Abteilung Presse und Information

PRESSEMITTEILUNG N. 21/03

20. März 2003

Schlussanträge von Generalanwalt Jacobs in der Rechtssache C-147/01

Weber's Wine World u. a./ Abgabenberufungskommission Wien

DAS GEMEINSCHAFTSRECHT STEHT EINER BESTIMMUNG DES INNERSTAATLICHEN RECHTS NICHT ENTGEGEN, DURCH DIE DAS RECHT EINER PERSON AUF ERSTATTUNG EINER FÜR MIT DEM GEMEINSCHAFTSRECHT UNVEREINBAR BEFUNDENEN ABGABE RÜCKWIRKEND EINGESCHRÄNKT WIRD, SOFERN DIESE BESTIMMUNG DEN ANFORDERUNGEN DES EFFEKTIVITÄTSGRUNDSATZES UND DES ÄQUIVALENZGRUNDSATZES GENÜGT

Eine solche Bestimmung verstieße gegen den Effektivitätsgrundsatz, wenn mit ihr vermutet würde, eine ungerechtfertigte Bereicherung liege vor, wenn die Belastung durch die Abgabe auf einen Dritten abgewälzt wurde, oder wenn sie eine Verpflichtung zur Vorlage von Beweismitteln aufstellte, die zu der Zeit, als die Beweismittel erlangt werden konnten, nicht vorhersehbar war.


In Österreich war der Vertrieb von Getränken und Speiseeis bis zum Jahr 2000 mit bestimmten Gemeinde- und Landessteuern belegt. Die österreichischen Gemeinden bestritten einen erheblichen Teil ihrer Einnahmen aus diesem Steueraufkommen. Die Einzelhändler berechneten den von ihnen geschuldeten Steuerbetrag selbst und erklärten ihn gegenüber der Verwaltung.

Im März 2000 entschied der Gerichtshof der EG, dass eine Verbrauchsteuerrichtlinie der Gemeinschaft aus dem Jahr 1991 der Erhebung dieser Steuern, soweit sie alkoholische Getränke betrafen, entgegenstehe1. Die Wirkung dieses Urteils wurde jedoch auf Erstattungsansprüche von Anspruchstellern beschränkt, die bereits vor diesem Zeitpunkt Klage erhoben oder einen entsprechenden Rechtsbehelf eingelegt hatten.

Eine Woche vor Erlass dieses Urteils hatte der Wiener Landtag die Vorschriften über die Erstattung von Steuerguthaben geändert, so dass der Abgabepflichtige Abgaben, die - auch vor dieser Änderung - zu Unrecht erhoben worden waren, nicht mehr wiedererlangen konnte, falls die Belastung wirtschaftlich von einem Dritten getragen worden war. Die einzige Ausnahme von dieser Vorschrift betraf Personen, die Anspruch auf Erstattung einer vom Verfassungsgerichtshof für rechtswidrig befundenen Abgabe erhoben.

Allein in Wien sind etwa 16 000 Ansprüche auf Steuererstattung in Höhe von rund 3 Milliarden ATS anhängig. Mindestens vier dieser Ansprüche wurden von den Abgabenbehörden zurückgewiesen, und gegen die Zurückweisungsentscheidungen wurde Beschwerde beim österreichischen Verwaltungsgerichtshof eingelegt. Die Beschwerdeführer sind Weber's Wine World, zwei Restaurants und ein Gasthaus. Das österreichische Gericht möchte vom Gerichtshof wissen, ob die vom Wiener Landtag eingeführte Änderung mit dem erwähnten EuGH-Urteil vom 9. März 2000 und mit Artikel 10 EG-Vertrag [Gemeinschaftstreuepflicht der Mitgliedstaaten] vereinbar ist.

Generalanwalt Jacobs hat heute seine Schlussanträge in dieser Rechtssache vorgetragen.

Die Ansicht des Generalanwalts ist für den Gerichtshof nicht bindend. Aufgabe des Generalanwalts ist es, dem Gerichtshof in völliger Unabhängigkeit eine rechtliche Lösung der von ihm bearbeiteten Rechtssachen vorzuschlagen.  

Der Generalanwalt weist darauf hin, dass zwar feststehe, dass dem Einzelnen ein Recht auf Erstattung innerstaatlicher Abgaben zustehe, die unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht erhoben worden seien, dass es aber Sache der Mitgliedstaaten sei, die Ausgestaltung der auf diese Erstattung anwendbaren Verfahren festzulegen. Er schlägt dem Gerichtshof vor, zu antworten, dass die Änderung nicht gegen Gemeinschaftsrecht verstoße, sofern sie dahin ausgelegt werde, dass sie nicht weniger günstig gestaltet sei als bei entsprechenden Fällen, die nur innerstaatliches Recht beträfen (Äquivalenzgrundsatz), und die Ausübung der durch die Gemeinschaftsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich mache oder übermäßig erschwere (Effektivitätsgrundsatz).

Zum Äquivalenzgrundsatz stellt der Generalanwalt fest, dass die Novelle ihrem Wortlaut nach nicht ausdrücklich unterscheide zwischen Klagen, die auf nationales Recht, und solchen, die auf Gemeinschaftsrecht gestützt seien. Die Ausnahme für Personen, die ein Verfahren vor dem Verfassungsgerichtshof angestrengt hätten, könne gegen den Äquivalenzgrundsatz verstoßen, da sie darauf hinauslaufen könne, dass diejenigen, die gegen für mit nationalem Recht unvereinbar befundene Abgaben vorgingen, günstiger behandelt würden als diejenigen, die gegen für mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar befundene Abgaben vorgingen.

Zum Effektivitätsgrundsatz führt der Generalanwalt aus, dass es nicht gegen Gemeinschaftsrecht verstoße, wenn ein Mitgliedstaat die Erstattung zu Unrecht erhobener Abgaben verweigere, falls sie zu einer ungerechtfertigten Bereicherung führen würde. Der bloße Umstand, dass die durch die Abgabe hervorgerufene Belastung beispielsweise auf einen Kunden abgewälzt worden sei, bedeute jedoch nicht zwingend, dass der Einzelhändler keine wirtschaftliche Einbuße erlitten habe, da er möglicherweise die mit der Abgabe verbundene Belastung mit dem normalen Preis selbst getragen habe oder Umsatzverluste habe hinnehmen müssen, indem er in Anbetracht der Abgabe die Preise erhöht habe. Nach Ansicht des Generalanwalts sollte das nationale Gericht solchen Faktoren bei der Auslegung der Bestimmung Rechnung tragen.

Generalanwalt Jacobs verweist zudem darauf, dass bestimmte Vermutungen oder Beweisregeln, die dem Abgabepflichtigen die Beweislast auferlegten, und bestimmte Verfahrensfristen die Erstattung einer zu Unrecht erhobenen Abgabe praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren könnten, vor allem dann, wenn sie rückwirkend angewandt würden . Es sei nicht Sache des Gerichtshofes der EG, das innerstaatliche Verfahrensrecht auszulegen; das vorlegende Gericht müsse sich jedoch davon überzeugen, dass die Vorschriften über die Beweismittel nicht zu Ungunsten des Anspruchstellers ausgestaltet seien. Der Generalanwalt ist speziell der Ansicht, dass es mit dem Effektivitätsgrundsatz unvereinbar wäre, gäbe es im innerstaatlichen Verfahrensrecht eine Vermutung, dass die Belastung wirtschaftlich von einem Dritten getragen worden sei, oder ein Erfordernis, dass der Anspruchsteller den Gegenbeweis zu erbringen habe. Der Effektivitätsgrundsatz wäre auch verletzt, falls einePerson nach innerstaatlichem Verfahrensrecht verpflichtet wäre, Beweismittel vorzulegen, wenn diese Verpflichtung zu der Zeit, als die Beweismittel hätten erlangt werden können, noch nicht bestanden hätte.

Hinweis: Die Richter des Gerichtshofes treten nun in die Beratung dieser Rechtssache ein. Das Urteil wird zu einem späteren Zeitpunkt verkündet.


Zur Verwendung durch die Medien bestimmtes nichtamtliches Dokument, das den Gerichtshof nicht bindet.

Dieses Dokument ist in Deutsch, Englisch und Französisch verfügbar.

Wegen des vollständigen Wortlauts der Schlussanträge konsultieren Sie bitte heute ab ungefähr 15.00 Uhr unsere Homepage im Internet www.curia.eu.int .

Mit Fragen wenden Sie sich bitte an Herrn Konstantin Schmidt,
Tel.: (0 03 52) 43 03-32 55; Fax: (0 03 52) 43 03-27 34.
 

1 -     Urteil vom 9. März 2000 in der Rechtssache C-437/97 (EKW und Wein & Co.) - s. auch Pressemitteilung Nr. 12/2000.