Mit der Vorlage seines Jahresberichts verdeutlicht der Gerichtshof die Entwicklung seiner Rechtsprechung im Jahr 1998 und zieht die bezifferte Bilanz seiner Tätigkeit: Beitrag des Gerichtshofes zur Berücksichtigung der Erfordernisse des Gemeinschaftsrechts in größtmöglicher Nähe zu den Sorgen der Bürger
Der ständige Anstieg der Zahl der vom Gerichtshof und vom Gericht erster Instanz behandelten Rechtssachen (768 abgeschlossene Rechtssachen im Jahr 1998) zeigt, welche Anstrengungen das Gemeinschaftsorgan unternimmt, um dem stetigen Anstieg der vor beiden Gerichtsbarkeiten anhängig gemachten Rechtssachen gerecht zu werden (1998 gelangten vor den Gerichtshof 235 und vor das Gericht 238 Rechtssachen).
Trotzdem steigt auch die Zahl der nicht abgeschlossenen Rechtssachen (664 beim Gerichtshof und 569 beim Gericht), obwohl sich die Zahl der erlassenen Urteile um fast 20 % erhöht hat.
In qualitativer Hinsicht zeugt das Echo einiger Urteile von der Bedeutung der Fragen, die der Gerichtshof zu entscheiden hat, ob es sich nun um die Anwendung und Auslegung des Gemeinschaftsrechts in Bereichen handelt, die das tägliche Leben der Bürger unmittelbar betreffen, oder um wirtschaftliche und finanzielle Fragen von erheblicher Bedeutung.
Die Modalitäten der Befassung des Gerichtshofes zeigen, welchen Platz das Gemeinschaftsrecht im Alltag der nationalen Gerichte einnimmt und welche Bedeutung seine Anwendung damit für die Unionsbürger hat. So ist die Zahl der eingangenen Vorabentscheidungsersuchen 1998 gegenüber dem Vorjahr um fast 10 % auf mehr als die Hälfte der neuen Rechtssachen gestiegen (264 Vorabentscheidungsersuchen von 485 beim Gerichtshof anhängig gemachten Rechtssachen). Über das nationale Gericht, das in vorderster Linie mit der Anwendung des Gemeinschaftsrechts betraut ist, erhält der Unionsbürger eine Antwort, die unmittelbar im Zusammenhang mit der Behandlung seines Rechtsstreits steht.
Die Rechtsprechung des Gerichtshofes und des Gerichts zeigt auch in diesem Jahr, welche Fragen die nationalen Gerichte in ihrem Bemühen um eine sorgfältige Anwendung des Gemeinschaftsrechts beschäftigt haben. Die Zahl der Urteile zum Wettbewerbsrecht, zu den staatlichen Beihilfen und zum öffentlichen Auftragswesen spiegelt wie immer auch die wirtschaftliche Dimension der Gemeinschaft.
Zum ersten Mal hat sich der Gerichtshof zum Begriff der "Unionsbürgerschaft" geäußert und entschieden, daß sich ein Bürger eines Mitgliedstaats, der rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnt, auf den Artikel über die Unionsbürgerschaft im Vertrag von Maastricht berufen kann (Martínez Sala).
In den Rechtssachen Decker und Kohll hat der Gerichtshof die Vereinbarkeit einer nationalen Regelung mit dem Gemeinschaftsrecht geprüft, nach der die Kostenerstattung für medizinische Produkte oder nichtklinische medizinische Leistungen, die in einem anderen Mitgliedstaat erworben oder erbracht werden, durch die Sozialversicherung strengeren Voraussetzungen (besondere vorherige Genehmigung) unterliegt. Er ist zu dem Schluß gelangt, daß die fragliche nationale Regelung ein Hindernis für den freien Warenverkehr und für den freien Dienstleistungsverkehr darstellte, weil sie die Patienten davon abhielt, sich in anderen Mitgliedstaaten behandeln zu lassen, und hat dieses Hindernis für nicht gerechtfertigt erklärt.
Auf dem Gebiet der Freizügigkeit der Arbeitnehmer hat der Gerichtshof entschieden, daß eine Bestimmung eines Tarifvertrags, die die Voraussetzungen für den Aufstieg der Angestellten im öffentlichen Dienst festlegt, ohne Beschäftigungszeiten in einem vergleichbaren Tätigkeitsbereich im öffentlichen Dienst eines anderen Mitgliedstaats zu berücksichtigen, gegen das Diskriminierungsverbot verstößt (Schöning-Kougebetopoulou). Die Französische Republik hat er wegen Verletzung ihrer Verpflichtungen verurteilt, weil sie in Belgien wohnende Grenzgänger, die in den vorzeitigen Ruhestand versetzt worden waren, von der Gewährung von Punkten für die zusätzliche Altersrente, wie sie in Frankreich wohnende Personen erhalten, ausgeschlossen hat (Kommission/Frankreich).
In der Rechtssache Grant hat sich der Gerichtshof zu Anwendung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen gegenüber einem Homosexuellen geäußert. Er hat festgestellt, daß die Weigerung eines Arbeitgebers, eine soziale Vergünstigung für eine Person zu gewähren, die das gleiche Geschlecht wie einer seiner Arbeitnehmer hatte und mit der dieser eine feste Beziehung unterhielt, keine Diskriminierung darstellte. Er hat festgestellt, daß diese Weigerung unabhängig vom Geschlecht des betroffenen Arbeitnehmers galt, und geprüft, ob eine feste Beziehung zwischen Personen des gleichen Geschlechts einer Ehe oder einer festen Beziehung zwischen Personen unterschiedlichen Geschlechts gleichzustellen ist; dabei hat er das Gemeinschaftsrecht, das Recht der Mitgliedstaaten und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte berücksichtigt. Er ist zu dem Schluß gekomm en, daß es gegenwärtig keine solche Gleichstellung gibt und daß allein der Gemeinschaftsgesetzgeber dies ändern kann.
Zum Schutz der schwangeren Frau hat der Gerichtshof erklärt, daß das Diskriminierungsverbot einen gleichartigen Schutz während der gesamten Schwangerschaft verlangt, insbesondere wenn eine Kündigung auf Fehlzeiten wegen einer Arbeitsunfähigkeit gestützt wird, die ihren Ursprung in der Schwangerschaft hat (Brown). Des weiteren hat er bestimmte Aspekte der für Frauen während des Mutterschaftsurlaubs geltenden Entgeltregelung und der ihnen in dieser Zeit zustehenden Rechte geklärt (Boyle).
Schließlich hat der Gerichtshof in den "BSE"-Rechtssachen ausgeführt, daß bei Ungewißheiten über das Bestehen oder die Tragweite von Gefahren für die Gesundheit von Menschen die Organe (es ging in diesem Fall um die Kommission und den Ausgleich zwischen ihren gesundheitspolizeilichen Befugnissen und den Erfordernissen des Gemeinsamen Marktes) Schutzmaßnahmen erlassen können, ohne abwarten zu müssen, daß das Vorliegen und die Größe dieser Gefahren konkret dargelegt sind.
Viele Urteile ergingen zur Gemeinschaftsregelung über das öffentliche Auftragswesen, die die von den öffentlichen Händen der Mitgliedstaaten vergebenen Aufträge für den Wettbewerb aller Unternehmen der Gemeinschaft öffnen sollen. Auf Vorabentscheidungsfragen nationaler Gerichte hat der Gerichtshof so den Begriff "Einrichtung des öffentlichen Rechts" im Zusammenhang mit dem Begriff des öffentlichen Auftraggebers definiert, einen wichtigen Begriff für die Festlegung der Gemeinschaftsregelung für öffentliche Aufträge. Als eine solche Einrichtung hat er eine Einrichtung angesehen, die ausschließlich zur Herstellung amtlicher Verwaltungsdokumente geschaffen worden war (Mannesmann); als "im Allgemeininteresse liegende Aufgabe" hat er das Abholen und die Behandlung von Haushaltsabfällen angesehen (BFI Holding), weil der Begriff des Al lgemeininteresses zu den Kriterien gehört, die nach dem Gemeinschaftsrecht für die Definition der Kategorie der Einrichtungen des öffentlichen Rechts gelten. Hierzu hat der Gerichtshof ausgeführt, daß im Allgemeininteresse liegende Aufgaben von hierzu geschaffenen privaten Einrichtungen wahrgenommen werden können und daß diese dabei auch, und sei es überwiegend, andere Aufgaben mit anderen Zwecken wahrnehmen können.
In Ermangelung einer Regelung dieser Frage hat der Gerichtshof die Verpflichtungen der Kommission bei der Prüfung einer Beschwerde und bei der Begründung ihrer Zurückweisung im Bereich der staatlichen Beihilfen klargestellt. In diesem Bereich sind Adressaten der Entscheidung der Kommission immer die Mitgliedstaaten. Die Schreiben an die Beschwerdeführer dienen nur der Information. Es gibt im übrigen keine Grundlage für eine Verpflichtung der Kommission, in eine streitige Erörterung mit dem Beschwerdeführer einzutreten, doch ist sie gehalten, dem Beschwerdeführer hinreichend die Gründe dafür darzulegen, daß die in der Beschwerde angeführten tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte für nicht ausreichend gehalten wurden (Kommission/Sytraval und Brink's France).
Auf dem Gebiet der staatlichen Beihilfen hat das Gericht die Voraussetzungen für die Zulässigkeit von Klagen geprüft. So wurde eine Region als in ihrer Rechtsposition unmittelbar und individuell betroffen angesehen durch eine Entscheidung, mit der ihr die Gewährung einer Beihilfe untersagt und sie verpflichtet worden war, einen mit einem Unternehmen geschlossenen Darlehensvertrag zu ändern (Vlaams Gewest/Kommission). Dagegen wurde eine Arbeitnehmergewerkschaft nicht als unmittelbar und individuell betroffen angesehen durch eine Entscheidung der Kommission, mit der eine Beihilfe für mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar erklärt worden war (Comité d'entreprise de la Société française de production u. a./Kommission). Schließlich wurde eine Gebietskörperschaft nicht als individuel l betroffen angesehen durch eine Verordnung des Rates über Beihilfen zugunsten bestimmter Werften, und zwar trotz des Allgemeininteresses, das sie an der Entwicklung der Wirtschaftstätigkeit und der Beschäftigung in ihrem Gebiet geltend machen konnte.
Das Gericht hat ferner wegen eines Formfehlers die Entscheidung der Kommission für nichtig erklärt, mit der diese den französischen Behörden genehmigt hatte, Air France eine Beihilfe in Form einer Kapitalerhöhung zu gewähren, weil es diese Entscheidung als nicht ausreichend begründet, insbesondere hinsichtlich der Folgen der Beihilfe für die konkurrierenden Unternehmen, angesehen hat (British Airways u. a./Kommission).
Das Gericht hat zahlreiche Urteile zum Wettbewerbsrecht erlassen, namentlich in den "Karton"-Sachen (mit neuntätiger mündlicher Verhandlung), in deren Rahmen das Gericht eindeutig festgelegt hat, unter welchen Voraussetzungen ein Unternehmen für ein Gesamtkartell zur Verantwortung gezogen werden kann. Ferner hat es entschieden, daß eine Herabsetzung der von der Kommission verhängten Geldbuße nur dann gerechtfertigt sind, wenn das Unternehmen der Kommission durch sein Verhalten ermöglicht hat, eine Zuwiderhandlung leichter festzustellen und gegebenenfalls abzustellen.
Die Bedeutung dieser gesamten Rechtsprechung für das soziale und wirtschaftliche Leben der Bürger hat den Gerichtshof dazu veranlaßt, auch 1998 sein besonderes Augenmerk auf die weitestmögliche Verbreitung seiner Rechtsprechung in den elf Amtssprachen, insbesondere über das Internet (www.curia.eu.int), zu richten.
Zur Verwendung durch die Medien bestimmtes nichtamtliches Dokument, das den Gerichtshof nicht bindet. Dieses Dokument ist in allen Amtssprachen verfügbar.
Für weitere Auskünfte wenden Sie sich bitte an Frau Dr. Ulrike Städtler, Tel.: (0 03 52) 43 03 - 32 55; Fax: (0 03 52) 43 03 - 27 34.