PRESSEMITTEILUNG N. 48/03
Generalanwalt Geelhoed hat heute seine Schlussanträge in dieser Rechtssache vorgetragen.
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Umstände, unter denen eine nationale Rechtsprechung als Grundlage für eine Vertragsverletzung dienen könne:
1. Status der betreffenden gerichtlichen Entscheidungen
Verstoße die nationale Rechtsprechung der höchsten nationalen Gerichte, die innerhalb der
nationalen Rechtsordnung von den unteren Gerichten als richtungsweisend beachtet werden
müssten, gegen das Gemeinschaftsrecht, so könne das zur Untergrabung der praktischen
Wirksamkeit der betreffenden gemeinschaftsrechtlichen Bestimmung in dem Mitgliedstaat oder
zu unerwünschten Folgen für das Wettbewerbsverhalten auf dem Binnenmarkt oder für den
zwischenstaatlichen Handelsverkehr führen.
2. Strukturelle Natur der Verletzung der Gemeinschaftspflichten
Gehe es um einen Trend in der nationalen Rechtsprechung, der den Gemeinschaftspflichten
zuwiderlaufe, oder um eine Rechtsprechung, die seit längerer Zeit bestehe, oder um eine neue
Entwicklung, die in der Berufungs- und/oder Revisionsinstanz bestätigt werde, könne davon
ausgegangen werden, dass es sich um eine strukturelle Erscheinung handele.
3. Wirkung der nationalen Entscheidungen auf die Verwirklichung des Zieles
Wenn nationale Urteile bewirkten, dass diejenigen, die in dem betreffenden Mitgliedstaat aus
dem Gemeinschaftsrecht Rechte herleiteten, unter anderen Voraussetzungen handeln müssten als
Wettbewerber oder (juristische) Personen unter vergleichbaren Voraussetzungen anderswo in der
Gemeinschaft, werde eindeutig die Einheit des Gemeinschaftsrechts angetastet, seine praktische
Wirksamkeit untergraben und der Rechtsuchende um seine Rechte gebracht.
Grundprinzipien hinsichtlich der Rückforderung von Abgaben, die unter Verstoß gegen
Gemeinschaftsrecht gezahlt wurden.
Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes sei ein Mitgliedstaat verpflichtet, unter
Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht erhobene Abgaben an den Abgabenpflichtigen
zurückzuzahlen. Es gebe jedoch eine Ausnahme: Ein Mitgliedstaat könne den Antrag auf
Rückzahlung zu Unrecht gezahlter Beträge ablehnen, wenn feststehe, dass die Abgabe ganz zu
Lasten einer anderen Person gegangen sei und die Erstattung zu einer ungerechtfertigten
Bereicherung führen würde.
Es stehe fest, dass der betroffene Unternehmer infolge der zu Unrecht erhobenen Abgabe einen
Schaden erleide. Er könne die Abgabe zwar je nach Preiselastizität der Nachfrage ganz oder
teilweise weitergeben, aber damit könne noch nicht davon ausgegangen werden, dass eine
Abwälzung der wirtschaftlichen Belastung vorliege. Die wirtschaftliche Belastung, die der
Unternehmer tragen müsse, sei stets größer als der Betrag der Abgabe selbst. Dieser Schaden
bestehe nicht nur aus einem Umsatz- und Gewinnrückgang, sondern z. B. auch aus der Einengung
des geschäftlichen Spielraums, wodurch der Unternehmer in seinen Möglichkeiten zur
Anpassung seiner Marktstrategie beschränkt werde.
Nach Ansicht des Generalanwalts muss die nationale Finanzverwaltung nachweisen, dass diese
wirtschaftliche Belastung neutralisiert wurde, um von der Rückzahlung absehen zu können.
Jedenfalls sei hierfür eine gründliche Analyse des Marktes erforderlich, und die nationale
Verwaltung könne sich nicht auf eine Untersuchung der Buchhaltung beschränken. Auf der
Verwaltung ruhe deshalb eine schwere Beweislast.
Der italienische Gesetzesartikel sei völlig neutral formuliert und enthalte keine Tatbestandsmerkmale, die der Gerichtshof früher als Verletzung von Gemeinschaftspflichten angesehen habe. Nach Auffassung des Generalanwalts hat diese Vorschrift aber aufgrund ihrer Unbestimmtheit Raum für die Beibehaltung oder Entwicklung einer Rechtspraxis gelassen, die nicht mit der Rechtsprechung des Gerichtshofes im Einklang stehe.
Der Generalanwalt stellt fest, dass es hier um eine jahrelange Praxis gehe, die strukturellen
Charakter habe. Dies ergebe sich vor allem daraus, dass die Beweisführung aufgrund einer
Vermutung und der Schluss auf eine Abwälzung, falls der Abgabenpflichtige die geforderten
Unterlagen nicht vorlegen könne, vom höchsten italienischen Gericht gebilligt würden. Wenn
untere Gerichte im Einklang mit den Gemeinschaftspflichten entschieden, könnten die
entsprechenden Urteile in der Kassationsinstanz aufgehoben werden. Der strukturelle Charakter
gehe auch aus der von der Verwaltung verfolgten Politik hervor. Außerdem habe diese
Rechtspraxis eine unmittelbare Auswirkung auf die Wettbewerbsstellung der
Binnenmarktteilnehmer, wenn es um finanzielle Ansprüche gehe.
Der Generalanwalt gelangt zu dem Ergebnis, dass die Italienische Republik gegen ihre
Verpflichtungen aus dem EG-Vertrag verstoßen habe, da es den Abgabenpflichtigen unmöglich
oder übermäßig schwer gemacht werde, ihr Recht auf Erstattung von Abgaben geltend zu
machen, die unter Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht erhoben worden seien.
Hinweis: Die Richter des Gerichtshofes beginnen nunmehr mit der Beratung in dieser
Rechtssache. Das Urteil wird zu einem späteren Zeitpunkt verkündet.
Dieses Dokument liegt in französischer, englischer, deutscher, italienischer, spanischer
und niederländischer Sprache vor.
Wegen des vollständigen Wortlauts der Schlussanträge konsultieren Sie bitte heute ab
ungefähr 15.00 Uhr unsere Homepage im Internet www.curia.eu.int .
Mit Fragen wenden Sie sich bitte an Frau Isabelle Phalippou,
das den Gerichtshof nicht bindet.
Tel.: (00352) 4303 3255; Fax: (00352) 4303 2734.