Abteilung Presse und Information

PRESSEMITTEILUNG NR. 13/97

20. März 1997

Urteil des Gerichtshofes in der Rechtssache C-24/95
Vorabentscheidungsersuchen des Bundesverwaltungsgerichts in dem Rechtsstreit Land Rheinland-Pfalz / Alcan Deutschland GmbH

Nationale Vorschriften können die Rückerstattung einer gemeinschaftsrechtwidrigen staatlichen Subvention nicht verhindern

Der Gerichtshof äußert sich zu den Bedingungen in § 48 VwVfG, die eine Rücknahme eines rechtswidrigen bestandskräftigen Verwaltungsakts, mit dem eine von der Europäischen Kommission als gemeinschaftsrechtswidrig erklärte staatliche Beihilfe gewährt worden war, nicht ausschließen können.


Wegen einer Kopie des Urteils wenden Sie sich bitte an Frau Delia Nynabb - Tel.: (00352) 4303-3365, wegen zusätzlicher Information an Frau Dr. Ulrike Städtler - Tel.: (00352) 4303-3255


I. Tatsächlicher und rechtlicher Rahmen

Sachverhalt

Alcan betrieb von 1979 bis 1987 eine Aluminiumhütte in Ludwigshafen, deren Fortbestand 1982 wegen erheblicher Strompreiserhöhungen gefährdet war. Da sie beabsichtigte, die Hütte zu schließen und die Verträge der 330 Arbeitnehmer zu kündigen, bot ihr die Landesregierung eine Überbrückungsbeihilfe von 8 Millionen DM zum Ausgleich der Stromkosten an.

Nachdem die Kommission aus der Presse Kenntnis von diesem Vorhaben erhalten hatte, bat sie die Bundesregierung mit Fernschreiben vom 7. März 1983 um Auskunft. Während das Auskunftsverlangen und dann das Verfahren der Kommission zur Prüfung, ob die geplante Beihilfe zulässig und mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar sei, noch lief, bewilligte das Bundesland mit Bescheid vom 9.6.1983 Alcan einen ersten Teil der Beihilfe von 4 Millionen DM und mit Bescheid vom 30.11.1983 die restlichen 4 Millionen DM. Am 13.12.1983 teilten die nationalen Behörden Alcan mit, daß die Kommission nicht über die Beihilfe unterrichtet worden sei.

Mit der Entscheidung 86/60/EWG vom 14.12.1985 über die Beihilfe des Bundeslandes Rheinland-Pfalz an einen Primäraluminiumhersteller in Ludwigshafen (ABl. 1986, L 72, S. 30) stellte die Kommission fest, daß die Beihilfe unzulässig sei, da ihre Gewährung einen Verstoß gegen Artikel 93 Absatz 3 EWG-Vertrag darstelle, und daß sie mit dem Gemeinsamen Markt im Sinne des Artikels 92 unvereinbar sei. - Art. 93 Abs. 3 EWG-Vertrag verpflichtet die Mitgliedstaaten zur vorherigen Unterrichtung der Kommission über eine geplante Beihilfe, damit diese sie prüfen kann. Gemäß Art. 92 sind staatliche Beihilfen, die durch die Begünstung bestimmter Unternehmer oder Produktionszweige den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen, mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar, soweit sie den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen. - Die Kommission ordnete die Rückforderung der Beihilfe an.

Der rechtliche Rahmen für die Rückzahlungsweigerung

Weder die deutsche Regierung noch Alcan haben die Entscheidung 86/60 vor dem Gerichtshof angefochten.

Auf die Klage der Kommission gegen Deutschland stellte der Gerichtshof mit Urteil vom 2.2.1989 fest, daß die Bundesrepublik Deutschland gegen ihre Verpflichtungen aus dem EWG-Vertrag verstoßen hatte, indem sie der Entscheidung 86/60 nicht nachgekommen war. Daraufhin nahm das Bundesland mit Bescheid vom 29.9.1989 die früheren Bewilligungsbescheide zurück und forderte die Rückzahlung der Beihilfe.

Dagegen erhob Alcan Anfechtungsklage, der das Verwaltungsgericht Mainz stattgab. Nachdem das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz die Berufung des Landes zurückgewiesen hatte, hat dieses Revision an das Bundesverwaltungsgericht eingelegt. Alcan stützt ihre Weigerung, die Beträge zu erstatten, auf § 48 des deutschen Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG), der in Rheinland-Pfalz gemäß § 1 Absatz 1 des Landesverwaltungsverfahrensgesetzes gilt. Danach darf ein zwar bestandskräftiger aber rechtswidriger Verwaltungsakt nicht zurückgenommen werden, wenn

Das Bundesverwaltungsgericht ist der Ansicht, daß diese drei Voraussetzungen erfüllt sind und deshalb die Beihilfebescheide nach deutschem Recht nicht zurückgenommen werden könnten - es sei denn, aus dem Gemeinschaftsrecht ergäbe sich etwas anderes.

Das Vorabentscheidungsersuchen

Das Bundesverwaltungsgericht ist deshalb der Auffassung, daß die Entscheidung des Rechtsstreits von der Auslegung der Art. 92 und 93 EWG-Vertrag abhängt. Das Gericht hat deshalb das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof Fragen zur Auslegung dieser Gemeinschaftsvorschriften vorgelegt, auf die der Gerichtshof heute Antworten gibt. Diese sind für das nationale Gericht verbindlich und sollen ihm dabei helfen, jetzt den bei ihm anhängigen Rechtsstreit zu entscheiden.

II. Aus der Begründung des Urteils des Gerichtshofes

Der Gerichtshof befaßt sich mit den drei oben erwähnten, im deutschen Recht vorgesehenen Gründen, die eine behördliche Rücknahme eines rechtswidrigen bestandskräftigen Verwaltungsaktes verbieten.

Dabei ist eines der gemeinschaftsrechtlichen Prinzipien: Da die Überwachung der staatlichen Beihilfen durch die Kommission in Artikel 93 EWG-Vertrag zwingend vorgeschrieben ist, darf ein beihilfebegünstigtes Unternehmen auf die Ordnungsmäßigkeit der Beihilfe grundsätzlich nur dann vertrauen, wenn diese unter Einhaltung des darin vorgesehenen Verfahrens [=Meldung des Beihilfevorhabens und Prüfung der Kommission vor Gewährung] gewährt wurde. Einem sorgfältigen Gewerbetreibenden ist es regelmäßig möglich, sich zu vergewissern, daß dieses Verfahren eingehalten wurde.

1. Zur einjährigen Ausschlußfrist nach nationalem Recht

Zur Frage der im Interesse der Rechtssicherheit im nationalen Recht vorgesehenen einjährigen Ausschlußfrist führt der Gerichtshof deshalb aus, die Beihilfe sei ohne vorherige Anmeldung bei der Kommission gewährt worden, so daß sie gemäß Artikel 93 Absatz 3 des Vertrages rechtswidrig war. Der erste Teilbetrag der Beihilfe wurde nämlich am 9. Juni 1983 ohne vorherige Unterrichtung der Kommission und der zweite Teilbetrag am 30. November 1983 ausgezahlt, nachdem die Kommission in einem Schreiben vom 25. November 1983 die Bundesregierung darauf hingewiesen hatte, daß die Gewährung des ersten Teilbetrags rechtswidrig gewesen sei und der zweite Teilbetrag nicht ausgezahlt werden dürfe.

Gemäß dem genannten Grundsatz konnte die Beihilfeempfängerin somit zu diesem Zeitpunkt kein berechtigtes Vertrauen in die Ordnungsmäßigkeit der Gewährung der Beihilfe haben.

Die Entscheidung 86/60, in der die Beihilfe für mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar erklärt sowie die Rückforderung der gezahlten Beträge angeordnet wurde, wurde am 14. Dezember 1985 erlassen, und Alcan hatte spätestens am 15. Januar 1986 von ihr Kenntnis.

Läßt die nationale Behörde gleichwohl die im nationalen Recht für die Rücknahme des Bewilligungsbescheids vorgesehene Ausschlußfrist verstreichen, so kann diese Situation nicht mit derjenigen gleichgesetzt werden, in der ein Wirtschaftsteilnehmer nicht weiß, ob die zuständige Behörde eine Entscheidung treffen wird, und in der der Grundsatz der Rechtssicherheit verlangt, daß diese Ungewißheit nach Ablauf einer bestimmten Frist beendet wird.

2. Zum nationalen Ausschlußgrund "Verantwortlichkeit der Behörde für die Rechtswidrigkeit der Maßnahme"

Hierzu betont der Gerichtshof, daß eine Behörde auch dann die Beihilfen zurückverlangen muß, wenn sie selbst in so hohem Maße für deren Rechtswidrigkeit verantwortlich war, daß dies dem Begünstigten als Verstoß gegen Treu und Glauben erscheint. Dieser könne sich jedenfalls nicht auf ein berechtigtes Vertrauen berufen, da er wissen mußte, daß die Beihilfe von Anfang an rechtswidrig war.

3. Zum nationalen Ausschlußgrund "Wegfall der Bereicherung mangels Bösgläubigkeit des Beihilfeempfängers"

Der Wegfall der Bereicherung ist nach Auffassung des Gerichtshofes bei staatlichen Beihilfen die Regel, da diese meist Unternehmen gewährt werden, die sich in Schwierigkeiten befinden und später den Vermögenszuwachs nicht mehr verfügbar haben. Die Zulassung des Entreicherungseinwandes als Ausschlußgrund würde daher die gemeinschaftsrechtlich gebotene Rückforderung praktisch unmöglich machen. Sie wird daher abgelehnt.

III. Die Entscheidung des Gerichtshofes

Der Gerichtshof antwortet dem deutschen Gericht:

  1. Die zuständige Behörde ist gemeinschaftsrechtlich verpflichtet, den Bewilligungsbescheid für eine rechtswidrig gewährte Beihilfe gemäß einer bestandskräftigen Entscheidung der Kommission, in der die Beihilfe für mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar erklärt und ihre Rückforderung verlangt wird, selbst dann noch zurückzunehmen, wenn sie die nach nationalem Recht im Interesse der Rechtssicherheit dafür bestehende Ausschlußfrist hat verstreichen lassen.
  2. Die zuständige Behörde ist gemeinschaftsrechtlich verpflichtet, den Bewilligungsbescheid für eine rechtswidrig gewährte Beihilfe gemäß einer bestandskräftigen Entscheidung der Kommission, in der die Beihilfe für mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar erklärt und ihre Rückforderung verlangt wird, selbst dann zurückzunehmen, wenn sie für dessen Rechtswidrigkeit in einem solchen Maße verantwortlich ist, daß die Rücknahme dem Begünstigten gegenüber als Verstoß gegen Treu und Glauben erscheint, sofern der Begünstigte wegen Nichteinhaltung des in Artikel 93 des Vertrages vorgesehenen Verfahrens kein berechtigtes Vertrauen in die Ordnungsmäßigkeit der Beihilfe haben konnte.
  3. Die zuständige Behörde ist gemeinschaftsrechtlich verpflichtet, den Bewilligungsbescheid für eine rechtswidrig gewährte Beihilfe gemäß einer bestandskräftigen Entscheidung der Kommission, in der die Beihilfe für mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar erklärt und ihre Rückforderung verlangt wird, selbst dann noch zurückzunehmen, wenn dies nach nationalem Recht wegen Wegfalls der Bereicherung mangels Bösgläubigkeit des Beihilfeempfängers ausgeschlossen ist.

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