Seit dem Auftreten der bovinen spongiformen Enzephalopathie (BSE), des sogenannten Rinderwahnsinns, hat das Vereinigte Königreich mehrere Maßnahmen zur Bekämpfung dieser Krankheit erlassen, die die Gefahr für die menschliche Gesundheit verringern sollten. Es hat ferner das Spongiform Encephalopathy Advisory Committee (SEAC) gegründet, einen unabhängigen Ausschuß zur wissenschaftlichen Beratung der Regierung. Dieser Ausschuß hat am 20. März 1996 mitgeteilt, daß Kontakt mit BSE die wahrscheinlichste Erklärung für das Auftreten einer neuen Form der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit sei, einer Enzephalopathie, die beim Menschen auftritt.
Entsprechend den Empfehlungen des SEAC für den Gesundheitsschutz und eines Gutachtens des Wissenschaftlichen Veterinärausschusses der Europäischen Union hat die Kommission am 27. März 1996 eine Entscheidung mit Dringlichkeitsmaßnahmen erlassen, die die Ausfuhr aller Rinder und allen Rindfleisches sowie aller aus Rindfleisch gewonnenen Erzeugnisse aus dem Vereinigten Königreich in andere Mitgliedstaaten und in Drittländer verbot.
Die National Farmers' Union (NFU) sowie neun Betriebe, die auf die Zucht, die Aufzucht, die Beförderung und die Ausfuhr von Rindern und den Handel mit Rindfleischerzeugnissen spezialisiert sind, haben vor dem High Court of Justice von England und Wales Klage gegen verschiedene Maßnahmen der britischen Behörden zur Umsetzung der Entscheidung der Kommission erhoben. Der High Court hat dem Gerichtshof eine Frage zur Gültigkeit der Entscheidung der Kommission vorgelegt. Gleichzeitig hat das Vereinigte Königreich Klage auf Nichtigerklärung dieser Entscheidung erhoben. Es hat auch einen Antrag auf Aussetzung der Vollziehung der angefochtenen Entscheidung eingereicht, den der Gerichtshof mit Beschluß vom 12. Juli 1996 zurückgewiesen hat.
In beiden Rechtssachen wird die Ungültigkeit der Entscheidung unter anderem mit der mangelnden Kompetenz der Kommission, einem angeblichen Ermessensmißbrauch der Kommission sowie einem Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit begründet.
Zur Zuständigkeit der Kommission führt der Gerichtshof aus, Zweck der Richtlinien, die diese Zuständigkeit begründeten, sei es, der Kommission schnelles Eingreifen zu ermöglichen, um die Verbreitung einer Tierseuche und eine Gefährdung der menschlichen Gesundheit zu verhindern. Die neuen Hinweise des SEAC hätten das Verständnis der Gefahr, die BSE für die menschliche Gesundheit darstelle, erheblich geändert und damit die Kommission zum Ergreifen von Schutzmaßnahmen berechtigt.
Nach den maßgeblichen Vorschriften sei es im Falle einer Seuche, die eine erhebliche Gefahr für Tiere oder Menschen darstelle, eine geeignete Maßnahme, die Rinder und die Rindfleischerzeugnisse auf ein bestimmtes Gebiet zu begrenzen. Die Wirksamkeit einer solchen Eingrenzung mache ein vollständiges Verkehrsverbot für Rinder und Rindfleischerzeugnisse über die Grenzen des betroffenen Mitgliedstaats erforderlich, auch was die Ausfuhr in Drittländer betreffe. Im übrigen schlössen diese Richtlinien die Befugnis der Kommission, die Ausfuhr in Drittländer zu verbieten, nicht ausdrücklich aus.
Da einerseits ein Zusammenhang zwischen BSE und einer tödlichen Erkrankung von Menschen, für die derzeit kein Heilmittel bekannt sei, wahrscheinlich sei und da es andererseits zweifelhaft sei, ob die früher vom Vereinigten Königreich und der Gemeinschaft getroffenen Maßnahmen ausreichend und wirksam seien, habe die Kommission ihre Befugnisse nicht offenkundig überschritten, als sie sich bemüht habe, die Krankheit durch das Verbot der Ausfuhr von Rindern und Rindfleischerzeugnissen in andere Mitgliedstaaten sowie in Drittländer auf das Vereinigte Königreich zu begrenzen.
Der Vorwurf des Ermessensmißbrauchs sei darauf gestützt, daß in der Begründung der Entscheidung auf die Besorgnisse der Verbraucher Bezug genommen sei. Im übrigen sei die Maßnahme als Maßnahme zur Stützung des Rindfleischsektors erschienen. Jedoch müsse sich die Erörterung der Begründung einer Entscheidung auf den Gesamttext, nicht auf einen isolierten Teil erstrecken. So gesehen, zeige sich, daß die Kommission die Dringlichkeitsmaßnahmen wegen der Gefahr der Übertragbarkeit von BSE auf den Menschen erlassen habe und daß die Akten nicht die Auffassung stützten, ausschließliches oder maßgebliches Ziel der Kommission sei die Wiederherstellung des Vertrauens der Verbraucher oder wirtschaftlicher Natur, nicht aber der Gesundheitsschutz gewesen.
Was den Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit angehe, seien im Zeitpunkt des Erlasses der angefochtenen Entscheidung die Gefahren, die von lebenden Rindern, Rindfleisch oder Folgeerzeugnissen ausgegangen seien, völlig ungewiß gewesen. Seien Gefahren für die menschliche Gesundheit oder der Umfang dieser Gefahren ungewiß, könnten die Organe Schutzmaßnahmen treffen, ohne abwarten zu müssen, bis diese Gefahren oder ihre Schwere in vollem Umfang nachgewiesen seien. Angesichts der Größe der Gefahr und der gegebenen Dringlichkeit könne ein vorläufiges Ausfuhrverbot nicht als offenkundig ungeeignet betrachtet werden; die Kommission habe angemessene Vorsicht walten lassen, als sie die Ausfuhr von Rindern, Rindfleisch und Folgeerzeugnissen bis zum Vorliegen weiterer wissenschaftlicher Erkenntnisse global verboten habe.
Nur ein Verbot der Ausfuhr in Drittländer erlaube, die Wirksamkeit der Maßnahme zu gewährleisten, indem alle möglicherweise mit BSE infizierten Einheiten auf das Vereinigte Königreich begrenzt würden; wäre nämlich die Ausfuhr in bestimmte Drittländer möglich, so könnte eine Wiedereinfuhr des Fleisches oder eine Verkehrsverlagerung nicht völlig ausgeschlossen werden.
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