Abteilung Presse und Information

PRESSEMITTEILUNG Nr. 50/1997 (1)

Schlußanträge des Generalanwalts Giuseppe Tesauro in den Rechtssachen C-120/95 und C-158/96
Nicolas Decker / Caisse de Maladie des Employés privés
Raymond Kohll / Union des Caisses de Maladie

GENERALANWALT TESAURO ÄUSSERT SICH ZUR FREIZÜGIGKEIT IM GESUNDHEITSWESEN

Nach Ansicht des Generalanwalts Tesauro hat ein kranker Gemeinschaftsbürger das Recht, sich ins Ausland zu begeben, um medizinische Erzeugnisse zu kaufen und sich außerhalb der Krankenhäuser ärztlich behandeln zu lassen, sowie Anspruch auf Kostenerstattung nach den in seinem Wohnstaat gültigen Sätzen


Sachverhalt

In der ersten Rechtssache hatte ein luxemburgischer Staatsbürger, Herr Decker, in Belgien eine ihm in Luxemburg verschriebene Brille gekauft, ohne vorher die Genehmigung des zuständigen Sozialversicherungsträgers beantragt und erhalten zu haben. Der Sozialversicherungsträger lehnte die Kostenerstattung ab.

In der zweiten Rechtssache beantragte ein luxemburgischer Staatsbürger, Herr Kohll, für seine jüngere Tochter die Genehmigung zur Erstattung der Kosten einer zahnregulierenden Behandlung, die im Ausland vorgenommen werden sollte. Der Sozialversicherungsträger lehnte dies ab.

Der rechtliche Hintergrund

Das luxemburgische Sozialversicherungsrecht sieht vor, daß sich die Versicherten (außer in dringenden Fällen, bei Unfällen oder im Ausland aufgetretenen Krankheiten) nur dann im Ausland behandeln lassen dürfen und Anspruch auf Erstattung dieser Behandlungen haben, wenn der Sozialversicherungsträger dies vorher genehmigt hat. Diese Genehmigung wird nach Untersuchung durch einen Vertrauensarzt auf Vorlage einer schriftlichen Überweisung eines luxemburgischen Arztes erteilt, in der der im Ausland empfohlene Arzt oder das Krankenhaus und die Umstände anzugeben sind, aus denen sich ergibt, daß eine Behandlung in Luxemburg nicht möglich ist. Die Kosten für die genehmigten Behandlungen werden nach den Sätzen des Staates, in dem die Behandlung erfolgt, übernommen.

Die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, sieht Ä wie auch die luxemburgischen Rechtsvorschriften Ä im wesentlichen vor, daß die Erstattung von der vorherigen Erteilung einer Genehmigung durch den Sozialversicherungsträger abhängt.

Die luxemburgischen Rechtsvorschriften werden aus zwei Gründen beanstandet: In der Rechtssache Decker möchte der Conseil Arbitral des Assurances sociales vom Gerichtshof wissen, ob diese Rechtsvorschriften mit den Grundsätzen des freien Warenverkehrs, insbesondere medizinischer Produkte und Hilfsmittel, vereinbar sind (Artikel 30 und 36 EG-Vertrag). In der Rechtssache Kohll möchte die luxemburgische Cour de Cassation wissen, ob die Vorschrift mit den Grundsätzen des freien Verkehrs ärztlicher Dienstleistungen vereinbar ist (Artikel 59 und 60 EG-Vertrag).

Die Rolle des Generalanwalts

Der Generalanwalt hat die Aufgabe, den Gerichtshof zu unterstützen, indem er begründete Schlußanträge zu den dem Gerichtshof unterbreiteten Rechtssachen stellt und einen Vorschlag macht, wie der Gerichtshof die von den beiden luxemburgischen Gerichten vorgelegten Fragen beantworten sollte. Er handelt in völliger Unparteilichkeit und Unabhängigkeit; seine Schlußanträge sind für den Gerichtshof nicht bindend.

Die Schlußanträge

  1. Anwendbarkeit der Artikel 30 und 59

    Der Generalanwalt führt aus, das Sozialversicherungsrecht sei auf Gemeinschaftsebene noch nicht harmonisiert worden: Die Mitgliedstaaten legten die Voraussetzungen für die Zulassung zu ihrem Sozialversicherungssystem und die Bedingungen für den Leistungsanspruch fest. Dennoch hätten die Mitgliedstaaten auch bei der Ausübung ihrer Zuständigkeit auf dem Gebiet der Sozialversicherung das Gemeinschaftsrecht zu beachten und dürften nicht gegen den tragenden Grundsatz des freien Verkehrs (von Personen und Waren) verstoßen, nur weil eine nationale Vorschrift auf dem Gebiet der Sozialversicherung diesen Freiheitsrechten entgegenstehe: die Vorschriften des Vertrages seien also anwendbar.

    Dies gelte auch, wenn man die Verordnung Nr. 1408/71 berücksichtige, die dieses Sachgebiet genauso regele wie die beanstandeten luxemburgischen Rechtsvorschriften und deren Ungültigkeit im übrigen ebenfalls nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden könne. Die Verordnung gelte nicht nur für Wanderarbeitnehmer, sondern nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes auch für im Inland beschäftigte Arbeitnehmer, die aus anderen als beruflichen Gründen innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwanderten, im konkreten Fall also auch für Herrn Decker und Herrn Kohll. Unter dem Gesichtspunkt der Art der zu genehmigenden Leistungen sei unstreitig, daß Behandlungen durch Fachärzte (wie Zahnärzte) in den Geltungsbereich der Verordnung fielen. Medizinische Erzeugnisse fallen nach Auffassung des Generalanwalts ebenfalls unter den in der Verordnung Nr. 1408/71 definierten Begriff der Leistung.

  2. Beschränkende Wirkungen der luxemburgischen Vorschrift

    Das luxemburgische Gesetz enthalte kein Verbot, medizinische Erzeugnisse oder Brillen

    einzuführen oder im Ausland zu kaufen. Es schaffe vielmehr eine Ungleichbehandlung je nachdem, wo die Erzeugnisse gekauft worden seien, und sei geeignet, Kranke, die keine Genehmigung erhalten hätten, vom Kauf medizinischer Erzeugnisse in einem anderen Mitgliedstaat abzuhalten. Es stelle daher eine Maßnahme mit gleicher Wirkung wie mengenmäßige Beschränkungen der Einfuhr von medizinischen Erzeugnissen durch Privatpersonen dar.

    Bei zahnärztlichen Leistungen gehe es um die Dienstleistungsfreiheit, wobei der Kranke als Empfänger dieser Dienstleistungen zu betrachten sei. Die luxemburgische Vorschrift, nach der eine vorherige Genehmigung erforderlich sei und Versicherte, die keine Genehmigung hätten, keine Erstattung erhielten, stelle einen Abschreckungsfaktor und eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit dar, die auf dem Niederlassungsort des Erbringers der Dienstleistungen beruhe und sich negativ auf diesen auswirke, wenn er nicht im fraglichen Staat niedergelassen sei. Die luxemburgische Vorschrift, nach der eine vorherige Genehmigung erforderlich sei, um die Erstattung der Kosten von Brillen oder zahnärztlicher Behandlungen durch Fachärzte zu erhalten, verstoße gegen die Grundsätze des freien Waren- und Dienstleistungsverkehrs.

    Die Beteiligten und die Regierungen, die Erklärungen abgegeben haben, berufen sich zur Rechtfertigung der luxemburgischen Vorschriften sowohl auf den Schutz der öffentlichen Gesundheit als auch auf Gründe des Allgemeininteresses, und zwar darauf, daß die Wirtschaftlichkeit des Gesundheits- und Krankenhaussystems gesichert werden müsse, um in einer bestimmten Region jedermann den Zugang zu diesem System zu ermöglichen.

    Der Generalanwalt (unter Berücksichtigung der gesamten Rechtsprechung des Gerichtshofes) geht davon aus, daß die beanstandete nationale Vorschrift unterschiedslos anwendbar sei, da formal für nicht im Inland niedergelassene Erbringer von Dienstleistungen keine unterschiedliche Regelung vorgesehen sei. Theoretisch sei sie also nicht nur aus Gründen des öffentlichen Interesses wie dem Schutz der Gesundheit, sondern auch aus Gründen des Allgemeininteresses zu rechtfertigen (wirtschaftliche Zwecke wie etwa die Wirtschaftlichkeit des Gesundheitssystems).

    1. Man könne aber nicht annehmen, daß eine Vorschrift wie die luxemburgische erforderlich sei, um die Gesundheit zu schützen und die Qualität der medizinischen Leistungen zu sichern: die (mit Hilfe mehrerer Gemeinschaftsrichtlinien erreichte) Harmonisierung auf dem Gebiet der medizinischen Berufe und Erzeugnisse sorge dafür, daß Kranken in allen Mitgliedstaaten gleiche Garantien gewährt würden und daß die Gesundheit des einzelnen auch dann ausreichend geschützt sei, wenn er sich in einem anderen Mitgliedstaat einer medizinischen Behandlung unterziehe.

    2. Im Hinblick auf die Sicherung der Wirtschaftlichkeit des Sozialversicherungssystems, die als Voraussetzung für die Gewährleistung eines hohen Leistungsniveaus angeführt werde, sei einzuräumen, daß die luxemburgische Vorschrift insoweit erforderlich und verhältnismäßig sei, als der Sozialversicherungsträger nur dank des Genehmigungserfordernisses beurteilen könne, ob eine Behandlung im Ausland unbedingt nötig sei, und so die Erstattung von Leistungen aufgrund der Sätze anderer Mitgliedstaaten begrenzen könne. Anderenfalls könnten zweifellos negative Folgen eintreten, da jeder Mitgliedstaat ein anderes Finanzierungssystem habe und die Kosten des Gesundheitswesens unterschiedlich seien.

    Dies bedeute jedoch nicht, daß man immer von einer Beeinträchtigung der Wirtschaftlichkeit ausgehen dürfe, und zwar auch dann, wenn der Sozialversicherungsträger die Kostenerstattung nach den luxemburgischen Kriterien und Sätzen gewähre. So wirke sich beispielsweise die Erstattung der Kosten einer Brille oder einer zahnärztlichen Behandlung nicht auf die Wirtschaftlichkeit aus. Bei einer Krankenhausbehandlung sei zu berücksichtigen, daß diese am Bedarf ausgerichtet sei und daß die Kosten für den Aufenthalt und die Behandlung eines Kranken im Krankenhaus eng mit der Erhaltung und der Funktionsfähigkeit des Krankenhaussystems zusammenhingen. In diesem Fall bleibe eine Genehmigung daher erforderlich, um die Wirtschaftlichkeit des Systems zu sichern.

    Folglich seien die Beschränkungen, die die luxemburgische Regelung vorsehe, nur dann gerechtfertigt, wenn eine Krankenhausbehandlung in einem anderen Mitgliedstaat oder Leistungen eines Facharztes zu den Bedingungen und Sätzen des Mitgliedstaats, in dem die Behandlung erfolge, in Anspruch genommen würden.

    Dies bedeute, daß die Kosten der Brille von Herrn Decker und der zahnregulierenden Behandlung für die Tochter von Herrn Kohll, obwohl die Brille im Ausland gekauft und die Behandlung im Ausland vorgenommen worden sei, auf der Grundlage der insoweit in Luxemburg geltenden Sätze und ohne Genehmigung zu erstatten seien.

Wegen zusätzlicher Informationen wenden Sie sich bitte an Frau Dr. Ulrike Städtler - Tel.: (*352) 4303.3255, Fax: (*352) 4303.2500

(1) Diese Pressemitteilung liegt in italienischer, deutscher und französischer Sprache vor.