ABTEILUNG PRESSE UND INFORMATION

PRESSEMITTEILUNG NR. 65/97

9. Oktober 1997

Urteil des Gerichtshofes in der Rechtssache C-291/96

Vorabentscheidungsersuchen des Amtsgerichts Reutlingen in dem Strafverfahren gegen Martino Grado

Fehlende Zuständigkeit des Gerichtshofes für die Frage einer möglichen Diskriminierung durch Verweigerung der Anrede "Herr" in einem deutschen Strafverfahren gegen einen italienischen Bürger.


I. Zum Sachverhalt und Verfahren

Am 9. April 1996 beantragte die Staatsanwaltschaft Tübingen beim Amtsgericht Reutlingen den Erlaß eines Strafbefehls wegen Fahrerflucht gegen den italienischen Staatsangehörigen Martino Grado.

Der zuständige Richter beim Amtsgericht Reutlingen war der Ansicht, daß das Weglassen der Anrede „Herr" vor dem Namen der Personen, gegen die sich der Antrag auf Erlaß eines Strafbefehls richtet, gegen die Menschenwürde und das Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz, die in den Artikeln 1 und 3 des deutschen Grundgesetzes verankert seien, verstößt. Nach vergeblicher Bitte um Nachbesserung des Antrags, weigerte sich der Amtsrichter, den Strafbefehl zu unterschreiben, legte aber dem Gerichtshof der EG folgende Frage zur Vorabentscheidung vor: "Ist es mit dem Europäischen Gemeinschaftsrecht vereinbar, oder verstößt es gegen das Diskriminierungsverbot in Artikel 6 des Vertrages über die Europäische Union, daß ein Staatsanwalt in einem von ihm vorgefertigten und anschließend vom Gericht zu unterzeichnenden Strafbefehlsantrag gegenüber einem ausländischen Arbeitnehmer (im Sinne von Artikel 48Ä51 des Vertrages über die Europäische Union) aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Union ausdrücklich die Höflichkeitsanrede „Herr" verweigert Ä und zwar entgegen der sonst bei der Staatsanwaltschaft üblichen und auch von diesem Staatsanwalt sonst selbst geübten Praxis?"

II. Zur Stellungnahme des Gerichtshofes

Nach ständiger Rechtsprechung könne der Gerichtshof nicht über eine Vorabentscheidungsfrage befinden, wenn offensichtlich sei, daß die erbetene Auslegung einer Gemeinschaftsvorschrift in keinem Zusammenhang mit dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits stehe.

Das im EG-Vertrag verankerte Verbot jeder Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit beschränke sich auf den Anwendungsbereich dieses Vertrages und insbesondere auf die Vorschriften, die die Beachtung der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen im allgemeinen oder die Freizügigkeit der Arbeitnehmer im besonderen gewährleisten sollten.

Selbst wenn sich die Praxis der Staatsanwaltschaft Tübingen als diskriminierend gegenüber Gemeinschaftsbürgern erweisen sollte, so sei nicht ersichtlich, daß dies Auswirkungen auf das Ausgangsverfahren habe; die vorgelegte Frage beziehe sich damit nicht auf eine Auslegung des Gemeinschaftsrechts, die für die vom Gericht zu erlassende Entscheidung objektiv erforderlich sei.

Mithin sei der Gerichtshof nicht für die Beantwortung der vom Amtsgericht Reutlingen vorgelegten Frage zuständig.

Ausschließlich zur Verwendung durch die Medien bestimmt - nichtamtliches Dokument, das den Gerichtshof nicht bindet - verfügbar in deutsch, französisch und italienisch.

Wegen einer Kopie des Urteils konsultieren Sie bitte die Homepage des Gerichtshofes und des Gerichts 1. Instanz der EG http://europa.eu.int/cj/index.htm oder wenden sich an Frau Dr. Ulrike Städtler - Tel. (00352) 4303-3255; fax: (00352) 4303-2500.