtmäßigkeitskontrolle durch die Gemeinschaftsgerichte. Er erzeuge nämlich gegenüber den Abgeordneten Rechtswirkungen im Hinblick auf die Voraussetzungen, unter denen sie ihr Mandat wahrnehmen könnten.

Das Gericht stellt weiter fest, dass die Bedingung politischer Zusammengehörigkeit für die Fraktionsbildung eine zwingende Voraussetzung darstelle, und zwar insbesondere unter Berücksichtigung des Umstands, dass im Rahmen der Organisation der europäischen parlamentarischen Versammlung regelmäßig auf politische Fraktionen Bezug genommen werde. Die Anforderung politischer Zusammengehörigkeit hindere die Abgeordneten nicht daran, ihre Stimmen gelegentlich uneinheitlich abzugeben, denn dies sei Ausdruck des im Akt von 1976 zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten der Versammlung niedergelegten Grundsatzes des freien Mandats.

Anders als ein solches Stimmverhalten bewertet das Gericht jedoch das erklärte und gewollte Fehlen politischer Zusammengehörigkeit bei der Bildung einer Fraktion. Für Abgeordnete, die ihren Zusammenschluss zu Fraktionen erklärten, sei zwar zu vermuten, dass sie eine - und sei es nur minimale - politische Zusammengehörigkeit aufwiesen; dabei habe das Parlament die Befugnis, die Zulässigkeit einer solchen Erklärung zu überprüfen. Angesichts vorhandener Nachweise, dass die Mitglieder einer Fraktion jedes Risiko hätten ausschließen wollen, als politisch zusammengehörig wahrgenommen zu werden, und dass sie eine politische Zusammengehörigkeit bewusst verneint hätten, habe das Parlament jedoch feststellen dürfen, dass die betroffenen Fraktionsmitglieder jede politische Zusammengehörigkeit offen ablehnten.

Das Gericht führt aus, dass die beiden Anforderungen der politischen Zusammengehörigkeit und der Zugehörigkeit zu mehr als einem Mitgliedstaat, die für die Bildung einer Fraktion vorgeschrieben seien, eine Überwindung lokaler politischer Partikularismen und die Förderung der vom EG-Vertrag vorgesehenen europäischen Einigung erlaubten und dazu beitrügen, politische Parteien auf europäischer Ebene als Faktor der Integration hervortreten zu lassen. Es handele sich dabei um berechtigte Ziele, und die aus diesen beiden Anforderungen resultierende unterschiedliche Behandlung fraktionsangehöriger und fraktionsloser Abgeordneter (nämlich infolge der Rechte, die Fraktionen durch andere Bestimmungen der Geschäftsordnung eingeräumt seien) bilde keine Diskriminierung.

Das Gericht hebt ferner hervor, dass das Prinzip der Demokratie eine der Grundlagen der Europäischen Union bilde. Es hindere das Parlament aber nicht am Erlass interner Organisationsmaßnahmen, sofern sie mit dem Demokratieprinzip vereinbar seien. Jedoch seien die eingereichten Klagen nicht auf eine Prüfung der Frage gerichtet, ob die internen Bestimmungen des Parlaments, die den Fraktionen bestimmte Rechte einräumten, mit dem Demokratieprinzip vereinbar seien.

Überdies sei das Gebot, sich zu politischen Fraktionen zusammenzuschließen, angesichts der Besonderheiten des Parlaments und der Erfordernisse, die sich aus seiner Tätigkeit und den ihm als Gemeinschaftsorgan vom EG-Vertrag zugewiesenen Aufgaben und Zielen ergäben, zur Erreichung dieser Ziele angemessen und notwendig.

Das Gericht stellt schließlich fest, dass die fraglichen Bestimmungen auch nicht den Grundsatz der Vereinigungsfreiheit gemäß Artikel 11 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten - die auch in der Gemeinschaftsrechtsordnung geschütztseien - verletzten. Auch die parlamentarischen Überlieferungen der Mitgliedstaaten ließen nicht den Schluss zu, dass die Bildung einer Fraktion, deren Mitglieder jede politische Zusammengehörigkeit offen verneinten, in den meisten nationalen Parlamenten zulässig wäre.


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