ABTEILUNG PRESSE UND INFORMATION

PRESSEMITTEILUNG NR. 20/98

31. März 1998

Urteil des Gerichts erster Instanz in der Rechtssache T-129/96

Preussag Stahl AG / Kommission

DIE KOMMISSION MUSS VON DEM BETROFFENEN MITGLIEDSTAAT RECHTZEITIG ÜBER EIN STAATLICHES BEIHILFEVORHABEN INFORMIERT WERDEN, UM DIE VEREINBARKEIT DER BEIHILFE MIT DEM GEMEINSAMEN MARKT BEREICH KOHLE UND STAHL ÜBERPRÜFEN ZU KÖNNEN


Durch Entscheidung vom Mai 1996 ordnete die Kommission die Rückzahlung der der Walzwerk Ilsenburg GmbH im Dezember 1994, Oktober 1995 und Januar 1996 gewährten staatlichen Beihilfen an, da es sich um untersagte Beihilfen handele.

Das Gericht erster Instanz hat heute die Nichtigkeitsklage der betroffenen Preussag AG abgewiesen.

  1. Der rechtliche Rahmen

    Jede Beihilfe eines Mitgliedstaats zugunsten eines Unternehmens kann den Wettbewerb im Gemeinsamen Markt verfälschen. Aus diesem Grund untersagt der EGKS-Vertrag grundsätzlich alle Beihilfen der Mitgliedstaaten für die Eisen- und Stahlindustrie. Ausnahmen von diesem Grundsatz unterliegen strengen Voraussetzungen.

    Bis zum Jahr 1996 wurden durch den sog. "Fünften Stahlbeihilfenkodex" gemeinschaftliche Vorschriften eingeführt. Er bestimmte im besonderen, daß "regionale Investitionsbeihilfen ... bis zum 31.12.1994 als mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar gelten [können], wenn ... das begünstigte Unternehmen im Hoheitsgebiet der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik niedergelassen ist." Nach diesem Datum waren solche Beihilfen als untersagt anzusehen. Nach dem Kodex war die Kommission von einem Vorhaben so rechtzeitig zu unterrichten, daß sie sich hierzu äußern konnte. Sofern die Höhe der betreffenden geförderten Investitionen 10 Millionen ECU überstieg, mußte die Kommission zu dem

    Vorhaben die Stellungnahmen der Mitgliedstaaten einholen. Sie mußte ihre Entscheidung über die Vereinbarkeit der staatlichen Beihilfe spätestens drei Monate nach Eingang der erforderlichen Auskünfte treffen. Ohne Zustimmung der Kommission durfte der Mitgliedstaat die geplanten Maßnahmen nicht durchführen. Die Anmeldung eines regionalen Beihilfevorhabens des deutschen Staates zugunsten eines Unternehmes im Gebiet der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik war bis spätestens 30.6.1994 einzureichen.

  2. Der Sachverhalt

    Die Walzwerk Ilsenburg GmbH im Land Sachsen-Anhalt gehörte zu den Staatsbetrieben der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik. Sie wurde von der Klägerin 1992 als rechtlich selbständiges Tochterunternehmen übernommen. 1995 wurde das Walzwerk Ilsenburg mit der Klägerin verschmolzen, die nunmehr die Rechtsnachfolgerin der Firma Walzwerk Ilsenburg ist.

    1. Das Vorhaben Nr. 308/94

      Die Bundesregierung meldete durch Mitteilung vom 10.5.1994 gemäß dem Kodex Beihilfen von 11,8 Millionen DM an, die für das Walzwerk Ilsenburg für Investitionen zur Energieträger-Umstellung sowie zur Verbesserung des Umweltschutzes bestimmt waren.

    2. Das Vorhaben Nr. 777/94

      Außerdem mußte die Klägerin, um die Lebensfähigkeit des Werkes unter den geänderten Marktverhältnissen herzustellen, weitgehende Rationalisierungsmaßnahmen durchführen, darunter die Verlagerung der Grobblechproduktion von ihrem Werk Salzgitter (Westdeutschland) in das Walzwerk Ilsenburg. Zur Unterstützung der für diese Übernahme erforderlichen Investitionen in Höhe von 29,5 Millionen DM sollte das Land Sachsen-Anhalt eine Beihilfe genehmigen, die sich aus einem Investitionszuschuß in Höhe von 5,850 Millionen DM und einer Steuervergünstigung von 0,9505 Millionen DM zusammensetzte. Die Bundesregierung meldete diese Beihilfevorhaben mit Telefax vom 24.11.1994 bei der Kommission an, das von der Komission am nächsten Tag unter der Nr. 777/94 eingetragen wurde. Diese Anmeldung nahm ausdrücklich Bezug auf die Anmeldung des Vorhabens Nr. 308/94.

      Die Kommission regte mit Schreiben vom 1.12.1994 an die Bundesregierung an, die Anmeldung des Beihilfevorhabens Nr. 777/94 zurückzuziehen, um eine Verfahrenseröffnung allein wegen der Versäumung der Frist, die Ende Juni 1994 abgelaufen sei, zu vermeiden. Die Kommission führte aus, ein Fristversäumnis allein stehe einer Bearbeitung dann nicht im Wege, wenn sie noch in der Lage wäre, vor dem Jahresende 1994 eine Entscheidung zu treffen. Da das Beihilfevorhaben Nr. 777/94 erst am 25.11.1994, also lediglich 17 Arbeitstage vor der letzten Sitzung der Kommission im Jahr 1994, angemeldet worden sei, sei es ihr jedoch selbst bei größtmöglicher Beschleunigung unmöglich, vor dem Jahresende zu entscheiden, da im Hinblick auf das vorgesehene Investitionsvolumen eine Konsultation der Mitgliedstaaten notwendig sei. Die Bundesregierung teilte der Kommission mit Schreiben vom 13.12.1994 mit, daß sie die Anmeldung des Beihilfevorhabens Nr. 777/94 nicht zurückziehen werde.

    3. Das Schreiben des Kommissionsmitglieds

      In der Zwischenzeit hatte die Preussag AG am 7.12.1994 ein Schreiben an die Mitglieder der Kommission Van Miert und Bangemann gerichtet, in dem sie ausführte, daß die bei der Anmeldung eingetretene Verzögerung auf der breiten und langwierigen Diskussion beruhe, zu der die gravierenden regionalpolitischen Beschäftigungseinflüsse des Beihilfevorhabens Nr. 777/94 geführt hätten. Deshalb bat sie die beiden Mitglieder der Kommission, ihre Beamten zu veranlassen, die Prüfung dieses Vorhabens noch unter der Geltung des Stahlkodex vorzunehmen. Die Preussag AG erhielt durch Telefax vom 21.12.1994, bestätigt durch ein auf denselben Tag datiertes Schreiben, folgende Antwort von Herrn Martin Bangemann: "... freue ich mich, Ihnen mitteilen zu können, daß die EG-Kommission heute die Beihilfe für die Walzwerke Ilsenburg, wie beantragt, genehmigt hat..." Daraufhin wurde die regionale Beihilfe durch den deutschen Staat gewährt.

      Die Kommission nannte den deutschen Stellen mit Telex vom 21.12.1994, bestätigt mit Schreiben vom 1.2.1995, die Beihilfevorhaben, gegen die sie keine Einwände erhob, darunter das Vorhaben Nr. 308/94, nicht aber das Vorhaben Nr. 777/94.

      Am 15.02.1995 beschloß die Kommission, gegen das Beihilfevorhaben Nr. 777/94 das im Kodex vorgesehene Beihilfeprüfverfahren einzuleiten. Sie führte aus, die außerordentliche Verspätung der Anmeldung dieses Vorhabens habe es ihr unmöglich gemacht, vor dem 31.12.1994 über seine Vereinbarkeit zu entscheiden; nach diesem Zeitpunkt sei sie nach dem Wortlaut des Kodex nicht mehr befugt gewesen, eine Entscheidung zu erlassen. Außerdem forderte die Kommission die übrigen Mitgliedstaaten und die sonstigen Beteiligten auf, sich binnen eines Monats seit Veröffentlichung der Mitteilung zu dem Beihilfevorhaben Nr. 777/94 zu äußern.

    4. Die Entscheidung der Kommission über das Projekt Nr. 777/94

      Die Kommission stellte in ihrer Entscheidung 96/544/EGKS vom 29.05.1996 über eine staatliche Beihilfe zugunsten der Walzwerk Ilsenburg fest, daß die dem Unternehmen gewährte regionale Beihilfe eine staatliche Beihilfe darstellte, die mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar und durch Vorschriften des Vertrages und des Kodex untersagt sei, und ordnete deren Rückzahlung an.

  3. Die Klage

    Die Preussag AG hat Klage auf Nichtigerklärung der angefochtenen Entscheidung der Kommission erhoben und wird hierbei von der Bundesrepublik Deutschland als Streithelferin unterstützt.

  4. Die Begründung des Urteils des Gerichts erster Instanz

    Das Gericht bezieht sich auf den klaren Wortlaut des Fünften Kodex. Die Kommission sei nicht mehr befugt gewesen, über die Vereinbarkeit der regionalen Investititionsbeihilfe zu entscheiden. Ihr habe für die Einleitung des Prüfverfahrens eine Frist von wenigstens sechs Monaten vor dem Stichtag des 31.12.1994 zur Verfügung gestanden. Die deutschen Stellen seien, als sie die Anmeldung des Beihilfevorhabens Nr. 777/94 zu einem Zeitpunkt aufrechterhalten haben, zu dem der Kommission wesentlich weniger Zeit blieb als die im Kodex festgelegten sechs Monate, das Risiko eingegangen, daß es der Kommission unmöglich sein würde, das Beihilfevorhaben zu prüfen, solange sie noch dazu befugt war. Da eine offensichtliche Säumigkeit der Kommission nicht nachgewiesen sei, könne ihr der Eintritt dieses Risikos nicht angelastet werden. Nach dem Stichtag, dem 31.12.1994, habe die Beihilfe nicht mehr nach dem Kodex als mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar angesehen werden können und sei somit untersagt gewesen.

    In Kenntnis der Tatsachen - das Schreiben der Kommission vom 1.12.1994, mit dem die Kommission der Bundesregierung nahegelegt hatte, die Anmeldung zurückzuziehen; das Fernschreiben vom 21.12.1994 ohne Erwähnung des Beihilfevorhabens 777/94; und der Umstand, daß die Kommission am 21.12.1994 noch nicht die Stellungnahme der Mitliedstaaten zu diesem Vorhaben eingeholt hatte - müßte den deutschen Stellen, dem einzigen institutionellen Gesprächspartner der Kommission, bewußt gewesen sein, daß diese das Beihilfevorhaben Nr. 777/94 nicht genehmigt hatte. Dasselbe gelte für die Preussag AG.

    Unter diesen Umständen sei die Beantwortung der Bitte um Hilfestellung, die die Preussag AG am 7.12.1994 ausgesprochen hatte, durch das von Kommissionsmitglied Bangemann unterzeichnete Schreiben vom 21.12.1994 nicht geeignet gewesen, der Klägerin die Gewißheit zu vermitteln, daß die Kommission ihre Meinung geändert hatte. Dieses Schreiben habe im übrigen die Antwort auf eine von der Preussag AG am Rande des im Kodex festgelegten Beihilfeprüfverfahrens ausgesprochene Bitte um offiziöse Hilfestellung dargestellt. Folglich habe dieses Schreiben bei dieser kein berechtigtes Vertrauen auf Erteilung der Genehmigung für die streitige Beihilfe begründen können.

Zur Verwendung durch die Medien bestimmtes nichtamtliches Dokument, das das Gericht erster Instanz nicht bindet. Diese Pressemitteilung ist in deutsch und französisch verfügbar.

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