Generalanwalt Francis Jacobs hat dem Gerichtshof vorgeschlagen, die in seinem Urteil in der Rechtssache Kalanke im Oktober 1995 angestellten Erwägungen zu bestätigen und zu entscheiden, daß die Gleichbehandlungsrichtlinie einer nationalen Regelung, nach der bei gleicher Qualifikation männlicher und weiblicher Bewerber Frauen bevorzugt befördert werden müssen, wenn im jeweiligen Beförderungsamt einer Laufbahn weniger Frauen als Männer beschäftigt sind, auch dann entgegensteht, wenn eine solche Regelung mit dem Vorbehalt verbunden ist, daß nicht Gründe überwiegen, die in der Person eines männlichen Mitbewerbers liegen.
Herr Marschall, ein Lehrer aus Schwerte, bewarb sich um eine Beförderungsstelle. Ihm wurde mitgeteilt, daß beabsichtigt sei, die Stelle mit einer Konkurrentin zu besetzen: Beide Bewerber seien gleich geeignet, und da in der betreffenden Besoldungsgruppe und Laufbahn weniger Frauen als Männer beschäftigt seien, müsse nach dem Beamtengesetz des Landes Nordrhein-Westfalen die Konkurrentin befördert werden. Herr Marschall erhob Klage und beantragte, die beklagte Behörde zu verpflichten, ihm die Stelle zu übertragen. Das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen hatte Zweifel an der Vereinbarkeit der deutschen Rechtsvorschrift mit Artikel 2 Absätze 1 und 4 der Gleichbehandlungsrichtlinie. Es hat deshalb das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof eine Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt.
Im schriftlichen Verfahren und in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof haben das Land Nordrhein-Westfalen, die österreichische, die finnische, die französische, die niederländische, die norwegische, die schwedische und die spanische Regierung, die Regierung des Vereinigten Königreichs sowie die Europäische Kommission Erklärungen abgegeben.
Die Gleichbehandlungsrichtlinie hat zum Ziel, daß in den Mitgliedstaaten der Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen insbesondere hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, einschließlich des Aufstiegs, verwirklicht wird.
Gemäß Artikel 2 Absatz 1 der Richtlinie bedeutet dieser Grundsatz, daß keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts Ä insbesondere unter Bezugnahme auf den Ehe- oder Familienstand Ä erfolgen darf. Artikel 2 Absatz 4 sieht eine Ausnahme von diesem allgemeinen Grundsatz für Maßnahmen vor, die zur Förderung der Chancengleichheit für Männer und Frauen, insbesondere durch Beseitigung der tatsächlich bestehenden Ungleichheiten, die die Chancen der Frauen ... beeinträchtigen", dienen. Die vorliegende Rechtssache betrifft den Anwendungsbereich der Ausnahme, mit dem sich der Gerichtshof zuvor in seinem Urteil in der Rechtssache Kalanke beschäftigt hatte.
Der Generalanwalt hat die Aufgabe, den Gerichtshof durch die Stellung begründeter Schlußanträge zu der Rechtssache zu unterstützen, die einen Vorschlag für die Antwort des Gerichtshofes auf die vom Verwaltungsgericht vorgelegte Frage enthalten. Er übt sein Amt völlig unparteiisch und unabhängig aus; seine Schlußanträge sind jedoch für den Gerichtshof nicht bindend.
Der Generalanwalt hat betont, daß der Gerichtshof nicht ersucht werde Ä wobei ein solches Ersuchen auch nicht statthaft wäre Ä, darüber zu entscheiden, ob eine positive Diskriminierung oder affirmative action" generell wünschenswert sei; die ihm vorgelegte Frage betreffe nur die Vereinbarkeit der streitigen nationalen Regelung mit zwei konkreten Bestimmungen der Richtlinie.
Er hat sodann die frühere Rechtsprechung des Gerichtshofes in diesem Bereich und insbesondere in der Rechtssache Kalanke untersucht. In dieser Rechtssache war der Gerichtshof zu dem Ergebnis gekommen, daß eine nationale Regelung, die den Frauen bei Ernennungen oder Beförderungen absolut und unbedingt" den Vorrang einräume, über eine Förderung der Chancengleichheit hinausgehe und damit die Grenzen der in Artikel 2 Absatz 4 der Richtlinie vorgesehenen Ausnahme überschreite.
Nach Ansicht des Generalanwalts ist auch die spezielle Regelung, um die es in der vorliegenden Rechtssache geht, diskriminierend und verstößt daher gegen die Richtlinie, es sei denn, daß sie unter die Ausnahme in Artikel 2 Absatz 4 fällt, weil im nationalen Recht ein Vorbehalt besteht, der dahin geht, daß nicht Gründe überwiegen, die in der Person des anderen (männlichen) Mitbewerbers liegen.
Das Land Nordrhein-Westfalen, die Europäische Kommission und verschiedene Regierungen haben vorgetragen, daß die Flexibilität der in Rede stehenden nationalen Regelung Ä d. h. die Existenz des Vorbehalts Ä ein ausreichender Grund für eine vom Urteil Kalanke abweichende Entscheidung sei, da den Frauen kein absoluter und unbedingter Vorrang eingeräumt werde. Nach Auffassung des Generalanwalts weist diese Argumentation jedoch eine Reihe von Fehlern auf.
Er hat die Ansicht vertreten, daß die Unterscheidung zwischen Chancengleichheit und Gleichheit des Ergebnisses, die den Erwägungen des Gerichtshofes im Urteil Kalanke zugrunde liege, begrifflich klar sei. Deshalb sei normalerweise erkennbar, auf welche Seite eine bestimmte Maßnahme falle. Sodann hat er geprüft, ob der Vorbehalt, mit dem die streitige nationale Regelung versehen ist, die Schlußfolgerung, daß die Regelung rechtswidrig sei, beeinflussen könne, und ist zu dem Ergebnis gelangt, daß dies nicht der Fall sei.
Erstens werde bei Anwendung des Vorbehalts die Regelung über die Bevorzugung von Frauen nur in einem bestimmten Fall verdrängt; der Vorbehalt ändere nichts am diskriminierenden Charakter der Regelung im allgemeinen. Ferner sei der Anwendungsbereich des in Rede stehenden Vorbehalts unklar.
Ein solcher Vorbehalt könnte jedenfalls nur dann zur Vereinbarkeit der Regelung mit der Richtlinie führen, wenn gegen ihn selbst keine Einwände erhoben werden könnten. Dies sei aber nicht der Fall. Der Vorbehalt laufe offenbar darauf hinaus, daß sogenannte traditionelle Hilfskriterien" (wie den Ehe- oder Familienstand betreffende Umstände), die ihrerseits diskriminierend seien, angewandt würden, wenn man von ihm Gebrauch mache. Wenn eine unbedingte Regelung, die Frauen aufgrund ihres Geschlechts bevorzuge, rechtswidrig sei, müsse eine bedingte Regelung, die entweder Frauen aufgrund ihres Geschlechts oder Männer aufgrund anerkanntermaßen diskriminierender Kriterien bevorzuge, erst recht rechtswidrig sein.
Abschließend hat der Generalanwalt ergänzend ausgeführt, welche Arten von Maßnahmen unter die Ausnahme in Artikel 2 Absatz 4 fallen könnten, und bekräftigt, daß er durch die Befürwortung einer Auslegung von Artikel 2 Absatz 4, die Maßnahmen zur unmittelbaren Bevorzugung von Frauen bei der Einstellung oder Beförderung in Bereichen, in denen sie unterrepräsentiert seien, ausschließe, nicht zu der Frage Stellung nehme, ob solche Maßnahmen grundsätzlich wünschenswert seien.
Im Anschluß an den Vortrag der Schlußanträge in der heutigen Sitzung wird der Gerichtshof über die Rechtssache beraten und sein Urteil zu einem späteren Zeitpunkt verkünden, der der Öffentlichkeit rechtzeitig mitgeteilt wird.
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