Das Gericht legt den "Kodex von 1993" über die EGKS-Regelung für Maßnahmen der Mitgliedstaaten zugunsten des Steinkohlenbergbaus aus, insbesondere das Erfordernis einer "Verbesserung der Wirtschaftlichkeit" dieses Sektors
Auf der Grundlage des EGKS-Vertrags (Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl) hat die Kommission seit 1965 Regelungen zur Gewährung von Beihilfen für den Steinkohlenbergbau erlassen. Die jüngste dieser Regelungen ist der "Kodex von 1993". Dieser bestimmt, daß Mitgliedstaaten, die (in den Geschäftsjahren 1994 bis 2002) Betriebsbeihilfen an Kohlenbergbauunternehmen gewähren wollen, der Kommission zuvor einen "Modernisierungs-, Rationalisierungs- und Umstrukturierungsplan, mit dem die Wirtschaftlichkeit dieser Unternehmen durch Verringerung der Produktionskosten verbessert werden soll", zu übermitteln haben (Artikel 3). Die Mitgliedstaaten dürfen geplante Beihilfen erst nach Genehmigung durch die Kommission auszahlen. Zahlungen, die vor Erteilung einer Genehmigung durch die Kommission geleistet werden, sind im Fall einer ablehnenden Entscheidung von dem begünstigten Unternehmen vollständig zurückzuzahlen.
1994 genehmigte die Kommission einen Modernisierungs-, Rationalisierungs- und Umstrukturierungsplan für den deutschen Steinkohlenbergbau. Sodann genehmigte sie die Gewährung von Beihilfen Deutschlands zugunsten des Steinkohlensektors für die Jahre 1994, 1995 und 1996. Mit Entscheidung vom 10. Juni 1998 genehmigte die Kommission außerdem Beihilfen Deutschlands zugunsten des Steinkohlenbergbaus für 1997 in Höhe von 10,4 Milliarden DM. Die von dieser Entscheidung erfaßten Beihilfen waren bereits vor ihrer Genehmigung ausgezahlt worden.
Die RJB Mining, eine im Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland niedergelassene private Bergwerksgesellschaft, hat am 20. Juli 1998 Klage beim Gericht erhoben, mit der sie die Rechtmäßigkeit dieser Entscheidung in Frage gestellt und deren Nichtigerklärung beantragt hat. Deutschland, Spanien und die RAG Aktiengesellschaft sind als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge der Kommission zugelassen worden. (Die RJB Mining hat außerdem eine Klage gegen die von der Kommission erteilte Genehmigung der 1994 bis 1998 zugunsten des spanischen Steinkohlenbergbaus gezahlten staatlichen Beihilfen erhoben; dieses Verfahren ist gegenwärtig ausgesetzt).
Um das Verfahren zu beschleunigen, haben die Parteien den Streitgegenstand zunächst auf zwei maßgebliche Rechtsfragen beschränkt.
Befugnis der Kommission zur rückwirkenden Genehmigung einer bereits ausgezahlten Beihilfe
Nach Auffassung der RJB Mining gestattet es der "Kodex von 1993" der Kommission nicht, die von der Entscheidung erfaßten Beihilfen, die von Deutschland bereits vor ihrer Genehmigung an die begünstigten Unternehmen ausgezahlt worden waren, rückwirkend zu genehmigen.
Das Gericht stellt fest, daß keine Bestimmung des Kodex der Kommission die Überprüfung der Vereinbarkeit eines Beihilfevorhabens mit dem Gemeinsamen Markt allein deswegen verbiete, weil der Mitgliedstaat, der das Beihilfevorhaben mitgeteilt habe, die Beihilfe bereits ausgezahlt habe, ohne die vorherige Genehmigung abzuwarten. Diese Feststellung gründe sich auch auf die Rechtsprechung des Gerichtshofes zum EG-Vertrag, wonach die Verletzung der Verpflichtung eines Mitgliedstaats, beabsichtigte Beihilfen nicht ohne vorherige Genehmigung durch die Kommission auszuzahlen, die Kommission nicht davon entbinde, die Vereinbarkeit einer Beihilfe mit dem Gemeinschaftsrecht zu prüfen.
Die Kommission habe daher die bereits ausgezahlten Beihilfen rückwirkend genehmigen können.
Auslegung von Artikel 3 des Kodex von 1993
Die RJB Mining weist darauf hin, daß die von der Bundesrepublik Deutschland ausgezahlten und von der Kommission genehmigten Beihilfen ihren Versuchen, Zugang zum deutschen Markt zu finden, abträglich seien. Außerdem übten sie einen künstlichen Einfluß auf die Weltmarktpreise aus, wodurch die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Produkte sowohl auf dem britischen Markt als auch auf dem Weltmarkt beeinträchtigt werde. Sie habe nach einer Umstrukturierung ohne staatliche Beihilfen eine hohe Wettbewerbsfähigkeit erreicht und verkaufe zu Preisen, die nahe am Weltmarktniveau lägen. Sie sei jedoch dem Wettbewerb der deutschen Unternehmen ausgesetzt, die als Beihilfeempfänger zu niedrigeren Preisen als die Klägerin anbieten könnten.
Die RJB Mining ist der Ansicht, die Kommission habe den EGKS-Vertrag dadurch verletzt und einen offensichtlichen Irrtum begangen, daß sie die Betriebsbeihilfen nach Artikel 3 des Kodex genehmigt habe, ohne zuvor die Wirtschaftlichkeit sämtlicher begünstigter Unternehmen geprüft zu haben. Betriebsbeihilfen (Artikel 3) seinen nämlich von Schließungsbeihilfen (Artikel 4) zu unterscheiden. Nur Beihilfen für Unternehmen, die in Anbetracht der Weltmarktpreise eine vernünftige Aussicht darauf hätten, in absehbarer Zeit wirtschaftlich zu werden, könnten als Betriebsbeihilfen genehmigt werden. Die RJB Mining folgert hieraus, daß Artikel 3 des Kodex es ausschließe, Unternehmen nur deswegen Betriebsbeihilfen zu gewähren, weil sie eine Verringerung ihrer Produktionskosten anstrebten. Soweit keine Aussicht auf Wirtschaftlichkeit bestehe, komme die Genehmigung einer Betriebsbeihilfe nicht in Frage; in diesem Fall komme allein eine Beihilfe nach Artikel 4 des Kodex in Betracht, die die Vorlage eines (bis spätestens 2002 befristeten) Stillegungsplans voraussetze.
Das Gericht stellt zunächst fest, daß keine Bestimmung des "Kodex von 1993" voraussetze, daß das Unternehmen, das eine Betriebsbeihilfe erhalten solle, bei Ablauf eines vorgegebenen Zeitraums langfristig eine Wirtschaftlichkeit erreicht haben müsse, die es ihm ermögliche, ohne Unterstützung auf dem Weltmarkt zu konkurrieren. Der Kodex verlange lediglich, daß die Wirtschaftlichkeit "verbessert" werde, ohne diese Bedingung an bestimmte Fristen zu knüpfen. Dieser Ansatz erkläre sich aus den wirtschaftlichen Merkmalen des Steinkohlenbergbaus in der Gemeinschaft, der seit 1965 andauernde finanzielle Unterstützung in Form staatlicher Beihilfen erhalte. Bei der mangelnden Wettbewerbsfähigkeit handele es sich um eine Problematik, mit der der gesamte Bergbau der Gemeinschaft im Verhältnis zu den Einfuhren aus Drittländern konfrontiert bleibe. 1998 habe die Kommission auf das Fehlen jeglicher Wirtschaftlichkeitsperspektiven für die mittel- und langfristige Zukunft des größten Teils der Industrie hingewiesen. Die Verbesserung der Wirtschaftlichkeit eines Unternehmens dieses Sektors komme somit eher in einer graduellen Verringerung seiner Unwirtschaftlichkeit und mangelnden Wettbewerbsfähigkeit zum Ausdruck. Sie müsse durch eine wesentliche Verringerung der Produktionskosten erreicht werden, die einen Abbau der Betriebsbeihilfen ermögliche. Diese Bedingung sei für die Gewährung neuer Betriebsbeihilfen unerläßlich.
Die Kommission habe daher annehmen dürfen, daß die betroffenen Unternehmen des deutschen Steinkohlenbergbaus das Kriterium einer Verbesserung ihrer Wirtschaftlichkeit erfüllt hätten.
Infolgedessen ist die Klage abgewiesen worden, soweit sie auf diese beiden Gründe gestützt war.
HINWEIS: Gegen diese Entscheidung des Gerichts kann ein auf Rechtsfragen beschränktes Rechtsmittel beim Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften eingelegt werden; die Rechtsmittelfrist beträgt zwei Monate und beginnt mit der Zustellung.
Zur Verwendung durch die Medien bestimmtes nichtamtliches Dokument, das das Gericht erster Instanz nicht bindet. Dieses Dokument liegt in deutscher, englischer, spanischer und französischer Sprache vor.
Wegen des vollständigen Wortlauts des Urteils nehmen Sie bitte heute ab 15.00 Uhr Einsicht in unsere Homepage im Internet www.curia.eu.int.
Für weitere Auskünfte wenden Sie sich bitte an Frau Dr. Ulrike Städtler, Tel.: (00352) 4303-3255; Fax: (00352) 4303-2734.
Aufnahmen von der Sitzung sind verfügbar über "Europe by Satellite" - Europäische Kommission, GD X, Audiovisueller Dienst, L-2920 Luxemburg, Tel.: (00352) 4301-32392 Fax: (00352) 4301-35249; oder B-1049 Brüssel, Tel.: (0032) 2 2950786; Fax: (0032) 2 2301280.