Abteilung Presse und Information

PRESSEMITTEILUNG N° 13/04

11. März 2004



Urteil des Gerichtshofes in der Vorabentscheidungssache C-9/02

de Lasteyrie du Saillant

DIE FRANZÖSISCHEN STEUERVORSCHRIFTEN, NACH DENEN LATENTE WERTSTEIGERUNGEN ALLEIN DESWEGEN BESTEUERT WERDEN, WEIL EIN STEUERPFLICHTIGER SEINEN WOHNSITZ IN EINEN ANDEREN MITGLIEDSTAAT VERLEGT, BESCHRÄNKEN DIE NIEDERLASSUNGSFREIHEIT

Sie stellen eine abschreckende Ungleichbehandlung dar, die sich wegen ihrer Unverhältnismäßigkeit hinsichtlich des verfolgten Zieles, der Steuerflucht vorzubeugen, nicht durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses rechtfertigen lässt



Als der Kläger Hughes de Lasteyrie du Saillant im September 1998 Frankreich verließ, um seine Erwerbstätigkeit in Belgien auszuüben, hielt er zu irgendeinem in den letzten fünf Jahren vor seinem Wegzug aus Frankreich liegenden Zeitpunkt mit seinen Familienangehörigen unmittelbar oder mittelbar Wertpapiere, die zum Bezug von mehr als 25 % der Gewinne einer Gesellschaft berechtigten, die gesellschaftssteuerpflichtig war und ihren Sitz in Frankreich hatte. Der Kläger wurde gemäß den Vorschriften des Code Général des Impôts, die für Steuerpflichtige gelten, die ihren steuerlichen Wohnsitz ins Ausland verlegen, sofort für die nicht realisierten (latenten) Wertsteigerungen dieser Wertpapiere steuerpflichtig, da ihr gemeiner Wert damals über ihrem Anschaffungspreis lag.

Es ist zwar möglich, einen Zahlungsaufschub zu erhalten, dieser erfolgt jedoch nicht automatisch und ist an strenge Voraussetzungen geknüpft, u. a. an die Leistung von Sicherheiten und die Benennung eines Bevollmächtigten in Frankreich.

Da der Kläger der Ansicht war, dass diese Vorschriften eine „Ungleichbehandlung“ vorsähen, da sie nur die Steuerpflichtigen benachteiligten, die Frankreich verlassen wollten, und dass sie hinsichtlich des behaupteten Zieles, die Steuerflucht zu bekämpfen, unverhältnismäßig seien, beantragte er beim Conseil d'État, das Dekret, mit dem diese Vorschriften eingeführt wurden, wegen Befugnisüberschreitung für nichtig zu erklären.

Der Conseil d'État hat beschlossen, dem Gerichtshof die Frage vorzulegen, ob die französischen Rechtsvorschriften, die zur Vorbeugung gegen die Steuerflucht eine Regelung einführen, wonach Wertsteigerungen bei Verlegung des steuerlichen Wohnsitzes besteuert werden, mit dem im EGVertrag verankerten Grundsatz der Niederlassungsfreiheit vereinbar sind.

Die französische Steuermaßnahme, wonach latente Wertsteigerungen bei Verlegung des Wohnsitzes besteuert werden, ist geeignet, die Niederlassungsfreiheit zu beschränken.

Zunächst weist der Gerichtshof darauf hin, dass die Niederlassungsfreiheit eine der Grundfreiheiten des Gemeinschaftsrechts darstellt, und erinnert daran, dass nach ständiger Rechtsprechung die Wahrung dieser Freiheit es verbietet, dass ein Herkunftsmitgliedstaat die Niederlassung seiner Staatsangehörigen in einem anderen Mitgliedstaat u. a. durch Steuermaßnahmen behindert. Nach Auffassung des Gerichtshofes ist die fragliche Vorschrift geeignet, die Ausübung dieses Rechts zu beschränken, da sie für Steuerpflichtige, die sich in einem anderen Mitgliedstaat niederlassen wollen, zumindest abschreckende Wirkung hat, denn diese Steuerpflichtigen werden allein wegen der Verlegung ihres Wohnsitzes ins Ausland für ein noch nicht realisiertes Einkommen steuerpflichtig und somit gegenüber einer Person, die ihren Wohnsitz in Frankreich beibehält, benachteiligt.

Zudem hat der mögliche Zahlungsaufschub, der u. a. an die Leistung von Sicherheiten geknüpft ist, eine beschränkende Wirkung, da der Steuerpflichtige die als Sicherheit geleisteten Vermögenswerte nicht nutzen kann.

Eine solche Beschränkung kann nur zulässig sein, wenn mit ihr ein berechtigtes und mit dem EGVertrag zu vereinbarendes Ziel verfolgt wird und wenn sie durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist.

Diese Steuermaßnahme, die allein wegen der Verlegung des Wohnsitzes in einen anderen Mitgliedstaat die generelle Absicht der Steuerhinterziehung unterstellt, lässt sich nicht durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses rechtfertigen; sie ist hinsichtlich des verfolgten Zieles unverhältnismäßig.

Diese Vorschrift erfasst allgemein alle Fälle, in denen ein Steuerpflichtiger, der wesentliche Beteiligungen an einer körperschaftsteuerpflichtigen Gesellschaft hält, seinen Wohnsitz aus welchem Grund auch immer ins Ausland verlegt; sie unterstellt somit Steuerpflichtigen, die ihren Wohnsitz ins Ausland verlegen, die Absicht, das französische Steuerrecht zu umgehen. Der Gerichtshof ist außerdem der Auffassung, dass sich das verfolgte Ziel – zu verhindern, dass ein Steuerpflichtiger die Zahlung der in Frankreich auf die Wertsteigerungen zu entrichtenden Steuern umgeht – durch Maßnahmen erreichen lässt, die weniger einschneidend sind oder die Niederlassungsfreiheit weniger beschränken und sich spezifisch auf die Gefahr einer solchen vorübergehenden Wohnsitzverlegung beziehen, indem z. B. ein Steuerpflichtiger besteuert wird, der nach einem kurzen Aufenthalt und nach Realisierung der Wertsteigerungen nach Frankreich zurückkehrt.

Zur Verwendung durch die Medien bestimmtes nichtamtliches Dokument, das den Gerichtshof nicht bindet.

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