Der Rat hat sich angesichts des Auftrags zur Herstellung eines Gemeinsamen Marktes auch auf die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge konzentriert. Er erließ die Richtlinie 71/305/EWG bezüglich Bauaufträge und die Richtlinie 77/62/EWG bezüglich Lieferaufträge. Dazu trat dann die Richtlinie 89/665/EWG "zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Anwendung der Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge".
Diese Richtlinie bestimmt u.a. auch detailliert die Merkmale "einer für Nachprüfungsverfahren zuständigen Instanz."
Die Bundesrepublik hat die drei Richtlinien in deutsches Recht umgesetzt (insbesondere die Richtlinie 89/665/EWG durch Änderungen des Haushaltsgrundsätzegesetzes, HGrG). Was die vorgeschriebene Nachprüfung der Entscheidung einer Vergabestelle über Bau- bzw. Lieferaufträge angeht, kann in Deutschland zunächst das Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau als "Vergabeprüfstelle" angerufen werden. Gegen dessen Bescheid ist dann Rechtsbehelf zum "Vergabeüberwachungsausschuß des Bundes" möglich.
1992 kam die Richtlinie 92/50/EWG des Rates "über die Koordinierung der Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge" hinzu. Diese Richtlinie hat die "Nachprüfungs"- Richtlinie geändert. Nach Art. 41 der Richtlinie 92/50/EWG über die Dienstleistungsaufträge sollen nämlich die Mitgliedstaaten ihre Nachprüfungsverfahren auch auf die Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge erstrecken.
Deutschland hat die jüngste Richtlinie noch nicht in deutsches Recht umgesetzt (Frist 01.07.1993). Der Gerichtshof hat dies mit Urteil vom 2.5.1996 (Kommission/Bundesrepublik) als Vertragsverletzung qualifiziert.
Die Bundesbaugesellschaft Berlin mbH als Vergabestelle schrieb im Juni 1995 einen Dienstleistungsvertrag über Architekten- und Bauingenieursleistungen für Regierungsneubauten aus. In die engere Wahl kam daraufhin u.a. auch die Dorsch Consult Ingenieurgesellschaft mbH. Der Auftrag wurde aber an zwei Konkurrentinnen vergeben. Die abgelehnte Firma greift mit ihrem Antrag auf Nachprüfung nun die Entscheidung der Vergabestelle an.
So war zunächst die Vergabeprüfstelle und ist jetzt der Vergabeüberwachungsausschuß des Bundes mit diesem Antrag auf Nachprüfung der Entscheidung einer Vergabestelle befaßt, die sich auf einen Dienstleistungsauftrag bezieht. Die Vergabeprüfstelle als erste Instanz hatte den Nachprüfungsantrag ohne Sachprüfung abgelehnt, weil sie nach den deutschen Vorschriften bisher ausdrücklich nur für die Überprüfung von Entscheidungen bezüglich Bau- und Lieferaufträgen zuständig sei, nicht aber für Dienstleistungssaufträge. Der Vergabeüberwachungsausschuß als letzte Instanz fragt sich, ob die von Deutschland nicht umgesetzte Richtlinie nach Ablauf deren Umsetzungsfrist (also nach dem 30.6.1993) unmittelbar anwendbar ist und damit doch in die Zuständigkeit der deutschen Prüfinstanzen fällt.
Daher hat der Vergabeüberwachungsausschuß das Verfahren ausgesetzt und gemäß Art. 177 EG-Vertrag dem Gerichtshof folgende Frage vorgelegt:
Ist Artikel 41 der Richtlinie 92/50/EWG des Rates vom 18. Juni 1992 dahin gehend auszulegen, daß nach dem 30. Juni 1993 die nach Maßgabe der Richtlinie 89/665/EWG des Rates vom 21. Dezember 1989 zur Nachprüfung der in den Anwendungsbereich der Richtlinien 71/305/EWG und 77/62/EWG fallenden Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge eingerichteten zuständigen Instanzen der Mitgliedstaaten auch Verfahren zur Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge im Sinne der Richtlinie 92/50/EWG auf behauptete Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht im Bereich des öffentlichen Auftragswesens oder gegen die einzelstaatlichen Vorschriften, die dieses Recht umsetzen, nachprüfen können?
Vor der Beantwortung der gestellten Frage prüft der Gerichtshof zunächst, ob der Vergabeüberwachungsausschuß des Bundes im Rahmen des Verfahrens, in dem sich die vorliegende Vorabentscheidungsfrage stellt, als "Gericht" im Sinne von Artikel 177 EG- Vertrag zu betrachten ist.
Zur Beurteilung dieser rein gemeinschaftsrechtlichen Frage stellt der Gerichtshof auf eine Reihe von Gesichtspunkten ab wie:
Vor allem die Kommission hat im Verfahren vor dem Gerichtshof zu allen diesen Punkten im Falle des Vergabeüberwachungsausschusses des Bundes Bedenken angemeldet. Der Gerichtshof prüft jedes der angegriffenen Kriterien und bejaht ihr Vorliegen. Er kommt somit zu dem Ergebnis, daß der Vergabeüberwachungsausschuß des Bundes im Rahmen des Verfahrens, in dem sich die vorliegende Vorabentscheidungsfrage stellt, als "Gericht" im Sinne von Artikel 177 EG- Vertrag zu betrachten ist, so daß die Vorlage zulässig ist.
Der Gerichtshof führt aus, das vorlegende Gericht wolle mit seiner Frage wissen, ob sich aus Artikel 41 der Richtlinie 92/50 ergebe, daß mangels Umsetzung dieser Richtlinie innerhalb der hierzu vorgesehenen Frist die zur Nachprüfung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bau- und Lieferaufträge zuständigen Instanzen auch zur Nachprüfung von Verfahren zur Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge befugt seien.
Hierzu argumentiert der Gerichtshof, es sei Sache der Rechtsordnung jedes Mitgliedstaats, zu bestimmen, welches Gericht für die Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten zuständig sei, in denen es um individuelle, auf dem Gemeinschaftsrecht beruhende Rechte gehe, wobei die Mitgliedstaaten jedoch für den wirksamen Schutz dieser Rechte in jedem Einzelfall verantwortlich seien. Unter diesem Vorbehalt sei es nicht Aufgabe des Gerichtshofes, bei der Lösung von Zuständigkeitsfragen mitzuwirken.
Artikel 41 der Richtlinie 92/50 verpflichte die Mitgliedstaaten zwar, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um eine wirksame Nachprüfung auf dem Gebiet der Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge sicherzustellen, er gebe jedoch nicht an, welche nationalen Instanzen zuständig sein müßten oder daß es sich dabei um dieselben Instanzen handeln müsse, die die Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Vergabe öffentlicher Bau- und Lieferaufträge bestimmt hätten.
Es sei jedoch unstreitig, daß die § 57a bis 57c HGrG die Richtlinie 89/665 umsetzen sollen und daß sich § 57a als Grundvorschrift für die von der Bundesregierung noch nicht vorgenommene Umsetzung der Richtlinie 92/50 darstelle.
Unter diesen Umständen sei erstens darauf hinzuweisen, daß die sich aus einer Richtlinie ergebende Verpflichtung der Mitgliedstaaten, das in dieser vorgesehene Ziel zu erreichen, sowie die Pflicht der Mitgliedstaaten gemäß Artikel 5 EG-Vertrag, alle zur Erfüllung dieser Verpflichtung geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zu treffen, allen Trägern öffentlicher Gewalt in den Mitgliedstaaten oblägen, und zwar im Rahmen ihrer Zuständigkeiten auch den Gerichten. Daraus folge, daß ein nationales Gericht seine Auslegung des anwendbaren nationalen Rechts soweit wie möglich am Wortlaut und Zweck der Richtlinie ausrichten müsse, um das mit der Richtlinie verfolgte Ziel zu erreichen.
Zweitens sei die Frage der Bestimmung einer zur Nachprüfung der Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge zuständigen Instanz selbst dann von Bedeutung, wenn die Richtlinie 92/50 nicht umgesetzt worden sei.
Wenn ein Mitgliedstaat wie im vorliegenden Fall nicht die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen getroffen habe, könne der einzelne unter bestimmten Umständen befugt sein, sich gegenüber einem Mitgliedstaat direkt auf die materiellen Vorschriften der Richtlinie 92/50 zu berufen.
Im übrigen weist der Gerichtshof darauf hin, daß die Betroffenen, wenn die nationalen Vorschriften nicht in einer der Richtlinie 92/50 entsprechenden Weise ausgelegt werden könnten, im Rahmen der geeigneten Verfahren des nationalen Rechts den Ersatz des Schadens verlangen könnten der ihnen dadurch entstanden sei, daß die Richtlinie nicht innerhalb der vorgeschriebenen Frist umgesetzt worden sei.
Daher antwortet der Gerichtshof dem Vergabeüberwachungsausschuß des Bundes:
Aus Artikel 41 der Richtlinie 92/50/EWG des Rates vom 18. Juni 1992 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge ergibt sich nicht, daß mangels Umsetzung dieser Richtlinie innerhalb der hierzu vorgesehenen Frist die zur Nachprüfung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bau- und Lieferaufträge zuständigen Instanzen der Mitgliedstaaten auch zur Nachprüfung von Verfahren zur Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge befugt sind.
Die Erfordernisse einer der Richtlinie 92/50 entsprechenden Auslegung des nationalen Rechts und eines effektiven Schutzes der Rechte des einzelnen gebieten es dem nationalen Gericht jedoch, zu prüfen, ob dem einzelnen aufgrund der einschlägigen Vorschriften des nationalen Rechts ein Anspruch auf Nachprüfung der Vergabe öffentlicher Dienstleistungsaufträge zuerkannt werden kann.
Unter Umständen wie denen des vorliegenden Falles hat das nationale Gericht insbesondere zu prüfen, ob dieser Anspruch auf Nachprüfung vor denselben Instanzen geltend gemacht werden kann, die auf dem Gebiet der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge vorgesehen sind.
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