PRESSEMITTEILUNG N. 21/03
DAS GEMEINSCHAFTSRECHT STEHT EINER BESTIMMUNG DES
INNERSTAATLICHEN RECHTS NICHT ENTGEGEN, DURCH DIE DAS RECHT
EINER PERSON AUF ERSTATTUNG EINER FÜR MIT DEM
GEMEINSCHAFTSRECHT UNVEREINBAR BEFUNDENEN ABGABE
RÜCKWIRKEND EINGESCHRÄNKT WIRD, SOFERN DIESE BESTIMMUNG DEN
ANFORDERUNGEN DES EFFEKTIVITÄTSGRUNDSATZES UND DES
ÄQUIVALENZGRUNDSATZES GENÜGT
Eine solche Bestimmung verstieße gegen den Effektivitätsgrundsatz, wenn mit ihr vermutet
würde, eine ungerechtfertigte Bereicherung liege vor, wenn die Belastung durch die Abgabe
auf einen Dritten abgewälzt wurde, oder wenn sie eine Verpflichtung zur Vorlage von
Beweismitteln aufstellte, die zu der Zeit, als die Beweismittel erlangt werden konnten, nicht
vorhersehbar war.
In Österreich war der Vertrieb von Getränken und Speiseeis bis zum Jahr 2000 mit bestimmten
Gemeinde- und Landessteuern belegt. Die österreichischen Gemeinden bestritten einen
erheblichen Teil ihrer Einnahmen aus diesem Steueraufkommen. Die Einzelhändler berechneten
den von ihnen geschuldeten Steuerbetrag selbst und erklärten ihn gegenüber der Verwaltung.
Im März 2000 entschied der Gerichtshof der EG, dass eine Verbrauchsteuerrichtlinie der
Gemeinschaft aus dem Jahr 1991 der Erhebung dieser Steuern, soweit sie alkoholische Getränke
betrafen, entgegenstehe1. Die Wirkung dieses Urteils wurde jedoch auf Erstattungsansprüche von
Anspruchstellern beschränkt, die bereits vor diesem Zeitpunkt Klage erhoben oder einen
entsprechenden Rechtsbehelf eingelegt hatten.
Eine Woche vor Erlass dieses Urteils hatte der Wiener Landtag die Vorschriften über die
Erstattung von Steuerguthaben geändert, so dass der Abgabepflichtige Abgaben, die - auch vor
dieser Änderung - zu Unrecht erhoben worden waren, nicht mehr wiedererlangen konnte, falls
die Belastung wirtschaftlich von einem Dritten getragen worden war. Die einzige Ausnahme von
dieser Vorschrift betraf Personen, die Anspruch auf Erstattung einer vom Verfassungsgerichtshof
für rechtswidrig befundenen Abgabe erhoben.
Allein in Wien sind etwa 16 000 Ansprüche auf Steuererstattung in Höhe von rund 3 Milliarden
ATS anhängig. Mindestens vier dieser Ansprüche wurden von den Abgabenbehörden
zurückgewiesen, und gegen die Zurückweisungsentscheidungen wurde Beschwerde beim
österreichischen Verwaltungsgerichtshof eingelegt. Die Beschwerdeführer sind Weber's Wine
World, zwei Restaurants und ein Gasthaus. Das österreichische Gericht möchte vom Gerichtshof
wissen, ob die vom Wiener Landtag eingeführte Änderung mit dem erwähnten EuGH-Urteil vom
9. März 2000 und mit Artikel 10 EG-Vertrag [Gemeinschaftstreuepflicht der Mitgliedstaaten]
vereinbar ist.
Generalanwalt Jacobs hat heute seine Schlussanträge in dieser Rechtssache vorgetragen.
Die Ansicht des Generalanwalts ist für den Gerichtshof nicht bindend. Aufgabe des Generalanwalts ist es, dem Gerichtshof in völliger Unabhängigkeit eine rechtliche Lösung der von ihm bearbeiteten Rechtssachen vorzuschlagen. |
Zum Äquivalenzgrundsatz stellt der Generalanwalt fest, dass die Novelle ihrem Wortlaut nach
nicht ausdrücklich unterscheide zwischen Klagen, die auf nationales Recht, und solchen, die auf
Gemeinschaftsrecht gestützt seien. Die Ausnahme für Personen, die ein Verfahren vor dem
Verfassungsgerichtshof angestrengt hätten, könne gegen den Äquivalenzgrundsatz verstoßen, da
sie darauf hinauslaufen könne, dass diejenigen, die gegen für mit nationalem Recht unvereinbar
befundene Abgaben vorgingen, günstiger behandelt würden als diejenigen, die gegen für mit dem
Gemeinschaftsrecht unvereinbar befundene Abgaben vorgingen.
Zum Effektivitätsgrundsatz führt der Generalanwalt aus, dass es nicht gegen
Gemeinschaftsrecht verstoße, wenn ein Mitgliedstaat die Erstattung zu Unrecht erhobener
Abgaben verweigere, falls sie zu einer ungerechtfertigten Bereicherung führen würde. Der bloße
Umstand, dass die durch die Abgabe hervorgerufene Belastung beispielsweise auf einen
Kunden abgewälzt worden sei, bedeute jedoch nicht zwingend, dass der Einzelhändler keine
wirtschaftliche Einbuße erlitten habe, da er möglicherweise die mit der Abgabe verbundene
Belastung mit dem normalen Preis selbst getragen habe oder Umsatzverluste habe hinnehmen
müssen, indem er in Anbetracht der Abgabe die Preise erhöht habe. Nach Ansicht des
Generalanwalts sollte das nationale Gericht solchen Faktoren bei der Auslegung der Bestimmung
Rechnung tragen.
Generalanwalt Jacobs verweist zudem darauf, dass bestimmte Vermutungen oder Beweisregeln,
die dem Abgabepflichtigen die Beweislast auferlegten, und bestimmte Verfahrensfristen die
Erstattung einer zu Unrecht erhobenen Abgabe praktisch unmöglich machen oder
übermäßig erschweren könnten, vor allem dann, wenn sie rückwirkend angewandt würden .
Es sei nicht Sache des Gerichtshofes der EG, das innerstaatliche Verfahrensrecht auszulegen; das
vorlegende Gericht müsse sich jedoch davon überzeugen, dass die Vorschriften über die
Beweismittel nicht zu Ungunsten des Anspruchstellers ausgestaltet seien. Der Generalanwalt ist
speziell der Ansicht, dass es mit dem Effektivitätsgrundsatz unvereinbar wäre, gäbe es im
innerstaatlichen Verfahrensrecht eine Vermutung, dass die Belastung wirtschaftlich von
einem Dritten getragen worden sei, oder ein Erfordernis, dass der Anspruchsteller den
Gegenbeweis zu erbringen habe. Der Effektivitätsgrundsatz wäre auch verletzt, falls einePerson nach innerstaatlichem Verfahrensrecht verpflichtet wäre, Beweismittel vorzulegen, wenn
diese Verpflichtung zu der Zeit, als die Beweismittel hätten erlangt werden können, noch nicht
bestanden hätte.
Hinweis: Die Richter des Gerichtshofes treten nun in die Beratung dieser Rechtssache ein.
Das Urteil wird zu einem späteren Zeitpunkt verkündet.
Zur Verwendung durch die Medien bestimmtes nichtamtliches Dokument, das den Gerichtshof nicht bindet.
Dieses Dokument ist in Deutsch, Englisch und Französisch verfügbar.
Wegen des vollständigen Wortlauts der Schlussanträge konsultieren Sie bitte heute ab
ungefähr 15.00 Uhr unsere Homepage im Internet www.curia.eu.int .
Mit Fragen wenden Sie sich bitte an Herrn Konstantin Schmidt, |
1 - Urteil vom 9. März 2000 in der Rechtssache C-437/97 (EKW und Wein & Co.) - s. auch Pressemitteilung Nr. 12/2000.