ABTEILUNG PRESSE UND INFORMATION

PRESSEMITTEILUNG NR. 30/97

29. Mai 1997

Urteil des Gerichtshofes in der Rechtssache C-299/95
Vorabentscheidungsersuchen des Obersten Gerichtshofes (Österreich) in dem Rechtsstreit Friedrich Kremzow / Republik Österreich

Der Gerichtshof der EG schützt die Grundrechte bei Sachverhalten, die in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fallen

Der Gerichtshof äußert sich zu seiner Zuständigkeit, in einem Vorabentscheidungsverfahren Fragen zu beantworten, die die Folgen einer in einem Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (Straßburg) festgestellten Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention durch ein nationales Gericht in einem Strafverfahren betreffen.


I. Zum Sachverhalt und rechtlichen Rahmen

Im Dezember 1982 gestand Herr Kremzow, österreichischer Staatsangehöriger und Richter im Ruhestand, in Österreich einen Rechtsanwalt ermordet zu haben. Später widerrief er sein Geständnis.

1. Das nationale Strafgerichtsverfahren

Mit Urteil vom 8.12.1984 erklärte das Geschworenengericht beim Kreisgericht Korneuburg Herrn Kremzow des Mordes und des illegalen Waffenbesitzes für schuldig. Es verurteilte ihn daher zu einer Freiheitsstrafe von 20 Jahren und ordnete seine Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher an.

Mit Urteil vom 2.7.1986 bestätigte der Oberste Gerichtshof nach - in Abwesenheit des Angeklagten, dessen Vorführung weder beantragt noch von Amts wegen angeordnet worden war - abgehaltenem Gerichtstag das Urteil des Geschworenengerichts im Schuldspruch, verurteilte Herrn Kremzow aber zu lebenslanger Freiheitsstrafe und hob die Entscheidung über die Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus auf.

2. Das Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (Straßburg)

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat seinen Sitz in Straßburg und kontrolliert die Einhaltung der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten durch die Staaten, die sie ratifiziert haben. Zu diesen Staaten gehört die Republik Österreich.

Der Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, der mit der Sache befaßt wurde, erklärte mit Urteil vom 21.9.1993, daß Herr Kremzow in Anbetracht der Schwere dessen, was für ihn in der Berufungsverhandlung gegen das Strafmaß auf dem Spiel gestanden habe, in der Lage hätte sein müssen, sich vor dem Obersten Gerichtshof "selbst zu verteidigen", wie es Artikel 6 Absatz 3 Buchstabe c der Menschenrechtskonvention vorschreibe, auch wenn er keinen entsprechenden Antrag gestellt habe. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellte daher eine Verletzung des Artikels 6 der Konvention fest und sprach Herrn Kremzow 230 000 ÖS an Kosten und Auslagen zu.

3. Zum Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (Luxemburg)

Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte leitete Herr Kremzow verschiedene Verfahren vor den österreichischen Gerichten ein, mit denen er insbesondere auf der Grundlage von Artikel 5 Absatz 5 der Menschenrechtskonvention 3 969 058,65 ÖS als Ersatz des Schadens begehrte, der ihm durch den rechtswidrigen Freiheitsentzug vom 3.7.1986 bis zum 30.9.1993, dem Tag der Verkündung des genannten Urteils des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, entstanden sei.

Der inzwischen befaßte Oberste Gerichtshof (Österreich) stellt fest, daß er im vorliegenden Fall über das u.a. in der Menschenrechtskonvention verankerte Grundrecht der persönlichen Freiheit sowie die zivilrechtlichen Rechtsfolgen im Falle der Verletzung dieses Rechts zu entscheiden habe; dieses Recht sei Grundlage und Voraussetzung der ungestörten Ausübung aller anderen Freiheiten, insbesondere der Freizügigkeit und der freien Berufsausübung nach EG-Recht (Gemeinschaftsrecht). Er hat deshalb das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt.

Dieser hat seinen Sitz in Luxemburg und wahrt das Recht bei der Auslegung und Anwendung der Verträge der Europäischen Gemeinschaften. Einer der Mitgliedstaaten ist die Republik Österreich.

Die erste Frage des österreichischen Gerichts an den Gerichtshof geht dahin, ob die Europäische Menschenrechtskonvention Bestandteil des Gemeinschaftsrechts sei, so daß der Gerichtshof der EG über deren Auslegung im Wege der Vorabentscheidung entscheide. Weitere Fragen betreffen die Tragweite einzelner Vorschriften der Menschenrechtskonvention.

II. Aus den Gründen des Urteils des Gerichtshofes

Der Gerichtshof prüft zunächst seine Zuständigkeit für die Beantwortung der Vorlagefragen.

Für Herrn Kremzow ergibt sich diese Zuständigkeit insbesondere daraus, daß er Bürger der Europäischen Union sei und als solcher das im EG-Vertrag verankerte Recht auf Freizügigkeit habe. Da jeder Bürger sich ohne spezifischen Aufenthaltszweck im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei bewegen könne, sei der Mitgliedstaat, der dieses gemeinschaftsrechtlich garantierte Grundrecht durch widerrechtlichen Haftvollzug verletze, nach Gemeinschaftsrecht zum Schadensersatz verpflichtet.

Hierzu erläutert der Gerichtshof zunächst, die Grundrechte gehörten zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, deren Wahrung der Gerichtshof zu sichern habe. Dabei lasse er sich von den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten sowie von den Hinweisen leiten, die die völkerrechtlichen Verträge über den Schutz der Menschenrechte gäben, an deren Abschluß die Mitgliedstaaten beteiligt gewesen oder denen sie beigetreten seien. Insoweit komme der Menschenrechtskonvention besondere Bedeutung zu. Folglich könnten in der Gemeinschaft keine Maßnahmen als Rechtens anerkannt werden, die mit der Beachtung der so anerkannten und gewährleisteten Menschenrechte unvereinbar seien.

Der Gerichtshof habe im Vorabentscheidungsverfahren dann, wenn eine nationale Regelung in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts falle, dem vorlegenden Gericht alle Auslegungshinweise an die Hand zu geben, die es benötige, um die Vereinbarkeit dieser Regelung mit den Grundrechten beurteilen zu können, deren Wahrung der Gerichtshof sichere und die sich insbesondere aus der Europäischen Menschenrechtskonvention ergäben. Dagegen besitze er diese Zuständigkeit nicht hinsichtlich einer Regelung, die nicht in den Bereich des Gemeinschaftsrechts falle.

Dann stellt der Gerichtshof bezogen auf den konkreten Fall fest, der Kläger des Ausgangsverfahrens sei ein österreichischer Staatsangehöriger, dessen Lage keinerlei Bezug zu einer der durch die Freizügigkeitsbestimmungen des EG-Vertrages geregelten Situationen aufweise. Zwar sei jeder Freiheitsentzug geeignet, die Ausübung des Rechts des Betroffenen auf Freizügigkeit zu behindern; doch die rein hypothetische Aussicht auf die Ausübung dieses Rechts stelle keinen Bezug zum Gemeinschaftsrecht her, der eng genug wäre, um die Anwendung der Gemeinschaftsbestimmungen zu rechtfertigen. Im übrigen sei Herr Kremzow wegen Mordes und illegalen Waffenbesitzes nach innerstaatlichen Rechtsvorschriften verurteilt worden, die nicht dazu bestimmt seien, die Beachtung gemeinschaftsrechtlicher Vorschriften sicherzustellen.

Somit betreffe die im Ausgangsrechtsstreit anwendbare nationale Regelung einen Fall, der nicht in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts falle. Folglich ist der Gerichtshof für die Beantwortung der Vorlagefragen nicht zuständig.

III. Die Entscheidung des Gerichtshofes

Der Gerichtshof antwortet dem österreichischen Gericht:

Der Gerichtshof kann im Vorabentscheidungsverfahren dem vorlegenden Gericht nicht die Auslegungshinweise geben, die es benötigt, um die Vereinbarkeit einer nationalen Regelung mit den Grundrechten beurteilen zu können, deren Wahrung der Gerichtshof sichert und die sich insbesondere aus der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten ergeben, wenn diese Regelung einen Fall betrifft, der nicht in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fällt.

Ausschließlich zur Verwendung durch die Medien bestimmt - nichtamtliches Dokument, das den Gerichtshof nicht bindet - verfügbar in deutsch und französisch.

Wegen einer Kopie des Urteils wenden Sie sich bitte an Frau Delia Nynabb - Tel.: (00352) 4303-3365, wegen zusätzlicher Information an Frau Dr. Ulrike Städtler - Tel.: (00352) 4303-3255