Abteilung Presse und Information

PRESSEMITTEILUNG NR. 40/99

10. Juni 1998

Schlußanträge des Generalanwalts Mischo in der Rechtssache C-81/98

Alcatel Austria AG u. a. / Bundesministerium für Wissenschaft und Verkehr

NACH ANSICHT VON GENERALANWALT JEAN MISCHO VERSTOSSEN RECHTSVORSCHRIFTEN ÜBER DIE VERGABE ÖFFENTLICHER AUFTRÄGE GEGEN GEMEINSCHAFTSRECHT, SOWEIT SIE DEN ÜBERGANGENEN BIETERN DIE MÖGLICHKEIT NEHMEN, DIE ZUSCHLAGSENTSCHEIDUNG ANZUFECHTEN


Der Generalanwalt prüft die Voraussetzungen der Gemeinschaftsrichtlinie zur Koordinierung der nationalen Rechtsvorschriften über die Anwendung der Nachprüfungsverfahren im Rahmen der Vergabe öffentlicher Liefer- und Bauaufträge

Der Kontext

Das österreichische Bundesministerium für Wissenschaft und Verkehr, der Auftraggeber, schrieb im Mai 1996 einen öffentlichen Auftrag für die Installation eines elektronischen Systems zur automatischen Übermittlung bestimmter Daten auf den österreichischen Autobahnen aus. Der Zuschlag für diesen Auftrag wurde am 5. September 1996 erteilt, und der Vertrag wurde am selben Tag mit der Kapsch AG, einer Gesellschaft österreichischen Rechts, geschlossen. Andere Bieter, darunter die Alcatel Austria AG und die Siemens AG, erfuhren hiervon durch die Presse. Das Bundesvergabeamt wies am 18. September 1996 ihre Anträge auf Erlaß einer einstweiligen Verfügung, mit der die Durchführung des bereits geschlossenen Vertrages verboten werden sollte, zurück und stellte in seiner Entscheidung zur Hauptsache vom 4. April 1997 verschiedene Verstöße gegen österreichisches Recht fest, wobei es insbesondere bemängelte, daß der Zuschlag nicht dem Bestbieter erteilt worden sei. In den anschließenden Beschwerdeverfahren wurde das Bundesvergabeamt erneut angerufen.

Nach österreichischem Recht (Bundesvergabegesetz) ist der Zuschlag die an den Bieter abgegebene Erklärung, sein Angebot anzunehmen, und der Vertrag gilt in dem Zeitpunkt als geschlossen, in dem dem ausgewählten Bieter die Zuschlagsentscheidung mitgeteilt worden ist.

Das Bundesvergabeamt prüft, ob die Voraussetzungen für die Zuschlagserteilung eingehalten wurden, und entscheidet beispielsweise über Anträge auf Erlaß einstweiliger Verfügungen sowie auf Nichtigerklärung rechtswidriger Entscheidungen des Auftraggebers. Nach erfolgtem Zuschlag kann das Bundesvergabeamt nur noch feststellen, ob ein Verstoß gegen Rechtsvorschriften vorliegt. Die zu Unrecht übergangenen Bieter können dann nur noch Schadensersatz vor den Zivilgerichten verlangen.

Nach Ansicht des Bundesvergabeamts geht die Zuschlagsentscheidung dem Vertragsschluß formal vor. Sie werde jedoch den übrigen Beteiligten nicht mitgeteilt, bevor sie nicht dem ausgewählten Bieter zugesandt worden sei; diese Zusendung, in der die Entscheidung erstmals Außenwirkung zeige, besiegele zugleich den Vertragsschluß. Die Zuschlagsentscheidung als solche, mit der der Auftraggeber den Bieter, mit dem er kontrahieren wolle, auswähle, sei daher angesichts des angewandten Mechanismus tatsächlich nicht anfechtbar. Die übergangenen Bieter erhielten normalerweise auch keine Kenntnis von ihr. Nach den nationalen Rechtsvorschriften sei also die Möglichkeit einer Anfechtung der Zuschlagsentscheidung ausgeschlossen.

Das Bundesvergabeamt fragt sich, ob das Gemeinschaftsrecht nicht eine wirksamere Kontrolle vorschreibt und ob es im vorliegenden Fall nicht möglich sein muß, die Zuschlagsentscheidung anzufechten. Es hat dem Gerichtshof hierzu Fragen vorgelegt.

Die Rolle des Generalanwalts

Der Generalanwalt, der in völliger Unabhängigkeit und Unparteilichkeit handelt, unterstützt den Gerichtshof, indem er die tatsächlichen Umstände sowie die mit der Rechtssache aufgeworfenen Rechtsfragen prüft und dem Gerichtshof vorschlägt, wie seiner Ansicht nach die Fragen des vorlegenden Gerichts beantwortet werden sollten. Seine Schlußanträge sind für den Gerichtshof nicht bindend.

Schlußanträge des Generalanwalts

Nach Ansicht des Generalanwalts sind die Mitgliedstaaten aufgrund der Richtlinie verpflichtet, für jeden Fall vorzusehen, daß die Zuschlagsentscheidung einem Nachprüfungsverfahren zugänglich gemacht wird, in dem der übergangene Bieter diese Entscheidung für nichtig erklären lassen kann.

Die Gemeinschaftsrichtlinie bezwecke die Einführung möglichst wirksamer Nachprüfungsverfahren insbesondere in einem Stadium, in dem Verstöße noch beseitigt werden könnten. Die Richtlinie gehe davon aus, daß der Vertragsschluß und der Zuschlag zwei Stadien des Vergabeverfahrens seien, die zeitlich nicht zusammenfallen dürften. Die Richtlinie sehe daher eindeutig eine Aufspaltung des Nachprüfungsverfahrens in zwei Phasen vor. Sie schreibe den Mitgliedstaaten insbesondere vor, für einen vollständigen Rechtsschutz vor dem Vertragsschluß zu sorgen.

Es müsse daher ein besonderes Verfahren bestehen, das eine rechtzeitige Prüfung der Frage ermögliche, ob die Zuschlagsentscheidung gültig sei. Die praktische Wirksamkeit der Richtlinie verlange, daß die Zuschlagsentscheidung anfechtbar sei. Folglich müsse zwischen der Mitteilung der Zuschlagsentscheidung an die übergangenen Bieter und dem Vertragsschluß eine angemessene Zeitspanne liegen, so daß diese Bieter die Entscheidung anfechten könnten, wobei diese Zeitspanne allerdings der Kürze der Vergabeverfahren Rechnung tragen müsse. Das mit dem Rechtsstreit befaßte nationale Gericht habe der Richtlinie entgegenstehende nationale Bestimmungen, soweit erforderlich, unangewendet zu lassen.

Zur Verwendung durch die Medien bestimmtes nichtamtliches Dokument, das den Gerichtshof nicht bindet. Dieses Dokument liegt in deutscher und französischer Sprache vor.

Wegen des vollständigen Wortlauts der Schlußanträge in den verfügbaren Sprachen konsultieren Sie bitte heute ab ungefähr 15.00 Uhr unsere Homepage im Internet www.curia.eu.int

Für weitere Auskünfte wenden Sie sich bitte an Frau Dr. Ulrike Städtler, Tel.: (0 03 52) 43 03 - 32 55; Fax: (0 03 52) 43 03 - 27 34.