ABTEILUNG PRESSE UND INFORMATION

PRESSEMITTEILUNG NR. 40/97

26. Juni 1997

Urteil des Gerichtshofes in der Rechtssache C-368/95
Vorabentscheidungsersuchen des Handelsgerichts Wien in dem Rechtsstreit Vereinigte Familiapress Zeitungsverlags- und vertriebs GmbH / Heinrich Bauer Verlag

Ein nationales Verbot von Preisausschreiben und Preisrätseln in Zeitschriften darf unter bestimmten Umständen den freien Warenverkehr mit Zeitschriften aus anderen Mitgliedstaaten behindern, wenn dieses Verbot zur Aufrechterhaltung der nationalen Medienvielfalt zwingend erforderlich ist.

Österreichisches Gericht muß nach diesen Voraussetzungen entscheiden, ob deutschen Zeitschriften, die in Österreich verkauft werden, Preisausschreiben und Preisrätsel zu verbieten sind


I. Zum Sachverhalt

Der Heinrich Bauer Verlag, ein Zeitungsverlag mit Sitz in Deutschland, gibt dort die Wochenzeitschrift "Laura" heraus, die er auch in Österreich vertreibt. Die Ausgabe vom 22. Februar 1995 enthielt ein Kreuzworträtsel. Die Leser, die die richtige Lösung einsandten, konnten an einer Verlosung teilnehmen, in der zwei Preise von jeweils 500 DM ausgesetzt waren. Dieselbe Ausgabe enthielt zwei weitere Rätsel, für die im einen Fall ein Preis von 1 000 DM und im anderen ein Preis von 5 000 DM ausgesetzt waren, die ebenfalls unter den Personen verlost würden, die die richtigen Antworten einsenden würden. In den folgenden Ausgaben wurden ähnliche Preisausschreiben angeboten. In jeder Ausgabe war vermerkt, daß diese Preisrätsel jede Woche veranstaltet würden.

Das österreichische Gesetz über unlauteren Wettbewerb von 1992 (UWG) verbietet Gewinnspiele in Zeitschriften (§ 9a Abs. 2 Ziff. 8 des österreichischen UWG). Das deutsche UWG enthält keine vergleichbare Bestimmung. Deshalb klagt die Vereinigte Familiapress Zeitungsverlags- und vertriebs GmbH, ein österreichischer Presseverlag, vor dem Handelsgericht Wien gegen den Bauer Verlag auf die Unterlassung des Verkaufs seiner Zeitschrift in Österreich.

Das Handelsgericht Wien ist der Ansicht, daß das österreichische Verbot geeignet sei, den innergemeinschaftlichen Handel zu beeinträchtigen. Deshalb hat es das Verfahren unterbrochen und dem Gerichtshof die folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:

Ist Artikel 30 EWG-Vertrag dahin auszulegen, daß er der Anwendung der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats A entgegensteht, die es einem im Mitgliedstaat B ansässigen Unternehmen untersagen, die dort hergestellte periodisch erscheinende Zeitschrift auch im Mitgliedstaat A zu vertreiben, wenn darin Preisrätsel oder Gewinnspiele enthalten sind, die im Mitgliedstaat B rechtmäßig veranstaltet werden?

II. Zur rechtlichen Beurteilung

Eines der Grundprinzipien der Europäischen Gemeinschaft ist der freie Warenverkehr. Deshalb bestimmt Art. 30 EG-Vertrag: "Mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen sowie alle Maßnahmen gleicher Wirkung sind ... zwischen den Mitgliedstaaten verboten." Allerdings kann nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes der EG ein "zwingendes Erfordernis im allgemeinen Interesse" eine solche Beschränkung des freien Warenverkehrs rechtfertigen.

Die Republik Österreich und die Kommission haben dazu geltend gemacht, die nationale Vorschrift solle der Aufrechterhaltung der Medienvielfalt dienen. Nur kurze Zeit nach Inkrafttreten des Gesetzes über die Deregulierung des Wettbewerbs in Österreich im Jahre 1992, das u. a. die Veranstaltung von Gewinnspielen liberalisiert habe, habe sich im Bereich der periodischen Druckwerke ein aggressiver Wettbewerb durch Gewährung immer umfangreicherer Zugaben insbesondere in Form der Möglichkeit der Teilnahme an Preisausschreiben entwickelt. Wegen der Befürchtung, die kleinen Verleger könnten diesem ruinösen Wettbewerb langfristig nicht standhalten, habe der österreichische Gesetzgeber 1993 die Veranstaltung von Preisausschreiben und Verlosungen für Druckwerke ausgeschlossen. Im Hinblick auf den relativ niedrigen Verkaufspreis periodischer Druckwerke, insbesondere von Tageszeitungen, bestehe die Gefahr, daß der Verbraucher der eingeräumten Gewinnchance größere Bedeutung beimesse als der Qualität des Druckwerks. Von Bedeutung sei auch die hohe Konzentration im österreichischen Printmedienbereich. Zu Beginn der neunziger Jahre habe der Marktanteil des größten Medienkonzerns in Österreich 54,5 % betragen, während er sich im Vereinigten Königreich nur auf 34,7 % und in Deutschland nur auf 23,9 % belaufen habe.

Dazu führt der Gerichtshof aus, die Aufrechterhaltung der Medienvielfalt könne ein zwingendes Erfordernis darstellen, das eine Beschränkung des freien Warenverkehrs rechtfertige. Diese Vielfalt trage nämlich zur Wahrung des Rechtes der freien Meinungsäußerung bei, das durch Artikel 10 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten geschützt sei und zu den von der Gemeinschaftsrechtsordnung geschützten Grundrechten gehöre. Das Verbot, Zeitschriften zu verkaufen, die die Teilnahme an Preisausschreiben ermöglichten, könne die Meinungsfreiheit beeinträchtigen.

Der Gerichtshof erinnert daran, daß eine Behinderung des freien Warenverkehrs jedoch nur gerechtfertigt sei, wenn die streitige nationale Rechtvorschrift

Daher sei zu untersuchen, ob ein nationales Verbot wie das österreichische in einem angemessenen Verhältnis zur Aufrechterhaltung der Medienvielfalt stehe und ob dieser Zweck nicht durch Maßnahmen erreicht werden könne, die den innergemeinschaftlichen Handelsverkehr wie die Meinungsfreiheit weniger beschränkten. Zu diesem Zweck sei zum einen zu ermitteln, ob Zeitschriften, die im Rahmen von Preisausschreiben, Rätseln oder Gewinnspielen eine Gewinnchance eröffneten, mit kleinen Presseunternehmen im Wettbewerb stünden, von denen angenommen werde, daß sie keine vergleichbaren Preise aussetzen könnten, und die die streitige Regelung schützen wolle, zum anderen, ob eine solche Gewinnchance einen Kaufanreiz darstellen könne, der zu einer Verlagerung der Nachfrage führen könne.

Es sei Sache des nationalen Gerichts, auf der Grundlage einer Untersuchung des österreichischen Pressemarktes zu beurteilen, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind.

Im Rahmen dieser Untersuchung werde es den Markt des betreffenden Erzeugnisses abzugrenzen und die Marktanteile, die die einzelnen Herausgeber oder Pressekonzerne halten, sowie deren Entwicklung zu berücksichtigen haben. Zudem müsse das nationale Gericht anhand sämtlicher Umstände, die die Kaufentscheidung beeinflussen können Ä etwa von Werbung auf der Titelseite, die auf die Gewinnchance verweist, der Wahrscheinlichkeit des Gewinns, des Wertes der Preise, der Abhängigkeit des Gewinnes von der Lösung einer Aufgabe, die einen gewissen Grad von Einfallsreichtum, Geschicklichkeit oder Kenntnissen erfordert Ä, beurteilen, inwieweit das betreffende Erzeugnis in den Augen des Verbrauchers die Zeitschriften ersetzen kann, die keine Gewinnchance bieten.

III. Die Entscheidung des Gerichtshofes

Der Gerichtshof antwortet dem österreichischen Gericht:

Die Anwendung von Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats, nach denen in seinem Gebiet der Vertrieb einer in einem anderen Mitgliedstaat hergestellten periodischen Zeitschrift durch ein in diesem Staat niedergelassenes Unternehmen verboten ist, wenn diese Zeitschrift Preisrätsel oder Gewinnspiele enthält, die in dem zuletzt genannten Staat rechtmäßig veranstaltet werden, verstößt nicht gegen Artikel 30 EG-Vertrag, wenn dieses Verbot in einem angemessenen Verhältnis zur Aufrechterhaltung der Medienvielfalt steht und dieser Zweck nicht durch Maßnahmen erreicht werden kann, die weniger beschränkend sind.

Das setzt insbesondere voraus, daß Zeitschriften, die im Rahmen von Gewinnspielen, Rätseln oder Preisausschreiben eine Gewinnchance eröffnen, mit den kleinen Presseunternehmen in Wettbewerb stehen, von denen angenommen wird, daß sie keine vergleichbaren Preise aussetzen können, und daß eine solche Gewinnchance zu einer Verlagerung der Nachfrage führen kann.

Ferner darf das nationale Verbot dem Inverkehrbringen von Zeitschriften nicht entgegenstehen, die zwar Preisausschreiben, Rätsel oder Gewinnspiele enthalten, jedoch Lesern im fraglichen Mitgliedstaat keine Gewinnchance eröffnen.

Es ist Sache des nationalen Gerichts, aufgrund einer Untersuchung des betroffenen nationalen Pressemarktes zu entscheiden, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind.

Ausschließlich zur Verwendung durch die Medien bestimmt - nichtamtliches Dokument, das den Gerichtshof nicht bindet - verfügbar in deutsch und französisch.

Wegen einer Kopie des Urteils wenden Sie sich bitte an Frau Delia Nynabb - Tel.: (00352) 4303-3365, wegen zusätzlicher Information an Frau Dr. Ulrike Städtler - Tel.: (00352) 4303-3255