Der Generalanwalt gelangt zu dem Ergebnis, daß die österreichischen Arbeitnehmervorschriften hinsichtlich bestimmter Aspekte, die die Kündigung von Frauen betreffen, die ihre Tätigkeit aufgeben, um ein Kind aufzuziehen, mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar sind
Frau Gruber war vom 23. Juni 1986 bis zum 13. Dezember 1995 bei der Silhouette International Schmied GmbH & Co. KG als Arbeiterin beschäftigt. Sie ist Mutter von zwei Kindern, die am 1. Oktober 1993 und 19. Mai 1995 geboren sind. Ab Herbst 1993 nahm sie nacheinander Mutterschutzurlaub (vorgesehen für die Zeit vor und nach der Entbindung) und Karenzurlaub. Als sie sich nach Ablauf dieses Karenzurlaubs Schwierigkeiten bei der Organisation der Betreuung ihrer Kinder gegenübersah, die auf das Fehlen von Betreuungsmöglichkeiten (wie Kinderkrippen) zurückzuführen waren, war sie, obgleich sie eigentlich ihre unselbständige Erwerbstätigkeit fortsetzen wollte, zur Kündigung gezwungen, um ihre Kinder aufzuziehen.
Nach österreichischem Recht kann eine Arbeitnehmerin, die ihre Tätigkeit aufgibt, um ihr Kind aufzuziehen, dann, wenn sie ohne Unterbrechung mindestens fünf Jahre beschäftigt war, eine begrenzte Abfindung erhalten. Der Höchstbetrag dieser Abfindung entspricht der Hälfte der Kündigungsabfindung, die nach den Rechtsvorschriften für die Kündigung eines Arbeitsverhältnisses, das ununterbrochen drei Jahre gedauert hat, zu zahlen wäre. Beispielsweise werden gesundheitliche Gründe oder etwa ein Fehlverhalten des Arbeitgebers als "wichtiger Grund" im Sinne der österreichischen Rechtsvorschriften angesehen, die einen Arbeitnehmer zur Kündigung und zum Bezug einer Abfindung in voller Höhe berechtigen.
Die Firma Silhouette zahlte Frau Gruber die Hälfte der gesetzlichen Abfindung, und zwar 34 243 ATS. Unter Hinweis darauf, daß für ihre Kündigung ein "wichtiger Grund", nämlich das Fehlen von Betreuungseinrichtungen für Kinder von unter drei Jahren im Bundesland, in dem sie wohnt (Oberösterreich), gegeben sei, erhob Frau Gruber gegen diese Entscheidung Klage beim Landesgericht Linz, mit der sie die Zahlung einer Abfindung begehrt, die doppelt so hoch ist wie die ihr gezahlte.
Sie macht geltend, die Anwendung der nationalen Bestimmungen führe zu einer mittelbaren Diskriminierung von Arbeitnehmerinnen, die nach dem Gemeinschaftsrecht verboten sei, wonach der Grundsatz bestehe, daß männliche und weibliche Arbeitnehmer für die gleiche Arbeit das gleiche Entgelt erhalten müssen.
Das österreichische Gericht hat dem Gerichtshof Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt.
Nachdem im Anschluß an das schriftliche Verfahren die mündliche Verhandlung stattgefunden hat, obliegt es dem Generalanwalt, seine Schlußanträge vorzutragen.
Der Generalanwalt weist zunächst darauf hin, daß zwar keine gemeinschaftsrechtliche Bestimmung die Mitgliedstaaten verpflichte, für die Arbeitnehmer, die ihr Arbeitsverhältnis unterbrechen, um ihre Kinder aufzuziehen, eine Abfindung vorzusehen, daß jedoch das Vorliegen solcher Bestimmungen nach dem Grundsatz der Gleichbehandlung von männlichen und weiblichen Arbeitnehmern zu prüfen sei, da Kündigungsabfindungen eine Form von "Entgelt" im Sinne des Gemeinschaftsrechts darstellten.
Die österreichischen Rechtsvorschriften stellten keine Maßnahmen dar, die Arbeitnehmerinnen unmittelbar diskriminierten, da sie unterschiedslos und unter den gleichen Bedingungen für weibliche und männliche Arbeitnehmer gälten.
Daher sei zu prüfen, ob die Gewährung einer solchen Abfindung eine Maßnahme darstelle, die Arbeitnehmerinnen mittelbar diskriminiere, und speziell, ob die Anwendung einer nationalen Maßnahme trotz neutraler Formulierung tatsächlich einen wesentlich höheren Prozentsatz von Frauen als von Männern benachteilige und ob diese Maßnahme nicht durch objektive Faktoren, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun hätten, gerechtfertigt sei.
Nach Ansicht des Generalanwalts stellt die Tatsache, daß eine Arbeitnehmerin wie Frau Gruber nur die Hälfte der Kündigungsabfindung erhalte, auf die ein anderer Arbeitnehmer Anspruch habe, der sich gleichermaßen in einer Situation befinde, die dadurch gekennzeichnet sei, daß ihm die Fortsetzung seines Arbeitsverhältnisses aus bestimmten Gründen nicht zugemutet werden könne, eine eindeutige Benachteiligung dar, die noch dadurch verstärkt werde, daß zusätzliche Voraussetzungen (fünfjährige statt dreijährige Dauer der Tätigkeit) erfüllt werden müßten.
Der Generalanwalt verweist auf vom Landesgericht Linz vorgelegte Ä unstreitige Ä Statistiken, wonach es in der Mehrzahl Frauen seien, die ihr Arbeitsverhältnis beenden müßten, um ihre Kinder aufzuziehen, weil Betreuungseinrichtungen für diese fehlten (1994 hätten nur 30 % aller betroffenen Arbeitnehmerinnen die Arbeit sofort nach dem Ende des Karenzurlaubs wiederaufgenommen). Die Situation betreffe also im wesentlichen Arbeitnehmerinnen.
Die österreichische Regierung habe, um darzutun, daß die fraglichen Maßnahmen durch objektive Faktoren gerechtfertigt seien, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun hätten, ausgeführt, daß der Zweck dieser Maßnahmen gerade darin bestehe, es den Arbeitnehmern, die ihren Arbeitsvertrag unterbrechen wollten, um ihre Kinder aufzuziehen, zu ermöglichen, eine bestimmte Entschädigung zu erhalten; ihnen lägen daher sozialpolitische Zielsetzungen zugrunde. Die österreichische Regierung lege jedoch nicht dar, warum eine solche Begründung vom nationalen Gericht nie als "wichtiger Grund" angesehen werden könne, der zur Zahlung der Kündigungsabfindung in voller Höhe berechtige. Im übrigen sei nicht zu berücksichtigen, welche finanziellen Folgen eine Abfindungszahlung in voller Höhe (und nicht mehr in halber Höhe) für die Unternehmen habe, da Haushaltserwägungen keine objektive Rechtfertigung für eine Ungleichbehandlung von weiblichen und männlichen Arbeitnehmern beim Entgelt sein könnten.
Demgemäß gelangt der Generalanwalt zu dem Ergebnis, daß eine Diskriminierung von Arbeitnehmerinnen aufgrund von Rechtsvorschriften zu bejahen sei, die zur Folge hätten, daß für männliche Arbeitnehmer günstigere Voraussetzungen gälten (Möglichkeit, unter Anführung von Argumenten, die als "wichtiger Grund" anerkannt werden könnten, die Zahlung einer Abfindung in voller Höhe zu erhalten).
PS: Die Ansicht des Generalanwalts ist nicht bindend. Seine Aufgabe besteht darin, dem Gerichtshof in voller Unabhängigkeit eine rechtliche Lösung vorzuschlagen. Die Richter beginnen jetzt mit der Urteilsberatung.
Zur Verwendung durch die Medien bestimmtes nichtamtliches Dokument, das den Gerichtshof nicht bindet. Dieses Dokument liegt in deutscher und französischer Sprache vor.
Wegen des vollständigen Wortlauts der Schlußanträge konsultieren Sie bitte heute ab ungefähr 15.00 Uhr unsere Homepage im Internet www.curia.eu.int Für weitere Auskünfte wenden Sie sich bitte an Frau Dr. Ulrike Städtler, Tel.: (0 03 52) 43 03 - 32 55; Fax: (0 03 52) 43 03 - 27 34.