Anläßlich der Weigerung eines Unternehmens, das einen beträchtlichen Anteil am österreichischen Tageszeitungsmarkt hat, den Vertrieb eines Wettbewerbers in sein Hauszustellungssystem aufzunehmen, legt der Gerichtshof den Begriff der mißbräuchlichen Ausnutzung einer beherrschenden Stellung aus.
Der Antragsteller Bronner ist ein österreichisches Unternehmen, das sich mit der Redaktion, dem Verlag und dem Vertrieb der Tageszeitung Der Standard befaßt. 1994 hatte Der Standard am Markt der österreichischen Tageszeitungen einen Anteil von 3,6 % bei der Druckauflage und von 6 % bei den Werbeeinnahmen. Die Antragsgegnerin Mediaprint, die die Tageszeitungen Neue Kronen Zeitung und Kurier verlegt, hatte 1994 einen Marktanteil von 46,8 % bei den Auflagen und von 42 % bei den Werbeeinnahmen. Für den Vertrieb ihrer Tageszeitungen hat Mediaprint ein landesweites Hauszustellungssystem entwickelt, das eine direkte Auslieferung der Zeitungen an die Abonnenten in den frühen Morgenstunden ermöglicht.
Da Bronner der Zugang zu diesem System für den Vertrieb seiner Tageszeitung verweigert wurde, stellte er vor dem Oberlandesgericht Wien einen auf das österreichische Kartellgesetz gestützten Antrag, mit dem Mediaprint verpflichtet werden sollte, den Standard gegen Zahlung eines angemessenen Entgelts in ihr Hauszustellungssystem aufzunehmen. Nach diesem Gesetz kann das zuständige Gericht den beteiligten Unternehmen nämlich aufgeben, den Mißbrauch einer marktbeherrschenden Stellung abzustellen.
Zur Begründung seines Antrags macht Bronner geltend, die Postzustellung, die in der Regel erst am späten Vormittag erfolge, stelle keine Alternative zum Hauszustellungssystem dar; außerdem sei es ihm angesichts seiner geringen Abonnentenzahl nicht möglich, ein rentables eigenes Hauszustellungssystem zu organisieren.
Das Oberlandesgericht Wien hat das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof eine Frage nach der Auslegung von Artikel 86 EG-Vertrag vorgelegt. Zur Erinnerung: Artikel 86 verbietet die mißbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung auf dem Gemeinsamen Markt oder auf einem wesentlichen Teil desselben, soweit dies dazu führen kann, den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen.
In seiner Antwort hat der Gerichtshof zum einen die Voraussetzungen einer beherrschenden Stellung und zum anderen geprüft, nach welchen Kriterien ein Mißbrauch einer beherrschenden Stellung zu bejahen ist.
Um feststellen zu können, ob ein Unternehmen eine beherrschende Stellung einnimmt, müsse zunächst der relevante Erzeugnis- oder Dienstleistungsmarkt definiert werden. Sodann sei der wesentliche Teil des Gemeinsamen Marktes abzugrenzen, auf dem das Unternehmen mißbräuchliche Praktiken anwenden könne, die einen wirksamen Wettbewerb verhinderten.
Der Gerichtshof stellt dazu klar, daß das vorlegende Gericht zu prüfen habe, ob Hauszustellungssysteme wie das von Mediaprint aufgebaute einen besonderen Markt darstellten oder ob andere Vertriebswege, wie der Laden- oder der Kioskverkauf oder die Postzustellung, mit ihnen hinreichend austauschbar seien. Außerdem sei daran zu erinnern, daß auch das Gebiet eines Mitgliedstaats Ä hier Österreich Ä, auf das sich eine beherrschende Stellung erstrecke, einen wesentlichen Teil des Gemeinsamen Marktes im Sinne des Artikels 86 des Vertrages darstellen könne.
Sodann prüft der Gerichtshof, ob es eine mißbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung darstellen kann, daß der Betreiber des einzigen auf dem österreichischen Tageszeitungsmarkt bestehenden Hauszustellungssystems dem Verleger einer Konkurrenztageszeitung den Zugang zu seinem System verweigert, weil der genannte Wettbewerber durch diese Weigerung um einen für den Verkauf seiner Tageszeitung als wesentlich angesehenen Betriebsweg gebracht wird.
Hierzu stellt der Gerichtshof fest, daß eine solche Verweigerung nur dann einen Mißbrauch darstellen könne, wenn sie zum einen geeignet sei, jeglichen Wettbewerb auf dem Tageszeitungsmarkt durch den Verleger, der die Dienstleistung begehre, auszuschalten, und nicht objektiv zu rechtfertigen sei, und wenn zum anderen die in der Hauszustellung liegende Dienstleistung für die Ausübung der Tätigkeit des Wettbewerbers in dem Sinne unentbehrlich sei, daß kein tatsächlicher oder potentieller Ersatz für dieses Vertriebssystem bestehe.
Der Gerichtshof sieht diese Voraussetzungen im vorliegenden Fall als nicht erfüllt an, da andere Systeme des Vertriebs von Tageszeitungen existierten und keine technischen, rechtlichen oder auch nur wirtschaftlichen Hindernisse bestünden, die geeignet wären, jedem anderen Verleger von Tageszeitungen, gleich ob er allein oder in Zusammenarbeit mit anderen Verlegern handele, die Errichtung eines solchen Systems unmöglich zu machen oder zumindest unzumutbar zu erschweren.
Der Gerichtshof antwortet auf die Vorlagefragen des Oberlandesgerichts Wien:
Es stellt keine mißbräuchliche Ausnutzung einer beherrschenden Stellung im Sinne von Artikel 86 EG-Vertrag dar, wenn ein Presseunternehmen, das einen überwiegenden Anteil am Tageszeitungsmarkt in einem Mitgliedstaat hat und das einzige in diesem Mitgliedstaat bestehende landesweite System der Hauszustellung von Zeitungen betreibt, sich weigert, dem Verleger einer Konkurrenztageszeitung, der wegen der geringen Auflagenhöhe dieser Zeitung nicht in der Lage ist, unter wirtschaftlich vertretbaren Bedingungen allein oder in Zusammenarbeit mit anderen Verlegern ein eigenes Hauszustellungssystem aufzubauen und zu betreiben, gegen angemessenes Entgelt Zugang zum genannten System zu gewähren.
Zur Verwendung durch die Medien bestimmtes nichtamtliches Dokument, das den Gerichtshof nicht bindet. Dieses Dokument liegt in deutscher und französischer Sprache vor.
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