Abteilung Presse und Information

PRESSEMITTEILUNG NR. 71/98

24. November 1998

Urteil des Gerichtshofes in der Rechtssache C-274/96

Horst Otto Bickel und Ulrich Franz

DIE RECHTE DER DEUTSCHSPRACHIGEN MINDERHEIT DER PROVINZ BOZEN IN ITALIEN MÜSSEN AUF DIE DEUTSCHSPRACHIGEN ANGEHÖRIGEN ANDERER MITGLIEDSTAATEN AUSGEDEHNT WERDEN


Eine nationale Regelung, die es einer in einem Gebiet ansässigen Sprachminderheit erlaubt zu erreichen, daß ein Strafverfahren in ihrer Sprache durchgeführt wird, ohne dieses Recht den diese Sprache sprechenden Angehörigen anderer Mitgliedstaaten zuzuerkennen, wenn sie sich in diesem Gebiet aufhalten, verstößt gegen den EG-Vertrag

Nach italienischem Recht ist in der Region Trentino-Südtirol die deutsche Sprache der italienischen Sprache gleichgestellt. So haben die deutschsprachigen Bürger, die in der Provinz Bozen wohnen (dem Gebiet, in dem die deutschsprachige Minderheit hauptsächlich ansässig ist), das Recht, im Verkehr mit den Gerichten und der öffentlichen Verwaltung, die ihren Sitz in dieser Provinz haben, die deutsche Sprache zu gebrauchen. Sie können somit erreichen, daß ein sie betreffendes Strafverfahren auf deutsch durchgeführt wird.

Herr Bickel, ein österreichischer Staatsangehöriger, und Herr Franz, ein deutscher Staatsangehöriger, werden wegen Taten, die sie während eines Besuches in der Provinz Bozen begangen haben (Trunkenheit im Verkehr bzw. Mitsichführen einer verbotenen Waffe) strafrechtlich verfolgt. Vor dem italienischen Strafgericht haben sie unter Berufung auf die Vorschriften zum Schutz der deutschsprachigen Minderheit der Provinz beantragt, das Verfahren nicht auf italienisch, sondern auf deutsch durchzuführen.

Das angerufene Gericht hat sich die Frage gestellt, ob die für die Bürger der Provinz Bozen geltenden Verfahrensvorschriften nach Gemeinschaftsrecht auch auf Angehörige anderer Mitgliedstaaten, die die Provinz besuchen, anzuwenden sind. Es hat deshalb das Verfahren ausgesetzt und den Gerichtshof nach der Vereinbarkeit der betreffenden italienischen Regelung mit den gemeinschaftsrechtlichen Grundsätzen des Verbots der Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit und des freien Dienstleistungsverkehrs gefragt.

Der Gerichtshof führt zunächst aus, für Unionsbürger sei die Möglichkeit, mit den Verwaltungs- und Justizbehörden eines Staates mit gleichem Recht wie die Bürger dieses Staates in einer Sprache kommunizieren zu können, geeignet, die Ausübung der Freiheit zu erleichtern, sich in einem anderen Mitgliedstaat zu bewegen, aufzuhalten und dort eine Dienstleistung in Anspruch zu nehmen.

Sodann prüft der Gerichtshof, ob der Anspruch darauf, daß ein Prozeß vor einem italienischen Gericht der Provinz Trentino-Südtirol auf deutsch durchgeführt wird, den Unionsbürgern gewährt werden muß, wenn dieser Anspruch den Bürgern des betreffenden Mitgliedstaats eröffnet ist. Der Gerichtshof stellt fest, daß deutschsprachige Angehörige anderer Mitgliedstaaten, die sich in der Provinz Bozen bewegen und aufhalten, gegenüber den italienischen Staatsangehörigen, die in dieser Provinz wohnen, benachteiligt sind. Er weist das Argument der italienischen Regierung, die derzeitige Regelung diene dem Schutz einer ethnisch-kulturellen Minderheit, zurück; ein solches Ziel werde nämlich durch die Ausdehnung der streitigen Regelung auf deutschsprachige Angehörige der anderen Mitgliedstaaten nicht beeinträchtigt.

Der Gerichtshof ist somit zu dem Ergebnis gelangt, daß eine nationale Regelung wie die streitige italienische Regelung gegen das Diskriminierungsverbot des EG-Vertrages verstößt.

Zur Verwendung durch die Medien bestimmtes nichtamtliches Dokument, das den Gerichtshof nicht bindet. Dieses Dokument liegt in deutscher, französischer und italienischer Sprache vor.

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