Der Gerichtshof äußert sich zur Vereinbarkeit des § 110 ZPO mit Art. 6 EG-Vertrag
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Die Eheleute Hayes sind britische Staatsangehörige und Gesellschafter einer Gesellschaft englischen bürgerlichen Rechts. Sie haben gegen die Kronenberger GmbH, eine Gesellschaft deutschen Rechts in Liquidation, vor einem deutschen Gericht auf Bezahlung gelieferter Waren geklagt. Die Firma Kronenberger verlangt daraufhin von den Eheleuten, ihr zunächst gemäß § 110 der deutschen Zivilprozeßordnung (ZPO) wegen der Prozeßkosten Sicherheit zu leisten.
§ 110 der deutschen ZPO lautet:
"(1) Angehörige fremder Staaten, die [vor deutschen
Gerichten] als Kläger auftreten, haben dem Beklagten auf sein Verlangen
wegen der Prozeßkosten Sicherheit zu leisten...
(2) Diese
Verpflichtung tritt nicht ein:
1. wenn nach den Gesetzen des Staates, dem
der Kläger angehört, ein Deutscher in gleichem Falle zur
Sicherheitsleistung nicht verpflichtet ist..."
Das inzwischen als Berufungsgericht mit dem Rechtsstreit befaßte Saarländische Oberlandesgericht prüft zunächst die Voraussetzungen des § 110 Abs. 2 der deutschen ZPO und kommt zu dem Ergebnis, daß danach die Eheleute Hayes nicht befreit werden. Sie sind nämlich Staatsangehörige des Vereinigten Königreichs, das von ausländischen Staatsangehörigen eine solche Sicherheitsleistung verlangt, und sie haben in Deutschland weder einen Wohnsitz noch Vermögen.
Hier stellt sich dem deutschen Gericht die Frage, ob eine Verpflichtung der Eheleute Hayes zur Sicherheitsleistung nach der deutschen Vorschrift gegen Art. 6 EG-Vertrag verstieße. Art. 6 Abs. 1 lautet: "Unbeschadet besonderer Bestimmungen dieses Vertrags ist in seinem Anwendungsbereich jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten."
Da das Saarländische Oberlandesgericht der Ansicht ist, daß die Entscheidung des Rechtsstreits von der Auslegung des Art. 6 EG-Vertrag abhängt, hat es das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof eine allgemeine Frage zu dieser Gemeinschaftsvorschrift vorgelegt, auf die der Gerichtshof heute eine allgemeine Antwort gibt. Diese ist für das nationale Gericht verbindlich und soll ihm dabei helfen, jetzt in dem bei ihm anhängigen Rechtsstreit zu entscheiden.
Nach Ansicht des Gerichtshofes möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Artikel 6 Absatz 1 EG-Vertrag (früher Artikel 7 EWG-Vertrag) es einem Mitgliedstaat A verbietet, von einem Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats B, der in A keinen Wohnsitz und kein Vermögen hat und der bei einem der Zivilgerichte in A eine Klage gegen einen Angehörigen des Staates A erhoben hat, die Leistung einer Sicherheit wegen der Prozeßkosten zu verlangen (sofern der Mitgliedstaat B von den Angehörigen des Mitgliedstaats A eine entsprechende Sicherheitsleistung verlangt), wenn eine solche Sicherheitsleistung von einem Angehörigen des Mitgliedstaats A, der dort kein Vermögen und keinen Wohnsitz hat, nicht verlangt werden kann.
Zum Anwendungsbereich des Art. 6 Abs. 1 EG-Vertrag
Der Gerichtshof stellt fest, daß eine nationale Verfahrensvorschrift wie die oben beschriebene geeignet ist, die wirtschaftliche Betätigung der Wirtschaftsteilnehmer anderer Mitgliedstaaten auf dem Markt des betreffenden Staates zu beeinträchtigen, indem diese Wirtschaftsteilnehmer weniger leichten Zugang zu den Gerichten dieses Staates haben als dessen eigene Staatsangehörige. Das Gemeinschaftsrecht garantiert diesen Wirtschaftsteilnehmern aber den freien Waren- und Dienstleistungsverkehr im Gemeinsamen Markt.
Außerdem ist daraufhinzuweisen, daß nationale Rechtsvorschriften, die wegen ihrer Auswirkungen auf den innergemeinschaftlichen Austausch von Gütern und Dienstleistungen in den Anwendungsbereich des Vertrages fallen, dem in Artikel 6 Absatz 1 EG-Vertrag niedergelegten allgemeinen Diskriminierungsverbot unterliegen.
Zur Diskriminierung im Sinne des Art. 6 Abs. 1 EG-Vertrag
Artikel 6 EG-Vertrag, der "jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit" verbietet, verlangt in den Mitgliedstaaten die vollständige Gleichbehandlung von Personen, die sich in einer gemeinschaftsrechtlich geregelten Situation befinden, mit den Staatsangehörigen des betreffenden Mitgliedstaats. Es liegt auf der Hand, daß eine Vorschrift wie die im Ausgangsverfahren eine unmittelbare Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit darstellt: Von seinen eigenen Staatsangehörigen fordert der Mitgliedstaat nach einer solchen Vorschrift keine Sicherheitsleistung, selbst wenn sie kein Vermögen und keinen Wohnsitz in diesem Staat haben.
Zwischen bestimmten Mitgliedstaaten besteht tatsächlich die Gefahr, daß eine in einem Mitgliedstaat gegen Gebietsfremde ergangene Kostenentscheidung nicht oder zumindest sehr viel schwerer und unter höheren Kosten vollstreckt werden kann.
Die streitige Vorschrift verstößt aber gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, da sie eine unterschiedliche Behandlung nach Maßgabe der Staatsangehörigkeit des Klägers vorsieht. Zum einen ist sie nicht geeignet, die Erstattung der Prozeßkosten in allen grenzüberschreitenden Rechtsstreitigkeiten sicherzustellen, da von einem deutschen Kläger, der nicht in Deutschland wohnt und dort auch kein Vermögen besitzt, keine Sicherheitsleistung verlangt werden kann. Zum anderen steht sie in keinem Verhältnis zu dem angestrebten Ziel, soweit auch ein nichtdeutscher Kläger, der in Deutschland wohnt und dort Vermögen hat, zur Leistung einer Sicherheit verpflichtet werden könnte.
Der Gerichtshof antwortet dem deutschen Gericht:
"Artikel 6 Absatz 1 EG-Vertrag verbietet es einem Mitgliedstaat bei einer Klage, die mit der Ausübung der vom Gemeinschaftsrecht gewährleisteten Grundfreiheiten zusammenhängt, von einem Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats, der bei einem Zivilgericht des ersten Mitgliedstaats eine Klage gegen einen Staatsangehörigen dieses Staates erhoben hat, die Leistung einer Sicherheit wegen der Prozeßkosten zu verlangen, wenn eine solche Sicherheitsleistung von einem Staatsangehörigen dieses Staates, der dort keinen Wohnsitz und kein Vermögen hat, nicht verlangt werden kann."
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