PRESSEMITTEILUNG N. 71/02
Mit am 17. Dezember 1998 erlassener Verordnung untersagte der Rat die Verwendung
von vier Antibiotika - Virginiamycin, Zink-Bacitracin, Spiramycin und Tylosinphosphat
- als Zusatzstoffe in der Tierernährung. Dagegen wurde die Zulassung von
vier anderen Antibiotika aufrechterhalten. Vor dem Erlass der Verordnung hatten
verschiedene Mitgliedstaaten, insbesondere Dänemark, Schutzmaßnahmen
getroffen, und Schweden hatte einen Antrag auf Anpassung der Rechtsvorschriften
der Gemeinschaft gestellt.
Die genannten Antibiotika waren lange Jahre in sehr geringer Dosis als
Wachstumsförderer dem Futter bestimmter Tiere beigemengt worden. Diese
Praxis verbessert bekanntlich das Wachstum der Tiere und die Gewichtszunahme,
so dass das Tier weniger Zeit und Nahrung benötigt, um das für die
Schlachtung erforderliche Gewicht zu erreichen. Die Praxis soll auch einige
vorteilhafte Nebenwirkungen haben, insbesondere soll bestimmten Krankheiten
bei den Tieren vorgebeugt werden.
Seit den siebziger Jahren haben zahlreiche Wissenschaftler die Ansicht vertreten,
dass diese Praxis das Risiko berge, dass sich bei den Tieren eine Resistenz
gegen die betreffenden Antibiotika entwickle und dass diese Resistenz insbesondere
über die Nahrungsmittelkette auf den Menschen übertragen werde,
was zur Folge hätte, dass diese Antibiotika (sowie einige andere, mit ihnen
verwandte Antibiotika) nicht mehr wirksam in der Humanmedizin zur Behandlung
bestimmter gefährlicher Krankheiten eingesetzt werden könnten. Insbesondere
in den Jahren 1997 und 1998 empfahlen internationale, gemeinschaftliche und
nationale Facheinrichtungen wie die Weltgesundheitsorganisation, diese Praxis
entweder schrittweise oder sofort zu beenden.
Zum Zeitpunkt des Erlasses der angefochtenen Verordnung war der Beweis für
das Bestehen eines Zusammenhangs zwischen der Verwendung der betreffenden Antibiotika
und der Entwicklung von Resistenzen gegen diese Antibiotika beim Menschen nicht
erbracht. Vor diesem Hintergrund hat sich der Rat in der angefochtenen Verordnung
auf das Vorsorgeprinzip berufen.
Zum Zeitpunkt des Erlasses der Verordnung war die Pfizer Animal Health SA
weltweit die einzige Herstellerin von Virginiamycin und die Alpharma Inc. die
einzige Herstellerin und wichtigste Lieferantin von Zink-Bacitracin in Europa.
Beide haben Klage auf Nichtigerklärung der Verordnung des Rates beim Gericht
erster Instanz erhoben. Pfizer Animal Health ist durch mehrere Landwirtschaftsverbände,
der Rat durch die Kommission, Dänemark, Schweden, Finnland und das Vereinigte
Königreich als Streithelfer unterstützt worden. 1999 hat der Präsident
des Gerichts mit zwei Beschlüssen Anträge auf Aussetzung des Vollzugs
der Verordnung zurückgewiesen. Einer der beiden Beschlüsse, gegen
den ein Rechtsmittel eingelegt worden war, ist vom Präsidenten des Gerichtshofes
bestätigt worden.
Vor dem Gericht haben Pfizer und Alpharma geltend gemacht, dass die Gemeinschaftsorgane,
statt eine eingehende Bewertung der mit den betreffenden Produkten verbundenen
Risiken vorzunehmen, aufgrund eines realitätsfernen "Nullrisiko"-Ansatzes
sämtliche Risiken hätten ausschließen wollen und ihre Entscheidung
aus Gründen politischer Opportunität und nicht auf der Grundlage einer
objektiven wissenschaftlichen Analyse getroffen hätten.
Das Gericht erläutert in diesen Rechtssachen die Voraussetzungen für
die Anwendung des Vorsorgeprinzips im Gemeinschaftsrecht. Es bestätigt
weitgehend die Grundsätze, die die Kommission im Jahr 2000 in einer Mitteilung
über die Anwendbarkeit des Vorsorgeprinzips aufgestellt hatte.
Es erinnert zunächst daran, dass der Gemeinschaftsrichter in anderen
die Lebensmittelsicherheit betreffenden Rechtssachen (insbesondere im Zusammenhang
mit der BSE-Krise) bereits bestätigt hat, dass vorbeugende Maßnahmen
getroffen werden können, ohne dass abgewartet werden muss, bis das tatsächliche
Vorliegen und die Schwere der Risiken in vollem Umfang nachgewiesen sind.
Es hat jedoch unterstrichen, dass eine vorbeugende Maßnahme nicht auf
wissenschaftlich nicht verifizierte bloße Hypothesen gestützt, sondern
nur im Fall eines tatsächlichen Risikos getroffen werden dürfe.
Der Begriff "Risiko" bedeute, dass ein gewisser Grad an Wahrscheinlichkeit
bestehe, dass die negativen Auswirkungen einträten, die durch den Erlass
der Maßnahme gerade vermieden werden sollten. Dieser Risikograd könne
nicht bei Null angesetzt werden.
Bevor die öffentliche Stelle eine vorbeugende Maßnahme treffe, müsse
sie daher eine Risikobewertung vornehmen, die aus zwei Teilen bestehe:
einem wissenschaftlichen Teil, d. h. einer wissenschaftlichen Risikobewertung,
die unter Berücksichtigung insbesondere der Dringlichkeit so erschöpfend
wie möglich sein müsse, und einem politischen Teil ("Risikomanagement"),
in dessen Rahmen die öffentliche Stelle entscheiden müsse, welche
Maßnahme ihr im Hinblick auf den von ihr bestimmten Risikograd angemessen
erscheine.
In seinen Urteilen geht das Gericht besonders auf die Voraussetzungen ein, die die öffentliche Stelle bei der wissenschaftlichen Bewertung beachten muss. Insbesondere betont es, dass in diesem Zusammenhang wissenschaftliche Experten eine entscheidende Rolle spielten, und schließt daraus, dass die zuständigen wissenschaftlichen Ausschüsse auch dann angehört werden müssten, wenn dies in Rechtsvorschriften nicht ausdrücklich vorgesehen sei, es sei denn, die öffentliche Stelle könne gewährleisten, dass sie sich auf eine gleichwertige wissenschaftliche Grundlage stütze. Die Entscheidung, ein Produkt zu verbieten, liege jedoch nicht bei den wissenschaftlichen Experten, sondern bei der öffentlichen Stelle, der die politische Verantwortung übertragen worden sei.
Bezüglich des Antibiotikums Virginiamycin:
Der auf Gemeinschaftsebene zuständige wissenschaftliche Ausschuss vertrat
nach Anhörung zu den von den dänischen Behörden im Rahmen ihrer
Schutzmaßnahmen vorgelegten wissenschaftlichen Informationen die Auffassung,
dass es keine ausreichenden wissenschaftlichen Informationen gebe, um auf die
Existenz eines mit diesem Produkt verbundenen Risikos zu schließen, und
empfahl den Gemeinschaftsorganen nicht, das Produkt vom Markt zu nehmen. Der
Rat beschloss gleichwohl, diesen Stoff zu verbieten.
Das Gericht bestätigt diese Entscheidung unter Hinweis auf die Rolle
der wissenschaftlichen Experten, deren Beteiligung gewährleisten solle,
dass die Maßnahme auf einer objektiven wissenschaftlichen Grundlage
getroffen werde. Soweit nicht in Rechtsvorschriften etwas anderes vorgesehen
sei, sei die öffentliche Stelle jedoch nicht an die Gutachten der wissenschaftlichen
Ausschüsse gebunden. Im vorliegenden Fall, in dem es sich um eine Maßnahme
handle, die zum Zweck des Schutzes der menschlichen Gesundheit getroffen
werde, dürfe der von den Organen eingenommene Standpunkt, der von dem
in dem wissenschaftlichen Gutachten geäußerten Standpunkt abweiche,
nur an diesem Zweck ausgerichtet werden. Das bedeute, dass die Organe nur
dann von den Schlussfolgerungen des Gutachtens des zuständigen wissenschaftlichen
Ausschusses abweichen dürften, wenn sie sich auf
- eine angemessene
- sowie sorgfältig und unparteiisch durchgeführte
Analyse
- aller relevanten Gesichtspunkte des betreffenden Falles
stützen könnten,
- zu denen die Argumentation zähle, die zu den Schlussfolgerungen
des wissenschaftlichen Gutachtens dieses Ausschusses geführt habe.
Im vorliegenden Fall sei die Entscheidung der Organe, nicht dem wissenschaftlichen
Gutachten zu folgen, durch den Zweck des Schutzes der menschlichen Gesundheit
gerechtfertigt.
Bezüglich des Antibiotikums Zink-Bacitracin:
Der wissenschaftliche Ausschuss wurde vor dem Erlass der angefochtenen Verordnung
zu diesem speziellen Produkt gar nicht angehört. Die Organe stellten jedoch
fest, dass das Produkt zu einer der Familien von Antibiotika gehöre, bei
denen das Risiko einer Resistenzübertragung nach den vorliegenden Untersuchungen
am größten sei.
Das Gericht hat entschieden, dass die Organe aufgrund der wissenschaftlichen
Erkenntnisse, über die sie bereits hinsichtlich verschiedener anderer Antibiotika
verfügten, einen horizontalen Ansatz bezüglich aller Antibiotika dieser
Familie verfolgten und systematisch die Verwendung von Produkten, die auch in
der Humanmedizin eingesetzt werden, als Zusatzstoffe in der Tierernährung
ausschließen durften (Ausschluss von Produkten, die zu zwei verschiedenen
Zwecken verwendet werden, sogenannter "dual use"). Im Rahmen dieses
zulässigen horizontalen Ansatzes durften die Organe dieses Produkt verbieten,
ohne zuvor beim zuständigen wissenschaftlichen Ausschuss ein besonderes
Gutachten zu dem Produkt eingeholt zu haben.
Das Gericht kommt zu dem Ergebnis, dass, obwohl das Bestehen eines Zusammenhangs
zwischen der Verwendung dieser Antibiotika als Zusatzstoffe und der Entwicklung
einer Resistenz gegen diese Produkte beim Menschen ungewiss ist, das Verbot
der betreffenden Produkte im Hinblick auf das verfolgte Ziel, den Schutz der
öffentlichen Gesundheit, keine unverhältnismäßige Maßnahme
ist.
Hinweis: Gegen die Entscheidung des Gerichts kann innerhalb von zwei Monaten nach ihrer Zustellung ein auf Rechtsfragen beschränktes Rechtsmittel beim Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften eingelegt werden.
Zur Verwendung durch die Medien bestimmtes nichtamtliches Dokument, das das Gericht nicht bindet. Dieses Dokument ist in Französisch, Englisch, Deutsch, Italienisch,
Spanisch und Niederländisch verfügbar. Wegen des vollständigen Wortlauts der Urteile konsultieren Sie
bitte heute ab ungefähr 15.00 Uhr unsere Homepage im Internet
www.curia.eu.int . Für weitere Auskünfte wenden Sie sich bitte an Frau Isabelle
Phalippou, |