Der Ausschluß geringfügig Beschäftigter (sog. 630-DM-Verträge) von den tarifvertraglich vereinbarten jährlichen Sonderzuwendungen stellt - falls tatsächlich wesentlich mehr Frauen als Männer davon betroffen sind - eine gegen das Gemeinschaftsrecht verstoßende mittelbare Diskriminierung wegen des Geschlechts dar
Geringfügig Beschäftigte im Sinne von § 8 SGB IV sind nach § 3 Buchst. n BAT vom Geltungsbereich des BAT ausgenommen. Damit stehen ihnen auch die im Zuwendungs-Tarifvertrag (ZTV) vorgesehenen jährlichen Sonderzuwendungen, wie etwa die Weihnachtsgratifikation in Höhe eines Monatsgehaltes, nicht zu.
Frau Krüger nahm nach der Geburt ihres Kindes 1995 drei Jahre Erziehungsurlaub. Sie nahm jedoch bei dem Krankenhaus, bei dem sie bereits seit fast fünf Jahren als Krankenschwester beschäftigt war, kurz nach der Geburt des Kindes eine Erwerbstätigkeit in Form einer sog. geringfügigen Beschäftigung auf (d. h. durchschnittlich weniger als 15 Stunden in der Woche bei einem Arbeitsentgelt, das im Monat 580 DM nicht übersteigt). Da ihr die Zahlung einer Weihnachtsgratifikation mit der Begründung versagt wurde, sie habe hierauf keinen Anspruch, da geringfügige Beschäftigungsverhältnisse vom Anwendungsbereich des BAT und damit auch des ZTV ausgenommen seien, erhob sie Klage zum Arbeitsgericht München.
Dieses legte dem Gerichtshof zur Vorabentscheidung die Frage vor, ob es mit der Richtlinie 76/207/EWG zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen in bezug auf die Arbeitsbedingungen sowie mit Art. 119 EG-Vertrag (jetzt Art. 141 EG-Vertrag) [Gebot der Lohngleichheit für Männer und Frauen bei gleicher Arbeit] vereinbar ist, daß geringfügig Beschäftigte keine jährlichen Sonderzuwendungen nach dem einschlägigen Tarifvertrag erhalten, insbesondere da nach dem Bundeserziehungsgeldgesetz (BErzGG) Arbeitnehmer, die sich im Erziehungsurlaub befinden, aber Ä anders als die Klägerin Ä keine Erwerbstätigkeit ausüben, im ersten Jahr Sonderzuwendungen nach Tarifvertrag erhalten.
Der Gerichtshof stellt einleitend fest, daß die Regelungen des BErzGG für die Entscheidung ohne Belang sind. Unter das Gemeinschaftsrecht fällt nur eine etwaige Diskriminierung der Klägerin wegen des Geschlechts, nicht aber eine Ungleichbehandlung im Hinblick auf andere Frauen, die sich im Erziehungsurlaub befinden und keinerlei Tätigkeit ausüben.
Sodann erläutert der Gerichtshof, daß die Richtlinie 76/207/EWG nicht einschlägig ist, da es sich bei der Weihnachtsgratifikation um Entgelt im Sinne von Art. 119 EG-Vertrag handelt.
Art. 119 EG-Vertrag (jetzt Art. 141 EG-Vertrag) steht nicht nur der unmittelbaren Diskriminierung entgegen, sondern auch der Anwendung von Vorschriften, die zwar unabhängig vom Geschlecht der Arbeitnehmer angewendet werden, im Ergebnis jedoch einen erheblich höheren Prozentsatz der Frauen als Männer treffen, sofern sich diese Ungleichbehandlung nicht durch objektiv gerechtfertigte Faktoren erklären läßt, die nichts mit dem Geschlecht zu tun haben.
Das Prinzip des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher Arbeit stellt einen tragenden Grundsatz des Gemeinschaftsrechts dar, der durch keine nationale Regelung ausgehöhlt werden darf. Es gilt nicht nur für staatliche Regelungen, sondern erstreckt sich auch auf Tarifverträge, die die Erwerbstätigkeit kollektiv regeln.
Der Ausschluß geringfügig Beschäftigter vom Anwendungsbereich des BAT stellt zwar keine direkte Diskriminierung aufgrund des Geschlechts dar. Wenn das Ä hierfür allein zuständige Ä nationale Gericht jedoch feststellen sollte, daß dieser Ausschluß tatsächlich einen erheblich größeren Prozentsatz von Frauen als Männern betrifft, muß es hieraus den Schluß ziehen, daß die einschlägige tarifvertragliche Regelung eine indirekte Diskriminierung im Sinne von Art. 119 EG-Vertrag (jetzt Art. 141 EG-Vertrag) darstellt.
Die Beklagte verweist darauf, daß der Gerichtshof in den Verfahren Nolte und Megner (Urt. v. 14.12.1995, C-317/93 und C-444/93) die sozialversicherungsrechtliche Sonderbehandlung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse für mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar erklärt habe und dies auch für den Ausschluß aus dem Geltungsbereich des BAT gelten müsse.
In diesen Verfahren, in denen es um den Ausschluß geringfügig Beschäftigter von den gesetzlichen Versicherungspflichten ging, hat der Gerichtshof festgestellt, daß die Sozialpolitik in die Regelungshoheit der Mitgliedstaaten fällt und daß es folglich deren Sache sei, die Maßnahmen zu wählen, die zur Verwirklichung ihrer sozial- und beschäftigungspolitischen Ziele geeignet sind; bei der Ausübung dieser Zuständigkeit verfügen die Mitgliedstaaten über einen weiten Entscheidungsspielraum.
Der vorliegende Fall unterscheidet sich nach Auffassung des Gerichtshofs jedoch von den Verfahren Nolte und Megner/Scheffel. Weder handelt es sich um eine Maßnahme, die der Gesetzgeber in Ausübung seines Entscheidungsspielraums getroffen hat, noch geht es um ein Grundprinzip des sozialen Sicherungssystems in Deutschland, sondern um den tarifvertraglichen Ausschluß geringfügig Beschäftigter von der Weihnachtszuwendung, der dazu führt, daß sie im Hinblick auf das Arbeitsentgelt ungleich behandelt werden.
Der Gerichtshof gelangt daher zu dem Ergebnis, daß der tarifvertragliche Ausschluß geringfügig Beschäftigter von jährlichen Sonderzuwendungen dann, wenn dadurch erheblich mehr Frauen als Männer betroffen sind, eine indirekte Diskriminierung wegen des Geschlechts im Sinne von Art. 119 EG-Vertrag (jetzt Art. 141 EG-Vertrag) darstellt.
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