Abteilung Presse und Information

PRESSEMITTEILUNG N. 94/02


26. November 2002

Urteil des Gerichts erster Instanz in den verbundenen Rechtssachen T-74/00, T-76/00, T-83/00 bis T-85/00, T-132/00, T-137/00 und T-141/00

Artegodan GmbH, Bruno Farmaceutici SpA u. a., Schuck GmbH, Laboratórios Roussel Lda, Laboratoires Roussel Diamant SARL u. a., Gerot Pharmazeutika GmbH, Cambridge Healthcare Supplies Ltd und Laboratoires pharmaceutiques Trenker SA / Kommission

DAS GERICHT ERKLÄRT DIE ENTSCHEIDUNGEN DER KOMMISSION FÜR NICHTIG, MIT DENEN DIE RÜCKNAHME DER GENEHMIGUNGEN FÜR DAS INVERKEHRBRINGEN VON ARZNEIMITTELN ZUR BEHANDLUNG VON FETTLEIBIGKEIT ANGEORDNET WURDE

Die Gemeinschaft darf nicht über die ihr zugewiesenen Befugnisse hinaus tätig werden.

Die Voraussetzungen für die Rücknahme einer Genehmigung sind im Einklang mit dem allgemeinen Grundsatz des Schutzes der öffentlichen Gesundheit auszulegen.
Die bloße Entwicklung eines Konsenses in Bezug auf die Wirksamkeit von Arzneimitteln bei der Behandlung von Fettleibigkeit, der sich auf keine neuen Daten stützt, rechtfertigt die Rücknahme der Genehmigung für das Inverkehrbringen nicht.

Die Pharmaunternehmen Artegodan u. a. verfügen in Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Luxemburg, Österreich, Portugal und Spanien über nationale Genehmigungen für das Inverkehrbringen von Arzneimitteln, die amphetaminartige Anorektika enthalten (Amfepramon, Clobenzorex, Fenproporex, Norpseudoephedrin und Phentermin). Diese Stoffe beschleunigen das Sättigungsgefühl und werden in bestimmten Mitgliedstaaten seit vielen Jahren im Rahmen der Behandlung von Fettleibigkeit eingesetzt.

Die Genehmigungen für das Inverkehrbringen dieser Arzneimittel wurden durch eine Entscheidung der Kommission von 1996 harmonisiert, die nach einem Gutachten des Ausschusses für Arzneispezialitäten (im Folgenden: Ausschuss) der Europäischen Agentur für die Beurteilung von Arzneimitteln erging. In dieser Entscheidung schloss sich die Kommission dem Gutachten des Ausschusses an und schrieb insbesondere eine Beschränkung der Behandlungsdauer mit diesen Arzneimitteln auf drei Monate vor, da mit einer längeren Behandlung schwerwiegende Risiken verbunden seien. Sie vertrat die Ansicht, dass die Arzneimittel bei dieser Beschränkung hinreichend wirksam seien und ein günstiges Nutzen- Risiko-Verhältnis aufwiesen.


Am 9. März 2000 ordnete die Kommission die Rücknahme der Genehmigungen für das Inverkehrbringen von Humanarzneimitteln an, die die oben genannten Anorektika enthalten. Sie stützte sich auf die wissenschaftlichen Schlussfolgerungen, die der Ausschuss im Jahr 1999 nach einer Neubewertung dieser Stoffe abgegeben hatte; deren Wirksamkeit wurde nunmehr nach dem neuen wissenschaftlichen Kriterium der Langzeitwirkung von Arzneimitteln zur Behandlung von Fettleibigkeit verneint.

Die Genehmigungen für das Inverkehrbringen der fraglichen Arzneimittel wurden daher von den zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten ausgesetzt oder zurückgenommen.

Der Gemeinschaftskodex für Humanarzneimittel greift die Bestimmungen der Richtlinien über das dezentralisierte Gemeinschaftsverfahren auf. Er sieht u. a. Folgendes vor:

*    das Erfordernis einer Genehmigung für die Vermarktung eines Arzneimittels in einem Mitgliedstaat durch die zuständige Behörde dieses Mitgliedstaats; die Genehmigung ist fünf Jahre gültig und kann verlängert werden;
*    die Voraussetzungen in Bezug auf Wirksamkeit und Sicherheit, unter denen die zuständige Behörde eine Genehmigung erteilen, aussetzen oder zurücknehmen kann;
*    ein seit 1. Januar 1998 obligatorisches Verfahren für die gegenseitige Anerkennung der nationalen Genehmigungen, das mit Schiedsverfahren der Gemeinschaft verbunden ist;
*    die Einholung eines Gutachtens des Ausschusses insbesondere im Bereich der verbleibenden ausschließlichen Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, der sich auf die Genehmigung von Arzneimitteln, die nur in einem Mitgliedstaat vermarktet werden, und auf die Verwaltung der rein nationalen Genehmigungen beschränkt, die erteilt wurden, bevor das Verfahren der gegenseitigen Anerkennung obligatorisch wurde.

Die genannten Pharmaunternehmen haben beim Gericht erster Instanz der EG die Nichtigerklärung der Entscheidungen der Kommission vom 9. März 2000 beantragt.

Das Gericht befasst sich zunächst mit der Zuständigkeit der Kommission in diesem Bereich. Es stellt fest, dass die Konsultation des Ausschusses bei nationalen Genehmigungen freiwilligen Charakter habe.

Der Grundsatz, dass die Gemeinschaft innerhalb der Grenzen der ihr zugewiesenen Befugnisse tätig werde, bedeute, dass die Mitgliedstaaten ihre Zuständigkeit für nachfolgende Entscheidungen über die Rücknahme harmonisierter nationaler Genehmigungen für das Inverkehrbringen eines Arzneimittels durch ein nicht bindendes Gutachten des Ausschusses nicht verlören. Die Kommission sei daher für den Erlass der angefochtenen Entscheidungen nicht zuständig gewesen.

Ferner vertritt das Gericht die Auffassung, dass die Entscheidungen auch dann für nichtig erklärt werden müssten, wenn die Kommission für ihren Erlass zuständig gewesen wäre, da die Voraussetzungen für die Rücknahme einer Genehmigung wegen fehlender Wirksamkeit der betreffenden Stoffe, auf die sich diese Entscheidungen stützten, nicht erfüllt seien. Der allgemeine Grundsatz des Vorrangs des Schutzes der öffentlichen Gesundheit gebiete nämlich
*    die ausschließliche Berücksichtigung von Erwägungen zum Gesundheitsschutz,
*    die Neubewertung der Nutzen-Risiko-Bilanz eines Arzneimittels, wenn neue Daten Zweifel an seiner Wirksamkeit oder seiner Sicherheit weckten, und
*    bei wissenschaftlicher Ungewissheit die Anwendung der Beweislastregelung gemäß dem Vorsorgegrundsatz.


Im Rahmen der Verwaltung von Genehmigungen dürften nur Erwägungen zum Gesundheitsschutz berücksichtigt werden. Der Inhaber einer Genehmigung könne keinen speziellen Schutz seiner Interessen geltend machen, wenn die zuständige Behörde nachweise, dass das Arzneimittel in Anbetracht der Fortentwicklung der wissenschaftlichen Erkenntnisse und neuer Daten, die insbesondere im Rahmen der Pharmakovigilanz gesammelt worden seien, die Kriterien der therapeutischen Wirksamkeit und der Sicherheit, auf denen die Genehmigung beruhe, nicht mehr erfülle.

In Bezug auf die Nutzen-Risiko-Bilanz führt das Gericht aus, wenn die therapeutischen Wirkungen, die eine Genehmigung trotz bestimmter unerwünschter Nebenwirkungen gerechtfertigt hätten, nicht mehr vorhanden seien, müsse die Genehmigung zurückgenommen werden.

Drittens gebiete es der Vorsorgegrundsatz, dass die zuständige Behörde eine Genehmigung aussetze oder zurücknehme, wenn ernste Zweifel an der Sicherheit oder der Wirksamkeit des Arzneimittels bestünden.

Der Ausschuss und die Kommission hätten ausdrücklich eingeräumt, dass die Gutachten des Ausschusses von 1999 und die Entscheidungen der Kommission von 2000 auf genau den gleichen wie den im Gutachten des Ausschusses von 1996 und in der Entscheidung der Kommission aus diesem Jahr berücksichtigten medizinischen und wissenschaftlichen Daten beruhten. Auch die Beurteilung der akzeptablen Risiken habe sich nicht geändert.

Die bloße Fortentwicklung eines wissenschaftlichen Kriteriums für die Beurteilung der Wirksamkeit eines Arzneimittels, über das unter Medizinern Konsens bestehe, rechtfertige die Rücknahme einer Genehmigung für das Inverkehrbringen eines Arzneimittels nur, wenn sie auf neuen Daten beruhe.

Unter diesen Umständen müssten die Entscheidungen der Kommission zu Anorektika für nichtig erklärt werden.

Hinweis: Gegen die Entscheidung des Gerichts kann beim Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften innerhalb von zwei Monaten nach ihrer Zustellung ein auf Rechtsfragen beschränktes Rechtsmittel eingelegt werden.

Zur Verwendung durch die Medien bestimmtes nichtamtliches Dokument, das das Gericht erster Instanz nicht bindet.

Dieses Dokument ist in französischer, englischer, deutscher, spanischer, portugiesischer, dänischer, italienischer und niederländischer Sprache verfügbar.

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Mit Fragen wenden Sie sich bitte an Herrn Konstantin Schmidt,
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