Abteilung Presse und Information

PRESSEMITTEILUNG NR. 45/97

9. Juli 1997

Urteil des Gerichtshofesin den verbundenen Vorabentscheidungsersuchen

Konsumentombudsmannen/De Agostini (Svenska) Förlag AB (C-34/95)
Konsumentombudsmannen/TV-Shop i Sverige AB (C-35/95, C-36/95)

DER GERICHTSHOF ÄUSSERT SICH ZUR RICHTLINIE "FERNSEHEN OHNE GRENZEN"

Ein Mitgliedstaat kann einen Werbetreibenden wegen einer von einem anderen Mitgliedstaat aus ausgestrahlten irreführenden Werbung mit Sanktionen belegen; er kann dies nicht allein deshalb tun, weil sie sich an Kinder richtet.


Sachverhalt

Im Vereinigten Königreich und in Schweden ansässige Rundfunksender strahlen über Satellit Programme nach Dänemark, Schweden und Norwegen aus. Im Rahmen dieser Programme haben sie verschiedene Formen von Werbesendungen übertragen, die nach dem schwedischen Gesetz über die Handelspraktiken untersagt sind.

In der Rechtssache C-34/95 handelte es sich um eine Werbung für eine Kinderzeitschrift über Dinosaurier, die von der Firma De Agostini in Serienform veröffentlicht wurde; jeder Nummer war ein Teil eines Dinosauriermodells beigefügt, das nach dem Kauf aller Nummern der Serie vollständig sein sollte. Der Konsumentombudsman beantragte beim Marknadsdomstol, die Werbung für die Zeitschrift zu untersagen oder die Firma De Agostini hilfsweise zu verpflichten, die zur Vervollständigung des Modells erforderliche Zahl von Heften anzugeben. Er beantragte ferner, die Aufstellung irreführender Behauptungen zu untersagen.

In den Rechtssachen C-35/95 und C-36/95 ging es um die Hautpflegemittel „Body de Lite" und die Reinigungsmittel „Astonish", für die in einem Fernsehspot geworben wurde und die der Kunde telefonisch bestellen konnte. Der Konsumentombudsman beantragte beim Marknadsdomstol im wesentlichen, TV-Shop die Ausstrahlung irreführender Werbung zu verbieten.

Der mit diesen Fragen befaßte Marknadsdomstol wollte daher vom Gerichtshof wissen, ob Artikel 30 (Verbot mengenmäßiger Einfuhrbeschränkungen) oder Artikel 59 (freier Dienstleistungsverkehr) EG-Vertrag oder die Richtlinie 89/552/EWG („Fernsehen ohne Grenzen") es einem Mitgliedstaat gestatten,

  1. eine von einem anderen Mitgliedstaat aus ausgestrahlte Fernsehwerbung zu untersagen;
  2. Fernsehwerbung zu untersagen, die darauf gerichtet ist, die Aufmerksamkeit von Kindern unter zwölf Jahren zu erregen (speziell in der Rechtssache C-34/95).

Das schwedische Recht

Nach dem schwedischen Gesetz über die Handelspraktiken kann der Marknadsdomstol eine Werbung oder Handlung untersagen, die gegen lauteres Geschäftsgebaren verstößt oder auf andere Weise gegenüber dem Verbraucher oder einem anderen Gewerbetreibenden unlauter ist. Das Gericht kann dem Gewerbetreibenden ferner aufgeben, in seine Werbung bestimmte für den Verbraucher wichtige Informationen aufzunehmen. Nach dem schwedischen Rundfunkgesetz darf eine Werbung nicht darauf gerichtet sein, die Aufmerksamkeit von Kindern zu erregen.

Beurteilung durch den Gerichtshof

A. Von einem anderen Mitgliedstaat aus ausgestrahlte irreführende Werbung

  1. Die Richtlinie 89/552/EWG soll die Vorschriften der Mitgliedstaaten über die Fernsehtätigkeit koordinieren und Beschränkungen der freien Ausstrahlung beseitigen, die sich aus Unterschieden zwischen den Bestimmungen der einzelnen Staaten ergeben. Sie sieht vor, daß Sendungen aus einem Mitgliedstaat, die für einen anderen Mitgliedstaat bestimmt sind, dem Recht des Sendestaats entsprechen müssen. Der Bestimmungsmitgliedstaat darf aus Gründen, die in Bereiche fallen, die mit der Richtlinie koordiniert sind, keine Beschränkungen vorsehen.

    In der Richtlinie werden einige Grundsätze über die Werbung und ihren Inhalt aufgestellt. Sie führt eine Teilkoordinierung herbei, die andere als die Ausstrahlung von Programmen betreffende Vorschriften nicht von vornherein ausschließt. Einer nationalen Vorschrift, die die Verbraucher schützt, steht somit nichts entgegen, sofern sie keine zweite Kontrolle einführt. Im übrigen werden die Mitgliedstaaten durch eine andere Richtlinie der Gemeinschaft (84/450/EWG) mit der Bekämpfung irreführender Werbung im Interesse der Verbraucher und der Allgemeinheit betraut. Der Empfangsmitgliedstaat darf daher nicht daran gehindert werden, Maßnahmen gegenüber einem Werbetreibenden wegen einer solchen Werbung zu treffen, sofern diese Maßnahmen nicht in seinem Hoheitsgebiet die Weiterverbreitung im eigentlichen Sinne von Sendungen aus einem anderen Mitgliedstaat verhindern.

  2. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes betrifft das Verbot einer Fernsehwerbung grundsätzlich die Verkaufsmodalitäten eines Erzeugnisses. Der Gerichtshof bekräftigt, daß nationale Vorschriften, die bestimmte Verkaufsmodalitäten beschränken oder untersagen, nicht unter Artikel 30 fallen, sofern sie auf alle Wirtschaftsteilnehmer anwendbar sind und den Absatz in- und ausländischer Erzeugnisse rechtlich und tatsächlich in der gleichen Weise berühren.

    Stellt das nationale Gericht dagegen fest, daß das Verbot die ausländischen Erzeugnisse stärker berührt und somit unter Artikel 30 des Vertrages fällt, so muß es prüfen, ob das Verbot nicht aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses oder zur Erreichung eines der in Artikel 36 genannten Ziele erforderlich ist. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes stellen die Lauterkeit des Handelsverkehrs und der Verbraucherschutz zwingende Erfordernisse des Allgemeininteresses dar, die Einschränkungen des freien Warenverkehrs rechtfertigen können.

  3. Die Werbung, die ein in einem Mitgliedstaat ansässiger Fernsehsender für einen in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Werbetreibenden verbreitet, stellt unstreitig eine Dienstleistung im Sinne von Artikel 59 des Vertrages dar. Folglich enthalten die fraglichen nationalen Vorschriften mangels für diesen Bereich geltender Harmonisierungsvorschriften eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs. Das nationale Gericht muß daher prüfen, ob diese Vorschriften aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses erforderlich sind, ob sie hierzu in einem angemessenen Verhältnis stehen und ob nicht weniger einschneidende Mittel verwendet werden könnten. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes stellen die Lauterkeit des Handelsverkehrs und der Verbraucherschutz zwingende Erfordernisse des Allgemeininteresses dar, die auch Einschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs rechtfertigen können.

B. An Kinder gerichtete Werbung

Die Richtlinie steht einer nationalen Bestimmung, die für die im Hoheitsgebiet des betreffenden Staates ansässigen Fernsehsender strengere Vorschriften festlegt, nicht entgegen. Diese Erwägung kann nicht für Fernsehsender gelten, die sich in anderen Mitgliedstaaten befinden.

Die Richtlinie enthält eine umfassende Regelung zum Schutz Minderjähriger im Hinblick auf Fernsehprogramme und Werbung. Der Empfangsstaat kann seine Vorschriften, die allgemein dem Schutz der Verbraucher und der Minderjährigen dienen, weiterhin anwenden, aber er darf weder die Weiterverbreitung einer Sendung aus einem anderen Mitgliedstaat verhindern noch Vorschriften anwenden, die speziell dazu dienen, den Inhalt der an Minderjährige gerichteten Fernsehwerbung zu kontrollieren. Dies würde eine zweite Kontrolle darstellen, die zu der hinzukäme, die - gemäß der Richtlinie - der Sendestaat vorzunehmen hat.

Ausschließlich zur Verwendung durch die Medien - Nichtamtliches Dokument, das den Gerichtshof nicht bindetWegen zusätzlicher Informationen oder einer Kopie des Urteils wenden Sie sich bitte an Frau Dr. Ulrike Städtler, Tel.: 00352 4303 3255, oder per Fax an 00352 4303 2500.