Abteilung Presse und Information

PRESSEMITTEILUNG NR. 42/97 (1)

1. Juli 1997

Schlußanträge von Generalanwalt Antonio La Pergola in der Rechtssache C-85/96
Maria Martinez Sala gegen Freistaat Bayern

DER GENERALANWALT LA PERGOLA SCHLÄGT DEM GERICHTSHOF ERSTMALS DIE ANWENDUNG DER EUROPÄISCHEN STAATSBÜRGERSCHAFT VOR

Nach Ansicht des Generalanwalts hat der Gemeinschaftsangehörige unter den gleichen Voraussetzungen wie die Staatsangehörigen des Staates, in dem er sich aufhält oder wohnt, unabhängig davon, ob er im Besitz einer gültigen Aufenthaltserlaubnis ist, Anspruch auf Erziehungsgeld gemäß den deutschen Rechtsvorschriften


Sachverhalt des Ausgangsverfahrens

Maria Martinez Sala ist eine spanische Staatsangehörige, die seit ihrem 12. Lebensjahr in Deutschland wohnt; sie arbeitete dort bis 1989; danach erhielt sie Sozialhilfe. Bis 1984 erhielt sie ordnungsgemäße Aufenthaltserlaubnisse. Im Anschluß daran erteilten die deutschen Behörden ihr nur eine Bescheinigung über den Eingang eines Antrags auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis.

1993 brachte Frau Martinez Sala ihr zweites Kind Jessica zur Welt, für das sie Erziehungsgeld beantragte. Dieses wurde ihr vom Staat Bayern mit der Begründung versagt, daß sie weder deutsche Staatsangehörige noch im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis sei.

Frau Martinez Sala wurde jedoch der Aufenthalt in Deutschland aufgrund des Europäischen Fürsorgeabkommens von 1953 erlaubt.

Nach (erfolglosem) Widerspruch erhob Frau Martinez Sala Klage vor Gericht. Das Bayerische Landessozialgericht hat den Fall dem Gerichtshof vorgelegt und ihm vier Fragen zur Vorabentscheidung gestellt.

Das deutsche Gericht ersucht den Gerichtshof um eine Definition des Arbeitnehmerbegriffs und um die Feststellung, ob das streitige Erziehungsgeld eine Familienleistung im Sinne der Verordnung Nr. 1408/71 oder eine soziale Vergünstigung im Sinne der Verordnung Nr. 1612/78 ist. Die zentrale Frage ist schließlich, ob das Gemeinschaftsrecht eine nationale Regelung zuläßt, die das Erziehungsgeld von einer Aufenthaltserlaubnis abhängig macht, auch wenn der Betroffene Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats ist, der erlaubt in Deutschland wohnt.

Der rechtliche Rahmen

Die Verordnung Nr. 1408/71, die auf Arbeitnehmer oder Selbständige anwendbar ist, versteht unter Arbeitnehmer jede Person, die pflichtversichert oder freiwillig weiterversichert ist, und unter Familienleistungen alle Sach- oder Geldleistungen, die zum Ausgleich von Familienlasten bestimmt sind. Die Personen, die im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnen und für die diese Verordnung gilt, haben die gleichen Rechte und Pflichten wie die Staatsangehörigen dieses Staates.

Nach der deutschen Regelung ist das Erziehungsgeld eine beitragsunabhängige Leistung, die zu einem Bündel familienpolitischer Maßnahmen gehört. Anspruch auf das Erziehungsgeld hat, wer einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hat und, soweit es sich um einen Ausländer handelt, im Besitz einer Aufenthaltsberechtigung oder -erlaubnis ist. Nach der Rechtsprechung ist hierfür die Bescheinigung, daß ein Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis gestellt worden ist, nicht ausreichend.

Zur Rolle des Generalanwalts

Der Generalanwalt hat die Aufgabe, den Gerichtshof durch die Stellung begründeter Schlußanträge zu der Rechtssache zu unterstützen, die einen Vorschlag für die Antwort des Gerichtshofes auf die vom Landessozialgericht vorgelegten Fragen enthalten. Er übt sein Amt völlig unparteiisch und unabhängig aus; seine Schlußanträge sind jedoch für den Gerichtshof nicht bindend.

Die Schlußanträge

Der Status eines Arbeitnehmers ist eine subjektive Stellung, die nicht auf Dauer besteht und endet, wenn die für ihren Erwerb erforderlichen Voraussetzungen nicht mehr erfüllt sind. Frau Martinez Sala ist daher keine Arbeitnehmerin im Sinne der Verordnung Nr. 1612/68. Allerdings hat sie in dem fraglichen Zeitraum Sozialhilfe erhalten und kann, wenn sie aufgrund dessen versichert gewesen ist, als Arbeitnehmerin im Sinne der Verordnung Nr. 1408/71 angesehen werden und folglich einem Arbeitnehmer vergleichbar behandelt werden. Aufgrund dessen könnte sie sich auf den Grundsatz der Nichtdiskriminierung berufen und das Erziehungsgeld verlangen. Diese Beurteilungen müssen jedoch vom vorlegenden Gericht vorgenommen werden.

und 3. Das Erziehungsgeld ist eine Familienleistung (wie unlängst im Urteil Hover und Zachow (Rechtssache C-245/94) festgestellt worden ist) und eine soziale Vergünstigung im Sinne der Verordnung Nr. 1612/68.

4. Die deutsche Vorschrift, die für die Gewährung des Erziehungsgelds eine förmliche Aufenthaltserlaubnis auch von dem verlangt, der ansonsten erlaubt in Deutschland wohnt, stellt eine Ungleichbehandlung je nach Staatsangehörigkeit dar. Sollte sich ergeben, daß Frau Martinez Sala keine Arbeitnehmerin ist, bietet die Rechtsordnung der Europäischen Union eine andere Anspruchsgrundlage zur Vermeidung dieser Diskriminierung an: Artikel 8a des Vertrags von Maastricht. Jeder Unionsbürger hat das Recht, sich im Gebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten. Der Rat kann Beschränkungen und Bedingungen erlassen, die sich nicht auf das Recht, sondern auf dessen Ausübung beziehen.

Artikel 8a innerhalb der neuen Anordnung begründet die europäische Staatsbürgerschaft und löst von den anderen Freizügigkeitsrechten das besondere Recht, sich in jedem Mitgliedstaat aufzuhalten, ab; dieses Recht steht an erster Stelle der mit der Unionsbürgerschaft verbundenen Rechte und ist von dieser untrennbar. Die Unionsbürgerschaft steht dem einzelnen unmittelbar zu, der sie zusammen mit der Staatsangehörigkeit des Mitgliedstaats, dem er angehört, erwirbt und verliert. Dies ist die subjektive Stellung, die im vorliegenden Fall zum Tragen kommt, und darüber hinaus den Rechtfertigungsgrund für die Gleichbehandlung darstellt, der dem Staatsangehörigen jedes Mitgliedstaats in jedem Mitgliedstaat zur Verfügung steht. Erlaubt ein Mitgliedstaat einem Gemeinschaftsangehörigen, in seinem Gebiet zu wohnen, darf dieser nicht mehr aus Gründen der Staatsangehörigkeit diskriminiert werden.

Im übrigen hat der Gerichtshof in seiner bisherigen Rechtsprechung des Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit bereits auf Touristen angewendet, soweit sie in dem Staat, in dem sie sich aufhalten, Dienstleistungen entgegennehmen (Urteil Cowan vom 2. Februar 1989).

Im vorliegenden Fall ist Frau Martinez Sala daher auch als mögliche Empfängerin von Dienstleistungen anzusehen, da sie erlaubt in Deutschland wohnt.

Der Generalanwalt schlägt heute vor, daß der Grundsatz der Nichtdiskriminierung als zwingende Folge des neuen Rechtsinstituts der europäischen Staatsbürgerschaft und des primären Rechts, sich in jedem Mitgliedstaat zu bewegen und aufzuhalten, Anwendung findet. Der Gemeinschaftsangehörige hat unter den gleichen Voraussetzungen wie die deutschen Staatsangehörigen, unabhängig davon, ob er im Besitz einer gültigen Aufenthaltserlaubnis ist, Anspruch auf Erziehungsgeld nach den deutschen Rechtsvorschriften.

Ausschließlich zur Verwendung durch die Medien bestimmt - nichtamtliches Dokument, das den Gerichtshof nicht bindet -Wegen zusätzlicher Informationen wenden Sie sich bitte an Frau Dr. Ulrike Städtler, Tel.: (352) 4303 3255.

(1) Diese Mitteilung ist in Italienisch, Französisch, Deutsch und Spanisch verfügbar.