PRESSEMITTEILUNG N. 13/02
DISKRIMINIERUNG DURCH DAS ÖSTERREICHISCHE RECHT IM FALL VON IN
EINEM ANDEREN MITGLIEDSTAAT ZURÜCKGELEGTEN KINDERERZIEHUNGSZEITEN
Frau Kauer, die die österreichische Staatsangehörigkeit besitzt,
ist Mutter von drei Kindern, die 1966, 1967 und 1969 geboren wurden. Nachdem
sie im Juni 1960 ihr Studium abgeschlossen hatte, arbeitete sie von Juli 1960
bis August 1964 in Österreich. Im April 1970 verlegte sie mit ihrer Familie
ihren Wohnsitz nach Belgien, wo sie nicht erwerbstätig war. Nach ihrer
Rückkehr nach Österreich war sie wieder erwerbstätig und legte
ab September 1975 Versicherungszeiten in der Pflichtversicherung zurück.
Die Gemeinschaftsverordnung über die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer
und ihrer Familienangehörigen (Verordnung [EWG] Nr. 1408/71) ist aufgrund
des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) seit dem
1. Januar 1994 auf Österreich anwendbar. Der EG-Vertrag,
der u. a. das Recht eines jeden Unionsbürgers auf Freizügigkeit
und freien Aufenthalt im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten, den Grundsatz der
Freizügigkeit der Arbeitnehmer und die Niederlassungsfreiheit vorsieht,
trat für Österreich aufgrund seines Beitritts zur Europäischen
Union am 1. Januar 1995 in Kraft.
Auf Antrag von Frau Kauer stellte die Pensionsversicherungsanstalt der Angestellten
(im folgenden: Versicherungsanstalt) mit Bescheid vom 6. April 1998 fest, dass
Frau Kauer bis zum 1. April 1998 355 Versicherungsmonate in der Pensionsversicherung
nach österreichischem Recht zurückgelegt habe. Die in dieser Gesamtzahl
enthaltenen 46 Monate von Juli 1966 - in diesem Monat wurde das erste Kind geboren
- bis April 1970 - dem Monat des Umzugs nach Belgien - hatte die Versicherungsanstalt
als Ersatzzeiten für die Kindererziehung gemäß dem österreichischen
Gesetz (§ 227a des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes) anerkannt.
Frau Kauer focht diesen Bescheid an. Ihrer Ansicht nach hätte die Versicherungsanstalt nicht 46, sondern 82 Monate als Ersatzzeiten für Zeiten der Kindererziehung anerkennen müssen, da die Zeiten, in denen sie ihre Kinder in Belgien erzogen habe, nach dem Gemeinschaftsrecht als Ersatzzeiten anzuerkennen seien.
Die Versicherungsanstalt wies dieses Begehren zurück. Der Oberste Gerichtshof
hat als letztinstanzlich angerufenes österreichisches Gericht dem Gerichtshof
der Europäischen Gemeinschaften die Frage vorgelegt, ob die Gemeinschaftsverordnung
über die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen
in Verbindung - je nach Fallgestaltung - mit den genannten Grundsätzen
des EG-Vertrags der österreichischen Regelung entgegensteht.
Nach der österreichischen Regelung gelten Kindererziehungszeiten, die
in einem anderen EWR- Vertragsstaat oder einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen
Union zurückgelegt wurden, nur unter der zweifachen Voraussetzung als
Ersatzzeiten für die Altersversicherung, dass sie nach dem Inkrafttreten
der erwähnten Gemeinschaftsverordnung in Österreich zurückgelegt
wurden und dass der Antragsteller für die betreffenden Kinder Anspruch
auf eine Geldleistung aus dem Versicherungsfall der Mutterschaft oder entsprechende
Leistungen nach dem Recht dieses Staates hat oder hatte, während diese
Zeiten, wenn sie im österreichischen Inland zurückgelegt wurden, ohne
zeitliche Begrenzung oder sonstige Voraussetzung als Ersatzzeiten für die
Altersversicherung gelten.
Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften antwortet, dass eine
nationale Regelung, die solche Voraussetzungen aufstellt, gemeinschaftsrechtswidrig
ist.
Zur Voraussetzung, dass die Kindererziehungszeiten nach dem 1. Januar 1994
zurückgelegt wurden
Der Gerichtshof stellt fest, dass nach der Verordnung Nr. 1408/71 Sachverhalte,
wie etwa die Zurücklegung von Versicherungszeiten oder Ersatzzeiten, die
vor ihrem Inkrafttreten entstanden seien, für die Feststellung von nach
ihrem Inkrafttreten entstandenen Leistungsansprüchen zu berücksichtigen
seien. Wollte man eine solche Anerkennung davon abhängig machen, dass die
betreffenden Zeiten nach dem Inkrafttreten der Gemeinschaftsverordnung für
den betreffenden Staat zurückgelegt worden seien, so würde dies den
in dieser Verordnung vorgesehenen Übergangsbestimmungen die praktische
Wirksamkeit nehmen.
Eine zeitliche Begrenzung wie diejenige nach österreichischem Recht verstoße
somit gegen die Gemeinschaftsverordnung.
Zu dem Erfordernis, dass ein Anspruch auf eine Geldleistung aus dem Versicherungsfall
der Mutterschaft oder entsprechende Leistungen nach österreichischem Bundesrecht
besteht oder bestanden hat
Der Gerichtshof stellt fest, dass mit der fraglichen nationalen Regelung im
Hinblick auf die Feststellung der Versicherungszeiten und der Ersatzzeiten für
die Altersversicherung eine Ungleichbehandlung eingeführt werde,
da die im Inland zurückgelegten Erziehungszeiten ohne weiteres angerechnet
würden, die Anrechnung von in einem anderen EWR-Vertragsstaat oder einem
anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union zurückgelegten Erziehungszeiten
jedoch vom Anspruch auf Geldleistungen aus dem Versicherungsfall der Mutterschaft
oder entsprechende Leistungen nach österreichischem Bundesrecht abhängig
gemacht werde.
Wenn eine solche nationale Regelung auf die nach dem Beitritt der Republik
Österreich zur Europäischen Union zurückgelegten Kindererziehungszeiten
angewandt werde, sei sie geeignet, diejenigen Gemeinschaftsbürger zu
benachteiligen, die in Österreich gewohnt oder gearbeitet und sodann
als Arbeitnehmer, als Angehörige eines Arbeitnehmers oder als Unionsbürger
von ihrem Recht auf Freizügigkeit und freien Aufenthalt in den Mitgliedstaaten,
wie es im EG- Vertrag garantiert werde, Gebrauch gemacht hätten. Denn vor
allem bei diesen Gemeinschaftsangehörigen stelle sich das Problem im Zusammenhang
mit der Zurücklegung von Kindererziehungszeiten außerhalb Österreichs.
Falls, wie im Ausgangsverfahren, die nationale Regelung für Erziehungszeiten
gelte, die vor dem Zeitpunkt der Anwendung der Gemeinschaftsverordnung in Österreich
zurückgelegt wordenseien, seien Ansprüche auf Altersrente, die
nach dem Beitritt der Republik Österreich zur Europäischen Union -
und sei es auch auf der Grundlage von vor diesem Beitritt zurückgelegten
Versicherungszeiten - begründet worden seien, von den österreichischen
Behörden in Übereinstimmung mit dem Gemeinschaftsrecht festzustellen,
und zwar insbesondere den Bestimmungen des EG-Vertrags über die Freizügigkeit
der Arbeitnehmer und über die jedem Unionsbürger zuerkannte Freiheit,
sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu bewegen und aufzuhalten.
Insofern sehe die Gemeinschaftsverordnung für die Feststellung
von Leistungsansprüchen ausdrücklich die Anrechnung von Versicherungszeiten
oder Ersatzzeiten vor, die zu einer Zeit zurückgelegt worden seien,
in der die Freizügigkeit im Verhältnis zwischen dem betreffenden Staat
und dem Staat, in dessen Gebiet die Zeiten zurückgelegt worden seien, per
definitionem noch nicht gewährleistet gewesen sei. So könne der Umstand,
dass Frau Kauer vor dem Inkrafttreten des EWR-Abkommens oder vor dem Beitritt
der Republik Österreich zur Europäischen Union in Belgien gewohnt
habe, als solcher einer Berücksichtigung dieser Zeiten bei der Berechnung
ihrer Altersrente nicht entgegenstehen.
Werde jedoch für eine Anrechnung der in einem anderen Mitgliedstaat vor
Inkrafttreten der Verordnung Nr. 1408/71 zurückgelegten Kindererziehungszeiten
verlangt, dass ein Anspruch auf österreichische Leistungen bei Mutterschaft
bestehe oder bestanden habe, so bestehe die Gefahr, dass diese Gleichstellungsvorschrift
ins Leere laufe.
Daher verstößt nach Auffassung des Gerichtshofes das Erfordernis
des Bestehens eines Anspruchs auf Geldleistungen aus dem Versicherungsfall der
Mutterschaft oder auf entsprechende Leistungen nach österreichischem Bundesrecht
gegen die Gemeinschaftsverordnung in Verbindung mit dem EG-Vertrag.
Zur Verwendung durch die Medien bestimmtes nichtamtliches Dokument, das den Gerichtshof nicht bindet. Dieses Dokument liegt in deutscher und französischer Sprache
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Phalippou, |