Abteilung Presse und Information

PRESSEMITTEILUNG NR. 32/99

18. Mai 1999

Schlußanträge des Generalanwalts La Pergola in der Rechtssache C-273/97

Sirdar / The Army Board und Secretary of State for Defence

DER GENERALANWALT LA PERGOLA SCHLIESST AUS, DAß EINE ANSTELLLUNG IN DER ARMEE AUSSCHLIESSLICH IN DIE NATIONALE ZUSTÄNDIGKEIT FÄLLT


In seinen Schlußanträgen geht es dem Generalanwalt um eine Abwägung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen einerseits und der Erfordernisse der nationalen Verteidigung andererseits im Lichte des Verhältnismäßigkeitsprinzips

Frau Angela Maria Sirdar wurde seit 1983 als Köchin in der britischen Armee beschäftigt. Ab 1990 war sie der Königlichen Artillerie (Royal Artillery) zugewiesen.

1994 erhielt sie eine Kündigung wegen zu hohem Personalbestands, die mit der Notwendigkeit einer Reduzierung der Verteidigungskosten begründet wurde. Daraufhin beantragte Frau Sirdar ihre Versetzung als Köchin zur Königlichen Marine-Infanterie (Royal Marines). Ihr Antrag wurde abgelehnt, weil dieses Regiment keine Frauen in seinen Reihen zuläßt.

Da Frau Sirdar ihrer Ansicht nach aufgrund des Geschlechts diskriminiert worden ist, rief sie das Industrial Tribunal Bury St. Edmunds an. Dieses hat den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften nach dem Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts auf Zugang und Beschäftigung in der Armee oder in einer ihrer Einheiten gefragt und insbesondere nach der Anwendbarkeit der Gemeinschaftsrichtlinie über die Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bezug auf den Zugang zur Beschäftigung und auf die Arbeitsbedingungen.

Das Regiment der Royal Marines ist eine kleine Einheit (ungefähr 5 900 Soldaten, d. h. 2 % der britischen Streitkräfte), deren Kennzeichen die Fähigkeit zu schnellem Handeln Ä als Sturminfanterie Ä in sehr unterschiedlichen militärischen Formen ist.

Ihre Organisation beruht auf dem Grundsatz der "allseitigen Verwendbarkeit", wonach jeder Einzelne, unabhängig von seiner Spezialisierung, in der Lage sein muß, schnell eine Reihe von Aufgaben zu erledigen und als Infanterist zu kämpfen; grundsätzlich ist es nicht möglich, sich den Royal Marines anzuschließen, um ausschließlich eine spezialisierte Tätigkeit zu erfüllen. Aus diesem Grund meint die britische Regierung, daß die Anwesentheit von Frauen die militärische Leistungsfähigkeit (Kampfkraft) dieses Regiments beeinträchtigen würde.

Die Regierungen, die im vorliegenden Vorabentscheidungsverfahren Stellung genommen haben [Vereinigtes Königreich, Frankreich, Portugal], haben argumentiert, daß die Verteidigung in der ausschließlichen Zuständigkeit der Mitgliedstaaten verbleibe (entweder aufgrund einer im EG-Vertrag vorgesehenen Ausnahme oder aufgrund der ausschließlichen Souveränität, die die Staaten in diesem Bereich innehätten).

Der Generalanwalt vertritt, insbesondere aufgrund der Rechtsprechung des Gerichtshofes der EG, die Ansicht, daß diese Argumente nicht begründet seien.

Die im EG-Vertrag vorgesehenen spezifischen Vorschriften bezüglich der äußeren Sicherheit hätten absoluten Ausnahmecharakter und müßten daher besonders eng ausgelegt werden. Sie beträfen den Kriegsfall oder ernste, eine Kriegsgefahr darstellende internationale Spannungen und könnten deshalb nicht herangezogen werden, um Entscheidungen von Mitgliedstaaten über den Eintritt in die Streitkräfte in normalen Fällen zu rechtfertigen.

Außerdem erlaube es die Souveränität eines Mitgliedstaates nicht, den Bereich der Beschäftigung in den Streitkräften von der Anwendung des Gemeinschaftsrechts auszuschließen.

Der Generalanwalt weist darauf hin, daß die gemeinschaftliche Gleichbehandlungsrichtlinie allgemein anwendbar sei: Das Verbot der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts finde danach in jedem Tätigkeitssektor und jeder Tätigkeitsbranche Anwendung, und die einzigen zulässigen Ausnahmen seien jene, welche die Richtlinie selbst vorsehe. Der Gerichtshof der EG habe bereits die Anwendbarkeit der Richtlinie im Bereich der inneren Sicherheit bejaht.

Der Generalanwalt ist der Auffassung, daß der Bereich der Verteidigung gerade Charakteristika aufweise, die denen des Bereichs der inneren Sicherheit vergleichbar seien, so daß die Richtlinie anwendbar sei.

Das Vereinigte Königreich habe in der Vergangenheit ausdrücklich anerkannt, daß die Beschäftigung in den Streitkräften nicht dem Anwendungsbereich der Richtlinie entzogen sei: 1994 habe der Staat sein nationales Gesetz über die Diskriminierung aufgrund des Geschlechts geändert, um eine Vorschrift zu beseitigen, die die Streitkräfte von seinem Anwendungsbereich vollständig ausgenommen habe. Das Vereinigte Königreich habe damit das Gesetz genau in diesem Punkt dem Gemeinschaftsrecht anpassen wollen.

Der Generalanwalt untersucht die Möglichkeit für einen Mitgliedstaat, Frauen vom Zugang zu einer Abteilung der Armee wie der der Royal Marines aufgrund der in der Richtlinie vorgesehenen Ausnahme auszuschließen Ä nämlich dann, wenn das Geschlecht eine unabdingbare Voraussetzung für den Zugang zur Arbeit darstellt. Der Generalanwalt meint, daß die Art der militärischen Tätigkeiten selbst für das Eingreifen dieser Ausnahme nicht ausreiche.

Dagegen könnten die besonderen Bedingungen, unter denen die Tätigkeit der Royal Marines ausgeübt werde, und der für sie geltende Grundsatz der allseitigen Verwendbarkeit die Entscheidung, Frauen nicht zuzulassen, Ä zumindest theoretisch Ä rechtfertigen, da die geschlechtliche Zugehörigkeit für die Zwecke der allseitigen Verwendbarkeit selbst unabdingbar sein könnte. Es handele sich jedoch um eine Bewertung von Fakten, die vom nationalen Gericht getroffen werden müsse.

Der Generalanwalt weist schließlich darauf hin, daß das nationale Gericht bei der von ihm vorzunehmenden Beurteilung den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beachten müsse, wenn es konkret und besonders streng prüfe, ob der völlige Ausschluß von Frauen aus dem Regiment der Royal Marines eine angemessene und notwendige Maßnahme sei, um die militärische Leistungsfähigkeit dieser Einheit zu wahren Ä in Abwägung des Gleichbehandlungsgrundsatzes mit den Verteidigungserfordernissen. Deshalb fordert der Generalanwalt das nationale Gericht auf, konkret zu prüfen, ob die militärische Leistungsfähigkeit auch in den Fällen gewahrt werden könne, in denen Frauen zugelassen seien.

NB: Die Ansicht des Generalanwalts ist unverbindlich. Seine Aufgabe besteht darin, dem Gerichtshof in voller Unabhängigkeit eine juristische Lösung vorzuschlagen.

Die Abteilung Presse und Information weist zudem auf das beim Gerichtshof anhängige Vorabentscheidungsersuchen C-285/98 des Verwaltungsgerichts Hannover in dem Rechtsstreit Kreil / Bundesrepublik Deutschland hin. Frau Kreil hat sich um eine Stelle in der deutschen Bundeswehr mit dem Verwendungswunsch: Instandsetzung (Elektronik) beworben. Ihre Bewerbung wurde abgelehnt, da nach deutschem Recht Frauen keinen Dienst mit der Waffe leisten dürfen. Das deutsche Gericht fragt sich, ob die deutsche Regelung mit der Gemeinschaftsrichtlinie über die Gleichbehandlung vereinbar ist.

Die mündliche Verhandlung wird am 29. Juni 1999 stattfinden.

Zur Verwendung durch die Medien bestimmtes nichtamtliches Dokument, das den Gerichtshof nicht bindet. Dieses Dokument liegt in deutscher, englischer, französischer, italienischer und spanischer Sprache vor.

Wegen des vollständigen Wortlauts der Schlußanträge in italienisch, englisch und französisch konsultieren Sie bitte heute ab ungefähr 15.00 Uhr unsere Homepage im Internet www.curia.eu.int

Für weitere Auskünfte wenden Sie sich bitte an Frau Dr. Ulrike Städtler, Tel.: (0 03 52) 43 03 - 32 55; Fax: (0 03 52) 43 03 - 27 34.