Abteilung Presse und Information


PRESSEMITTEILUNG N. 41/02

3. Mai 2002

Urteil des Gerichts erster Instanz in der Rechtssache T-177/01


Jégo-Quéré et Cie S.A./Kommission

IN DEM BEMÜHEN UM EINE STÄRKUNG DES RECHTSSCHUTZES FÜR BÜRGER/BÜRGERINNEN UND UNTERNEHMEN, LOCKERT DAS GERICHT DIE BEDINGUNGEN FÜR DEN ZUGANG VON EINZELPERSONEN ZUR GEMEINSCHAFTSGERICHTSBARKEIT

Der Begriff der individuellen Betroffenheit einer Person im Sinne des EG-Vertrages wird nicht mehr so ausgelegt, dass es Einzelpersonen nur ausnahmsweise gestattet ist, Verordnungen zu bekämpfen, sondern erhält eine neue Definition: Eine natürliche oder juristische Person ist durch eine Bestimmung eines generellen Gemeinschaftsrechtsaktes, die sie unmittelbar betrifft, auch individuell betroffen, wenn die fragliche Bestimmung ihre Rechtsposition unzweifelhaft und gegenwärtig beeinträchtigt, indem sie ihre Rechte einschränkt oder ihr Pflichten auferlegt.

         Die Klägerin, Jégo-Quéré et Cie S.A., ist ein Fischerei-Reedereiunternehmen, hat ihren Sitz in Frankreich und übt ihr Gewerbe ständig südlich von Irland aus. Das Unternehmen besitzt vier Schiffe von über 30 Metern Länge und benutzt Fischfangnetze mit einer Maschenweite von 80 mm, die nunmehr durch eine neue Gemeinschaftsverordnung verboten sind.

         Die Klägerin beantragt, das Gericht erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften möge zwei Bestimmungen dieser Verordnung für nichtig erklären, die den Fischereibooten, die in bestimmten Zonen eingesetzt werden, eine Maschenmindestweite für die verschiedenen Techniken des Netzfischfanges vorschreibt.

         Die Kommission beantragt, das Gericht möge die Klage für unzulässig erklären. Gemäß dem EG-Vertrag kann "jede natürliche oder juristische Person [...] gegen die an sie ergangenen Entscheidungen sowie gegen diejenigen Entscheidungen Klage erheben, die, obwohl sie als Verordnung oder als eine an eine andere Person gerichtete Entscheidung ergangen sind, sie unmittelbar und individuell betreffen". Die Kommission bestreitet nicht, dass Jégo-Quéré durch die angefochtenen Bestimmungen unmittelbar betroffen ist. Sie ist jedoch der Auffassung, dass Jégo-Quéré nicht individuell betroffen sei, weil sich die Bestimmungen bezüglich der Maschenweite von Fangnetzen auf alle im keltischen Meer tätigen Fischer und nicht in besonderer Weise auf das klagende Unternehmen beziehen.

         Aufgrund der bisher von der Gemeinschaftsrechtsprechung entwickelten Kriterien müsste das Gericht feststellen, dass die Klägerin nicht als individuell betroffen im Sinne des EG-Vertrages anzusehen ist, was zur Zurückweisung der Klage wegen Unzulässigkeit führen würde.


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Nach der bisherigen Rechtsprechung kann eine Einzelperson einen Gemeinschaftsrechtsakt von allgemeiner Geltung nämlich nur dann anfechten, wenn dieser sie wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder besonderer, sie aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebender Umstände berührt.

        Das Gericht hält fest, dass diese Rechtsprechung dazu führt, dass vielen Einzelpersonen jede Möglichkeit genommen ist, mit der Nichtigkeitsklage Gemeinschaftsbestimmungen zu bekämpfen, die zwar generellen Normcharakter aufweisen, sie jedoch unmittelbar in ihrer Rechtsposition betreffen.

         Das Gericht ist dabei der Auffassung, dass die anderen möglichen Klagearten im vorliegenden Fall nicht dazu geeignet sind, die Rechtswidrigkeit von Gemeinschaftsvorschriften feststellen zu lassen. Falls eine belastende Gemeinschaftsvorschrift ohne das Erfordernis einer innerstaatlichen Durchführungsmaßnahme, gegen die ein innerstaatliches Rechtsmittel ergriffen werden könnte, wirksam wird, ist es für eine Einzelperson nämlich unzumutbar, wissentlich Gemeinschaftsrecht verletzen zu müssen, um Zugang zu einem nationalen Gericht zu erlangen, und so gegebenenfalls den Gerichtshof im Wege eines Vorabentscheidungsverfahrens befassen zu können. Auch eine gegen die Gemeinschaften gerichtete Schadenersatzklage erlaubt es dem Gemeinschaftsrichter nicht, seiner Aufgabe der umfassenden Rechtmäßigkeitskontrolle nachzukommen, da ein Schadenersatz gegenüber Gemeinschaftsrechtsakten von allgemeiner Geltung nur unter sehr erschwerten Voraussetzungen gewährt wird.

         Das Gericht erinnert daran, dass, nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften, der wirksame Zugang zu einem unabhängigen Richter ein Wesensbestandteil der auf dem EG-Vertrag aufbauenden Rechtsordnung ist, die ein umfassendes Rechtsschutzsystem geschaffen hat, innerhalb dessen dem Gerichtshof die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Handlungen der europäischen Organe übertragen worden ist. Der Gerichtshof stützt dieses Grundrecht auf einen wirksamen Rechtsbehelf vor einem zuständigen Gericht auf die gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten sowie auf die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK). Darüber hinaus wurde dieses Grundrecht auf einen wirksamen Rechtsbehelf in Artikel 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, die am 7. Dezember 2000 in Nizza verkündet worden ist, neuerlich unterstrichen.

         Das Gericht befindet folglich, dass, um einen effektiven Rechtsschutz von Einzelpersonen zu sichern, eine natürliche oder juristische Person als durch eine Bestimmung eines generellen Gemeinschaftsrechtsaktes, die sie unmittelbar betrifft, individuell betroffen anzusehen ist, wenn die fragliche Bestimmung ihre Rechtsposition unzweifelhaft und gegenwärtig beeinträchtigt, indem sie ihre Rechte einschränkt oder ihr Pflichten auferlegt. Die Zahl oder die Lage anderer Personen, die von der Bestimmung gleichfalls betroffen sind oder betroffen sein könnten, sind für diese Beurteilung unmaßgeblich.

Im vorliegenden Fall werden dem Unternehmen Jégo-Quéré tatsächlich durch die angefochtenen Bestimmungen Verpflichtungen auferlegt, die dieses Unternehmen zwingen, für seine Fischereitätigkeiten nur Netze mit einer festgelegten Maschenweite zu verwenden.

Das Unternehmen Jégo-Quéré ist daher individuell und unmittelbar durch die angefochtenen Bestimmungen betroffen.

Folglich sind die von der Kommission erhobene Unzulässigkeitseinrede abzuweisen und die Fortsetzung des Verfahrens anzuordnen.


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Hinweis: Gegen das Urteil des Gerichts kann binnen zwei Monaten nach seiner Zustellung ein auf Rechtsfragen beschränktes Rechtsmittel beim Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften eingelegt werden.


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