Der Gerichtshof weist die Klage der Bundesrepublik Deutschland auf Nichtigerklärung der Gemeinschaftsrichtlinie über Einlagensicherungssysteme ab
Es geht um die Richtlinie 94/19/EG des Europäischen Parlaments und des Rates "über Einlagensicherungssysteme", die bis 1.7.1995 in den Mitgliedstaaten in nationales Recht umzusetzen war. "Einlagen" sind Beträge, die von einem Kreditinstitut an seine Kunden (Einleger) zurückzuzahlen sind. Ein "Einlagensicherungssytem" schützt im Falle, daß das Kreditinstitut die geschuldeten Einlagen an die Einleger nicht zurückzahlen kann.
Es gab nicht in allen Mitgliedstaaten Einlagensicherungssysteme. Zudem schützten die meisten von ihnen nicht die Einleger von Zweigstellen der in anderen Mitgliedstaaten zugelassenen Kreditinstitute. In der Bundesrepublik Deutschland existierte seit 1976 ein Einlagensicherungsfonds des Bundesverbandes der deutschen Banken, in dem die Mitgliedschaft - anders als in anderen Mitgliedstaaten - freiwillig war.
Nach Art. 57 Abs. 2 des EG-Vertrages können das Europäische Parlament und der Rat Richtlinien über die Aufnahme und Ausübung selbständiger Tätigkeiten erlassen, um die Hindernisse für die Niederlassungsfreiheit und den freien Dienstleistungsverkehr zu beseitigen.
Als ein solches Hindernis haben sich die grundlegenden Unterschiede zwischen den in den verschiedenen Mitgliedstaaten bestehenden Einlagensicherungssystemen herausgestellt. Infolgedessen wurden die diese Systeme betreffenden nationalen Rechtsvorschriften durch die Gemeinschaftsrichtlinie harmonisiert, um die Tätigkeit der Kreditinstitute auf Gemeinschaftsebene zu erleichtern.
Die Richtlinie selbst gibt u.a. folgende Gründe für ihrem Erlaß an:
Gemäß den Zielen des Vertrages empfiehlt es sich, die harmonische Entwicklung der Tätigkeiten der Kreditinstitute in der Gemeinschaft durch die Aufhebung aller Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs zu fördern und gleichzeitig die Stabilität des Bankensystems und den Schutz der Sparer zu erhöhen.
Werden die Beschränkungen der Tätigkeiten von Kreditinstituten aufgehoben, so ist es zweckmäßig, sich zugleich mit der Situation zu befassen, die im Falle des Nichtverfügbarwerdens der Einlagen in einem Kreditinstitut mit Zweigstellen in anderen Mitgliedstaaten entstehen kann. Ein Mindestmaß an Harmonisierung der Einlagensicherung muß gewährleistet sein ohne Rücksicht darauf, wo in der Gemeinschaft die Einlagen lokalisiert sind. Für die Vollendung des einheitlichen Bankenmarktes ist die Einlagensicherung genauso wichtig wie die aufsichtsrechtlichen Vorschriften.
Im Falle der Schließung eines zahlungsunfähigen Kreditinstituts müssen die Einleger der Zweigstellen, die in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen gelegen sind, in dem das Kreditinstitut seinen Sitz hat, durch dasselbe Sicherungssystem wie die übrigen Einleger des Instituts geschützt sein.
Die Richtlinie sieht die Pflichtmitgliedschaft aller Kreditinstitute in Einlagensicherungssystemen vor, für deren Errichtung jeder Mitgliedstaat zu sorgen hat und die sicherstellen, daß die Gesamtheit der Einlagen desselben Einlegers bei einem Kreditinstitut für den Fall, daß Einlagen nicht verfügbar sind, bis zu einem Betrag von 20 000 ECU abgedeckt wird. Außerdem schützen die in einem Mitgliedstaat geschaffenen Einlagensicherungssysteme auch die Einleger von Zweigstellen, die die Kreditinstitute in anderen Mitgliedstaaten errichtet haben.
Die mit der Richtlinie geschaffenen Mechanismen bewirken, daß es den Mitgliedstaaten verwehrt ist, in anderen Mitgliedstaaten zugelassene Kreditinstitute unter Berufung auf den Einlegerschutz an der Entfaltung ihrer Tätigkeit zu hindern.
Die Richtlinie sieht insbesondere vor: "In einem Mitgliedstaat ... errichtete und amtlich anerkannte Einlagensicherungssysteme schützen auch die Einleger von Zweigstellen, die die Kreditinstitute in anderen Mitgliedstaaten errichtet haben. Bis zum 31. Dezember 1999 dürfen weder Höhe noch Umfang Ä einschließlich der Quote Ä der dort gebotenen Deckung den Höchstbetrag und Höchstumfang der von dem entsprechenden Sicherungssystem des Aufnahmemitgliedstaats in dessen Hoheitsgebiet gewährten Deckung überschreiten..."
Die Richtlinie begründet dieses "Ausfuhrverbot" wie folgt:
Die Beibehaltung von Systemen, die den Einlegern eine über der harmonisierten Mindestdeckung liegende Sicherung anbieten, kann in ein und demselben Hoheitsgebiet zu unterschiedlich hohen Entschädigungen und zu unterschiedlichen Wettbewerbsbedingungen für inländische Institute einerseits und Zweigstellen von Instituten aus einem anderen Mitgliedstaat andererseits führen. Zur Abhilfe dieser unliebsamen Begleiterscheinungen ist es angebracht, den Anschluß von Zweigstellen an ein System des Aufnahmemitgliedstaats mit dem Zweck zu genehmigen, es diesen zu ermöglichen, ihren Einlegern die gleiche Sicherung anzubieten, wie sie durch das System des Niederlassungsstaats angeboten wird.
Durch Zweigstellen von Kreditinstituten, die eine höhere Deckung anbieten als die im Aufnahmemitgliedstaat zugelassenen Kreditinstitute könnten Störungen des Marktes verursacht werden. Die Höhe und der Umfang der Deckung, die von Sicherungssystemen angeboten werden, sollten nicht zu einem Instrument des Wettbewerbs werden. Zumindest für eine Anfangszeit ist daher vorzusehen, das die Höhe und der Umfang der Deckung, die ein System eines Herkunftsstaats den Einlegern von Zweigstellen in einem anderen Mitgliedstaat bietet, die maximale Höhe und den maximalen Umfang der vom entsprechenden System des Aufnahmemitgliedstaats angebotenen Deckung nicht überschreitet. Nach einigen Jahren sollte dann im Lichte der gesammelten Erfahrungen und der Entwicklungen im Bankensektor eine Überprüfung möglicher Störungen des Marktes vorgenommen werden.
Die Richtlinie wurde vom Rat zusammen mit dem Europäischen Parlament erlassen. Die Bundesrepublik Deutschland stimmte im Rat gegen ihren Erlaß.
Am 18.8.1994 hat die Bundesrepublik deshalb Klage beim Gerichtshof der EG gegen Rat und Parlament erhoben mit dem Antrag, die Richtlinie oder zumindest ihre zentralen Vorschriften insbesondere bzgl. "Ausfuhrverbot" von Einlagensicherungssystemen und Pflichtmitgliedschaft für nichtig zu erklären.
Der Gerichtshof der EG hat die Klage mit dem heutigen Urteil abgewiesen.
Die Bundesrepublik ist der Ansicht, die Richtlinie hätte auf einer anderen Rechtsgrundlage ergehen müssen (Art. 235 EG-Vertrag), die nach dem EG-Vertrag Einstimmigkeit des Rates vorausgesetzt hätte.
Der Gerichtshof weist dies zurück.
Die Bundesregierung trägt vor, die Richtlinie müsse wegen Verstoßes gegen die im EG-Vertrag vorgesehene Begründungspflicht für nichtig erklärt werden. Die Richtlinie enthalte nämlich keine Ausführungen zu ihrer Vereinbarkeit mit dem im Vertrag verankerten Subsidiaritätsprinzip. Die Gemeinschaftsorgane müßten detailliert darlegen, aus welchen Gründen nur die Gemeinschaft in dem fraglichen Bereich tätig werden könne, nicht aber die Mitgliedstaaten.
Der Gerichtshof stellt klar, daß die klagende Regierung keinen Verstoß der Richtlinie gegen das Subsidiaritätsprinzip geltend macht, sondern dem Gemeinschaftsgesetzgeber nur vorwirft, keine Gründe zur Rechtfertigung seines Handelns im Hinblick auf dieses Prinzip angegeben zu haben.
Dann prüft der Gerichtshof die in der Richtlinie angegebene Begründung von Rat und Parlament und kommt zum Ergebnis, der Gemeinschaftsgesetzgeber habe jedenfalls seine Auffassung deutlich gemacht, daß das mit seinem Tätigwerden verfolgte Ziel wegen der Dimension der vorgesehenen Maßnahme besser auf Gemeinschaftsebene verwirklicht werden konnte. Der Gemeinschaftsgesetzgeber habe außerdem festgehalten, daß dieses Ziel von den Mitgliedstaaten nicht in ausreichendem Maß verwirklicht werden konnte. Das Subsidiaritätsprinzip mußte dabei nicht ausdrücklich erwähnt werden.
Die Bundesrepublik trägt insbesondere vor, das "Ausfuhrverbot", das die Zweigstellen dazu zwinge, die Höhe ihrer Sicherung auf das Niveau des Aufnahmemitgliedstaats zu senken, führe dazu, daß die Ausübung ihrer Tätigkeit in diesem Staat erschwert oder behindert werde, und verstoße damit gegen das Ziel des Artikels 57 Absatz 2, das gerade darin bestehe, die Aufnahme und Ausübung selbständiger Tätigkeiten zu erleichtern. Das "Ausfuhrverbot" beeinträchtige auch den Prozeß der Verringerung der Unterschiede zwischen nationalen Sicherungssystemen und verstoße damit gegen das Ziel der Richtlinie, in allen Mitgliedstaaten Einlagensicherungssysteme einzuführen und die bereits bestehenden Systeme zu harmonisieren. Diese Ziele müßten durch ein Mindestmaß an Harmonisierung und die gegenseitige Anerkennung der nationalen Systeme erreicht werden. - Die deutsche Einlagensicherungsregelung, die für den Schutz der Sparer bei Zweigstellen in anderen Mitgliedstaaten gelte, werde von diesen Staaten nicht anerkannt, so daß das Schutzniveau dort reduziert werden müsse. Die daraus resultierende Verpflichtung der deutschen Kreditinstitute, für Zweigstellen in anderen Mitgliedstaaten differenzierte Beitragssätze einzuführen, würde zu erheblichen Schwierigkeiten führen und diese Kreditinstitute sogar daran hindern, Filialnetze in anderen Mitgliedstaaten zu errichten, wie sie dies ohne ein "Ausfuhrverbot" täten. Auch die italienischen, dänischen und französischen Kreditinstitute seien betroffen, da die Richtlinie sie dazu zwinge, das Schutzniveau für Einlagen bei Zweigstellen in einigen anderen Mitgliedstaaten zu senken.
Der Gerichtshof führt dazu insbesondere aus, das "Ausfuhrverbot" könne nicht allein deshalb als unvereinbar mit Artikel 57 Absatz 2 angesehen werden, weil es Fälle gebe, die für die Zweigstellen der in einem bestimmten Mitgliedstaat zugelassenen Kreditinstitute nicht vorteilhaft seien. Bei einer Harmonisierung könne es nämlich dazu kommen, daß die in einem Mitgliedstaat ansässigen Wirtschaftsteilnehmer den Vorteil für sie besonders günstiger nationaler Rechtsvorschriften verlören.
Unter Berücksichtigung der Komplexität der Materie und der Unterschiede, die zwischen den Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten fortbestanden hätten, seien das Parlament und der Rat befugt gewesen, die erforderliche Harmonisierung schrittweise vorzunehmen.
Die Begrenzung auf 20.000 ECU sei jedenfalls eine weit geringere Belastung als die Verpflichtung, unterschiedlichen Rechtsvorschriften über die Einlagensicherungssysteme in den verschiedenen Aufnahmemitgliedstaaten nachzukommen. Folglich erleichtere das "Ausfuhrverbot" selbst den Zweigstellen von in Deutschland zugelassenen Kreditinstituten die Aufnahme und Ausübung der Bankentätigkeit in anderen Mitgliedstaaten.
Die Bundesrepublik kritisiert, das "Ausfuhrverbot" benachteilige die Sparer.
Dazu stellt der Gerichtshof fest, daß der Verbraucherschutz zwar eines der Ziele der Gemeinschaft, offenkundig aber nicht ihr einziges Ziel sei. Die Richtlinie diene der Förderung der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs im Bankensektor. Mit diesen Freiheiten müsse zweifellos ein hohes Verbraucherschutzniveau in der Gemeinschaft einhergehen; der Vertrag enthalte jedoch keine Bestimmung, die den Gemeinschaftsgesetzgeber dazu verpflichte, das höchste, in einem bestimmten Mitgliedstaat bestehende Schutzniveau festzuschreiben. Die Senkung des Schutzniveaus, zu der die Anwendung des "Ausfuhrverbots" somit in einigen Fällen führen könne, stelle das mit der Richtlinie angestrebte Gesamtergebnis nicht in Frage, das darin bestehe, den Einlegerschutz innerhalb der Gemeinschaft spürbar zu verbessern.
Die Bundesregierung kritisiert, bei der Abfassung der Richtlinie sei das in Deutschland bestehende "bewährte" System der freiwilligen Mitgliedschaft außer acht gelassen worden. Außerdem lasse die Richtlinie keinen Raum für Alternativen zur Pflichtversicherung.
Der Gerichtshof stellt klar, daß bei einer vom Gemeinschaftsgesetzgeber vorgenommenen Harmonisierung nicht alle "bewährten einzelstaatlichen Regelungen" beachtet werden könnten. Deutschland sei offenbar der einzige Mitgliedstaat, der die freiwillige Mitgliedschaft im Einlagensicherungssystem als eine solche Regelung bezeichnet.
Der Gemeinschaftsgesetzgeber habe die Gewährleistung eines Mindestmaßes an Harmonisierung der Einlagensicherung ohne Rücksicht darauf, wo in der Gemeinschaft die Einlagen lokalisiert seien, als erforderlich angesehen. In Anbetracht dieses Erfordernisses und der Tatsache, daß es in einigen Mitgliedstaaten kein Einlagensicherungssystem gab, sei nicht zu beanstanden, daß der Gemeinschaftsgesetzgeber eine Pflichtmitgliedschaft eingeführt habe, obwohl sich in Deutschland ein System freiwilliger Mitgliedschaft bewährt habe.
Hinzu komme schließlich, daß im Oktober 1993 nur fünf von dreihundert Kreditinstituten in Deutschland keinem Einlagensicherungssystem angeschlossen waren. Die Auswirkung der Pflichtmitgliedschaft bestehe somit nur darin, daß diese wenigen Kreditinstitute zum Beitritt gezwungen würden, und könne deshalb nicht als übermäßig angesehen werden. Eine Freiwilligkeit hätte es nicht ermöglicht, das Ziel der Gewährleistung eines Mindestmaßes an Harmonisierung der Sicherung aller Einlagen zu erreichen.
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