ABTEILUNG PRESSE UND INFORMATION

PRESSEMITTEILUNG NR. 61/97

2. Oktober 1997

Urteil des Gerichtshofes in der Rechtsache C-100/95

Vorabentscheidungsersuchen des Finanzgerichts Bremen in dem Rechtsstreit Brigitte Kording/Senator für Finanzen

Deutsche Vorschriften könnten teilzeitbeschäftigte Frauen in der öffentlichen Finanzverwaltung im Falle des Zugangs zum Steuerberaterberuf gemeinschaftsrechtwidrig diskriminieren, wenn diese Vorschriften nicht durch objektive Faktoren gerechtfertigt sind, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben.


Der Gerichtshof äußert sich zur Frage der Diskriminierung teilzeitbeschäftigter Frauen durch das deutsche Steuerberatungsgesetz, das Mitarbeiter der öffentlichen Finanzverwaltung nur nach 15 Jahren Vollzeitbeschäftigung von der Steuerberaterprüfung befreit.

I. Zum Sachverhalt

Frau Kording, Jahrgang 1953, ist als Sachbearbeiterin bei der Oberfinanzdirektion Bremen tätig. Da sie sich als Steuerberaterin selbständig machen will, beantragte sie mit Schreiben vom 21. Oktober 1992 beim Senator für Finanzen eine verbindliche Auskunft darüber, ob die bisher von ihr ausgeübten Tätigkeiten zum Stichtag des 30. April 1993 den Anforderungen für die Befreiung von der Steuerberaterprüfung entsprachen.

Der Zulassungsausschuß für Steuerberater erteilte der Klägerin am 11. Februar 1993 eine verbindliche Auskunft dahin, daß zwar die von ihr ausgeübte Tätigkeit zur Erfüllung der Voraussetzungen anerkannt werde, jedoch zum 30. April 1993 die nach dem deutschen Steuerberatungsgesetz zu erfüllende Mindestvoraussetzung einer fünfzehnjährigen Tätigkeit nicht erfüllt sei, da Frau K. (wie viele Frauen) zum Teil teilzeitbeschäftigt gewesen sei. Bei der Festlegung des zeitlichen Umfangs der praktischen Tätigkeit sei der Gesetzgeber davon ausgegangen, daß diese hauptberuflich im Sinne einer Vollzeittätigkeit ausgeübt worden sei. Deshalb seien bei einem Bewerber, der teilzeitbeschäftigt sei, die entsprechenden Zeiten nur in dem Verhältnis anrechenbar, in dem die individuelle Arbeitszeit zur regelmäßigen Arbeitszeit stehe.

II. Zum gerichtlichen Verfahren

Frau K. erhob am 9.03.1993 Klage beim Finanzgericht Bremen. Dieses hat Zweifel an der Vereinbarkeit der deutschen Rechtsvorschriften mit der Richtlinie 76/207/EWG „zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in bezug auf die Arbeitsbedingungen". Das deutsche Gericht hat deshalb das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof eine Frage nach der Auslegung der Gemeinschaftsrichtlinie vorgelegt.

III. Aus den Gründen des Urteils des Gerichtshofes

Der Gerichtshof führt aus, die Frage des vorlegenden Gerichts gehe dahin, ob nationale Rechtsvorschriften, nach denen sich die Gesamtdauer der als Voraussetzung für die Befreiung von der Steuerberaterprüfung geforderten Sachbearbeitertätigkeiten bei Teilzeitbeschäftigung mit Ermäßigung bis auf die Hälfte der regelmäßigen Arbeitszeit entsprechend verlängert, gegen Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie verstoße.

Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie verbietet jede Diskriminierung aufgrund des Geschlechts bei den Bedingungen des Zugangs Ä einschließlich der Auswahlkriterien Ä zu den Beschäftigungen oder Arbeitsplätzen Ä unabhängig vom Tätigkeitsbereich oder Wirtschaftszweig Ä und zu allen Stufen der beruflichen Rangordnung.

1. Zur Frage einer unmittelbaren Diskriminierung

Der Gerichtshof stellt fest, die im Ausgangsverfahren streitigen Rechtsvorschriften enthielten keine unmittelbare Diskriminierung, da sich bei gleich langer Teilzeitbeschäftigung die Gesamtdauer der geforderten Sachbearbeitertätigkeit in der Finanzverwaltung sowohl für Männer wie für Frauen, die ohne Prüfung zum Steuerberater bestellt werden wollten, entsprechend verlängere.

2. Zur Frage einer mittelbaren Diskriminierung

Eine mittelbare Diskriminierung liegt nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes vor, wenn die Anwendung einer nationalen Maßnahme, die zwar neutral formuliert ist, tatsächlich wesentlich mehr Frauen als Männer benachteiligt.

Der Gerichtshof führt aus, unbestreitbar hätten Bestimmungen wie die im Ausgangsverfahren eine Auswirkung auf Teilzeitbeschäftigte und benachteiligten diese gegenüber Vollzeitbeschäftigten. Teilzeitbeschäftigte müßten nämlich, um eine Befreiung von der Prüfung zu erhalten, einige Jahre länger gearbeitet haben als Vollzeitbeschäftigte.

Aus dem Vorlagebeschluß ergebe sich auch, daß 92,4 % der teilzeitbeschäftigten Beamten der Oberfinanzdirektion Bremen Frauen seien. In einem solchen Fall diskriminierten Bestimmungen wie die im Ausgangsverfahren im Ergebnis die weiblichen gegenüber den männlichen Arbeitnehmern und verstießen grundsätzlich gegen die Richtlinie.

3. Zur Frage einer Rechtfertigung der mittelbaren Diskriminierung

Anders wäre es nur dann, wenn die unterschiedliche Behandlung der beiden Arbeitnehmerkategorien durch Faktoren gerechtfertigt wäre, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun hätten.

Es sei Sache des vorlegenden Gerichts - so der Gerichtshof - unter Berücksichtigung aller Umstände festzustellen, ob und inwieweit eine solche gesetzliche Regelung aus objektiven Gründen, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun hätten, gerechtfertigt sei.

Der Gerichtshof nimmt allerdings Stellung zu der Behauptung des Beklagten des Ausgangsverfahrens, es bestehe ein besonderer Zusammenhang zwischen der Dauer einer beruflichen Tätigkeit und dem Erwerb eines bestimmten Kenntnis- oder Erfahrungstands. So argumentiert hier der Senator für Finanzen, das für die prüfungsfreie Bestellung zum Steuerberater erforderliche Erfahrungswissen könne nur in einem Tätigkeitszeitraum angesammelt werden, dessen Dauer unabhängig vom Einzelfall mit gleicher Wirkung für alle Bewerber normiert worden sei. Dem hält Frau K. entgegen, die Aufgabenvielfalt und die Qualität der Arbeit, die Teilzeitbeschäftigte leisteten, sei mit denjenigen von Vollzeitbeschäftigten vergleichbar; lediglich die Quantität der Tätigkeiten sei unterschiedlich.

Dazu stellt der Gerichtshof fest, daß sich der Behauptung, es bestehe ein besonderer Zusammenhang zwischen der Dauer einer beruflichen Tätigkeit und dem Erwerb eines bestimmten Kenntnis- oder Erfahrungsstands, keine objektiven Kriterien entnehmen ließen, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun hätten. Es handele sich dabei nämlich lediglich um eine verallgemeinernde Aussage zu bestimmten Kategorien von Arbeitnehmern. Zwar gehe das Dienstalter Hand in Hand mit der dienstlichen Erfahrung, die den Arbeitnehmer grundsätzlich zu einer besseren Erfüllung seiner Aufgaben befähige, jedoch hänge der objektive Charakter eines solchen Kriteriums von allen Umständen des Einzelfalls und insbesondere davon ab, welche Beziehung zwischen der Art der ausgeübten Tätigkeit und der Erfahrung bestehe, die die Ausübung dieser Tätigkeit nach einer bestimmten Anzahl geleisteter Arbeitsstunden verschaffe.

So erwähnt der Gerichtshof, daß das Steuerberatungsgesetz in seiner ursprünglichen Fassung als Voraussetzung für die Befreiung der Beamten des gehobenen Dienstes der Finanzverwaltung von der Steuerbevollmächtigtenprüfung nur eine fünfjährige Tätigkeit auf dem Gebiet des Steuerwesens während der letzten zehn Jahre vor dem Ausscheiden aus dem Dienst vorgesehen habe. Frau K. habe unwidersprochen geltend gemacht, die Tätigkeitsdauer sei im Jahr 1972 von fünf auf fünfzehn Jahre angehoben worden, um der Tendenz der Beamten, in die selbständigen Berufe abzuwandern, Einhalt zu gebieten; die Gesetzesänderung sei also nicht aus Gründen der Qualifikation erfolgt.

IV. Die Entscheidung des Gerichtshofes

Daher antwortet der Gerichtshof dem deutschen Gericht :

Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie 76/207/EWG des Rates vom 9. Februar 1976 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in bezug auf die Arbeitsbedingungen steht nationalen Rechtsvorschriften entgegen, nach denen sich die Gesamtdauer der als Voraussetzung für die Befreiung von der Steuerberaterprüfung geforderten Sachbearbeitertätigkeit bei Teilzeitbeschäftigung mit Ermäßigung bis auf die Hälfte der regelmäßigen Arbeitszeit entsprechend verlängert, wenn diese Vorschriften erheblich mehr Frauen als Männer betreffen und nicht durch objektive Faktoren gerechtfertigt sind, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben.

Ausschließlich zur Verwendung durch die Medien bestimmt - nichtamtliches Dokument, das den Gerichtshof nicht bindet - verfügbar in deutsch und französisch.

Wegen einer Kopie des Urteils konsultieren Sie bitte die Homepage des Gerichtshofes und des Gerichts 1. Instanz der EG http://europa.eu.int/cj/index.htm oder wenden sich an Frau Dr. Ulrike Städtler - Tel. (00352) 4303-3255 ; fax : (00352) 4303-2500.