Abteilung Presse und Information
PRESSEMITTEILUNG N1 72/03
11. September 2003
Schlussanträge der Generalanwältin Christine Stix-Hackl in den verbundenen Rechtssachen C-482/01 und C-493/01
Georgios Orfanopoulos gegen Land Baden- Württemberg und Raffaele Oliveri gegen Land Baden-Württemberg
DIE GENERALANWÄLTIN ÄUSSERT SICH ZUR BEFUGNIS DER MITGLIEDSTAATEN, DIE FREIZÜGIGKEIT VON ARBEITNEHMERN AUS
GRÜNDEN DER ÖFFENTLICHEN ORDNUNG ZU BESCHRÄNKEN, INSBESONDERE GEMEINSCHAFTSBÜRGER WEGEN BESTIMMTER STRAFTATEN IN EINEN
ANDEREN MITGLIEDSTAAT AUSZUWEISEN
Nach Ansicht der Generalanwältin sind nationale Vorschriften gemeinschaftsrechtswidrig, die eine Prüfung des Einzelfalls
unmöglich machen.
Raffaele Oliveri, italienischer Staatsangehöriger, wurde 1977 in Deutschland geboren, wo er seitdem lebt.
Er ist drogenabhängig und hat mehrere Straftaten wegen Diebstahls sowie eine Straftat wegen
unerlaubten Handels mit Betäubungsmitteln begangen. Er verbüßt deshalb eine Haftstrafe. Eine Therapie brach
er ab. Mit Bescheid vom 29.8.00 hat das Regierungspräsidium Stuttgart Herrn O. die
Abschiebung nach Italien ohne Fristsetzung angedroht. Dieser hat dagegen Klage vor dem Verwaltungsgericht
Stuttgart erhoben. Mit Schreiben vom 20.6.01 teilte sein Gefängniskrankenhaus mit, dass er seit
1998 HIV infiziert ist und sich seit 2001 im Stadium Aids befindet; in
Italien sei er nicht ausreichend versorgbar.
Das deutsche Gericht möchte wissen, ob diese Ausweisungen gegen Gemeinschaftsvorschriften, insbesondere die im
EG-Vertrag verankerte Freizügigkeit der Arbeitnehmer und eine einschlägige Gemeinschaftsrichtlinie verstoßen. Es hat deshalb
dem Gerichtshof der EG Fragen vorgelegt.
Generalanwältin Christine Stix-Hackl trägt heute ihre Schlussanträge in diesen Rechtssachen vor.
Die Ansicht des Generalanwalts ist für den Gerichtshof nicht bindend. Aufgabe des Generalanwalts ist es, dem Gerichtshof in völliger Unabhängigkeit eine rechtliche Lösung der von ihm bearbeiteten Rechtssachen vorzuschlagen. |
Die Generalanwältin weist darauf hin, dass gemäß der Gemeinschaftsrichtlinie ausschließlich das persönliche Verhalten
der in Betracht kommenden Personen ausschlaggebend sein darf. Die Richtlinie verlange eine gegenwärtige
und konkrete Gefährdung. Weiters betont sie, dass eine frühere strafrechtliche Verurteilung nur insoweit
berücksichtigt werden dürfe, als die ihr zugrunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen
ließen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstelle. Die zuständigen Behörden müssten
ihre Entscheidung auf eine Prognose über das zukünftige Verhalten des jeweils Betroffenen stützen:
einen wichtigen Umstand bildeten dabei u. a. Art und Anzahl bisheriger Verurteilungen, eine
allfällige Wiederholungsgefahr, die Aussetzung der Strafvollstreckung zur Bewährung sowie die Beurteilung eventueller Krankheiten.
Die Generalanwältin hebt hervor, dass die nationalen Behörden und Gerichte auch die Bestimmung
des Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention zu beachten haben (Achtung des Privat- und
Familienlebens).
Bei der erforderlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung seien die Aufenthaltsdauer sowie die Kenntnisse der Sprache des
Herkunftsstaates zu ermitteln und inwieweit die Betroffenen in familiärer, beruflicher und sozialer Hinsicht
in Deutschland integriert seien.
Wesentliche Kriterien seien auch, ob den Angehörigen ein Umzug zugemutet werden könne, wo
eine Resozialisierung leichter sei, eine eventuelle wiederholte Rückfälligkeit und die tatsächliche Länge der
Freiheitsstrafen.
Das nationale Recht dürfe daher in Fällen wie denen der Ausgangsverfahren als Rechtsfolge
nicht zwingend die Ausweisung vorsehen, da dies eine Verhinderung der Prüfung im Einzelfall
bedeuten würde.
Ferner kritisiert die Generalanwältin, das ihrer Ansicht nach das Bundesland Baden-Württemberg insofern gegen
die Gemeinschaftsrichtlinie verstoße, als es im Falle der Zuständigkeit des Regierungspräsidiums für den
Erlass einer Ausweisungsverfügung an einer Aunabhängigen Stelle@ fehle, die so die Rechtsprechung des
Gerichtshofes alle Tatsachen und Umstände einschließlich der Zweckmäßigkeit der beabsichtigten Maßnahme noch einmal
prüft, bevor die Entscheidung endgültig erlassen wird.
Schließlich untersucht die Generalanwältin, ob nationale Gerichte verpflichtet seien, bestimmte Entwicklungen in der
Person des Betroffenen nach der letzten Behördenentscheidung zu berücksichtigen. Hier geht es im
Besonderen im Falle des Herrn Oliveri um den Ausbruch der Krankheit Aids. Auch
dazu führt die Generalanwältin aus, dass zu prüfen sei, ob eine gegenwärtige Gefährdung
der öffentlichen Ordnung vorliege, wobei eine Prognose für die Zukunft erforderlich sein kann.
Bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit der Ausweisung des Unionsbürgers müsse es möglich sein,
neue Entwicklungen zu berücksichtigen.
Hinweis: Die Richter des Gerichtshofes beginnen nunmehr mit der Beratung in diesen Rechtssachen.
Das Urteil wird zu einem späteren Zeitpunkt verkündet.
Dieses Dokument liegt in deutscher, englischer, französischer, italienischer, griechischer und niederländischer Sprache vor. Wegen des vollständigen Wortlauts der Schlussanträge konsultieren Sie bitte heute ab ungefähr 15.00 Uhr unsere Homepage im Internet www.curia.eu.int Mit Fragen wenden Sie sich bitte an Frau Isabelle Phalippou, Tel.: (0 03 52) 43 03-32 55; Fax: (0 03 52) 43 03-27 34. |
Richtlinie 64/221/EWG des Rates vom 25. Februar 1964 zur Koordinierung der Sondervorschriften für
die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen
Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind; ABl. Nr. P 56, S. 850.