Abteilung Presse und Information

PRESSEMITTEILUNG NR. 64/99

14. September 1999

Schlußanträge des Generalanwalts in der Rechtssache C-78/98

Shirley Preston u. a. / Wolverhampton Healthcare NHS Trust u. a.
und
Dorothy Fletcher u. a. / Midland Bank plc

GENERALANWALT PHILIPPE LEGER SCHLÄGT DEM GERICHTSHOF VOR, FESTZUSTELLEN, DASS ES GEGEN DAS GEMEINSCHAFTSRECHT VERSTÖSST, WENN DER ANSPRUCH VON TEILZEITBESCHÄFTIGTEN DARAUF, RÜCKWIRKEND AN EIN BETRIEBSRENTENSYSTEM ANGESCHLOSSEN ZU WERDEN, AUF ZWEI JAHRE BESCHRÄNKT WIRD.


Der Generalanwalt prüft, ob die Verfahrensvorschriften, die im Vereinigten Königreich die gerichtliche Geltendmachung des Anspruchs auf rückwirkenden Anschluß an ein Betriebsrentensystem regeln, mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar sind.

Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften bestätigte mit Urteilen aus dem Jahr 1994, daß der Anspruch auf Anschluß an ein Betriebsrentensystem, insbesondere im Bereich der Teilzeitarbeit, in den Anwendungsbereich der Bestimmungen des EG-Vertrags fällt, die männlichen und weiblichen Arbeitnehmern gleiches Entgelt garantieren (Artikel 119 EG-Vertrag). Der Gerichtshof befand, daß sich Arbeitnehmer auf diese Bestimmungen berufen könnten, um eine rückwirkende Gleichbehandlung in bezug auf den Anspruch auf Anschluß an ein Betriebsrentensystem ab dem 8. April 1976 zu verlangen, dem Tag des Erlasses des ersten Urteils, mit dem der Gerichtshof die unmittelbare Wirkung dieser Bestimmungen anerkannt hatte.

Im Vereinigten Königreich schlossen in der Vergangenheit mehrere Betriebsrentensysteme den Anschluß von Teilzeitbeschäftigten aus. Diese Rentensysteme wurden zwischen 1986 und 1995 geändert, um Teilzeitbeschäftigten unter den gleichen Bedingungen wie Vollzeitbeschäftigten einen Anschluß zu ermöglichen.

Trotzdem riefen Bürger die britischen Gerichte an, vor denen sie geltend machten, ihr Ausschluß von den betreffenden Rentensystemen verstoße gegen den EG-Vertrag. Sie begehrten die Anerkennung ihres Anspruchs auf rückwirkenden Anschluß an diese Rentensysteme für die von ihnen vor deren Änderung zurückgelegten Zeiten der Teilzeitbeschäftigung.

So wurden vor den Gerichten des Vereinigten Königreichs 60 000 Verfahren anhängig gemacht. Von diesen wählten die britischen Behörden 22 als Musterprozesse aus, um vorab Rechtsfragen klären zu lassen.

Diese Rechtsfragen werfen im wesentlichen das Problem der Vereinbarkeit der Rechtsvorschriften des britischen Rechts (des Equal Pay Act von 1970) mit dem Gemeinschaftsrecht auf. Nach einer ersten Vorschrift müssen die Arbeitnehmer ihre Klage nämlich innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach Beendigung ihrer Beschäftigung einreichen. Eine weitere Vorschrift begrenzt den Zeitraum, für den die Arbeitnehmer einen Anspruch auf rückwirkenden Anschluß an das Rentensystem, von dem sie ausgeschlossen waren, haben können, auf die der Klageerhebung vorausgehenden zwei Jahre.

Die erst- und die zweitinstanzlichen britischen Gerichte haben diese beiden Verfahrensvorschriften für gemeinschaftsrechtskonform gehalten. Das House of Lords hat sich indessen zu einer Vorlage an den Gerichtshof entschlossen.

Der Generalanwalt schlägt dem Gerichtshof vor, die Frist von sechs Monaten, die mit dem Ende der Beschäftigung des Arbeitnehmers zu laufen beginnt, als mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar anzusehen. Seiner Ansicht nach rechtfertigt der Grundsatz der Rechtssicherheit, der sowohl die Bürger als auch die betreffenden Verwaltungen schütze, die Anwendung einer Frist, nach deren Ablauf die Arbeitnehmer keine Klage mehr erheben könnten. Außerdem könne eine Frist von sechs Monaten nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes als „angemessen“ angesehen werden.

Der Generalanwalt prüft außerdem die besondere Situation bestimmter Arbeitnehmer. Dabei geht es um Lehrer und Lehrbeauftragte, die zwar an ein- und derselben Schule regelmäßig arbeiten, jedoch aufgrund rechtlich getrennter aufeinanderfolgender Verträge. Die Sechsmonatsfrist gelte für diese Arbeitnehmer und beginne mit dem Tag des Endes jedes einzelnen Arbeitsvertrags.

Dagegen schlägt der Generalanwalt dem Gerichtshof vor, die Verfahrensvorschrift, die im Fall eines Klageerfolgs den Zeitraum, für den der Arbeitnehmer einen Anspruch auf rückwirkenden Anschluß an das Betriebsrentensystem, von dem er ausgeschlossen war, haben kann, auf zwei Jahre (vor dem Tag der Klageerhebung) begrenzt, für mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar zu erklären. Er stützt sich dabei auf Urteile des Gerichtshofes aus dem Jahr 1997 und gelangt zu dem Schluß, daß diese Verfahrensvorschrift gegen den „Grundsatz der Effektivität“ verstoße, da sie die Ausübung der den britischen Arbeitnehmern durch die Gemeinschaftsrechtsordnung verliehenen Rechte praktisch unmöglich mache oder übermäßig erschwere.

Der Generalanwalt hält eine zeitliche Beschränkung der Wirkungen eines Urteils, mit dem sich der Gerichtshof seinen Schlußanträgen möglicherweise anschließt, nicht für erforderlich. Zwar hätte dieses Urteil finanzielle Auswirkungen für die betroffenen Betriebsrentensysteme, diese Auswirkungen seien jedoch nur schwer zu ermessen. Jedenfalls könnten die Arbeitnehmer ihren rückwirkenden Anschluß an die betreffenden Systeme und die sich daraus ergebende Zahlung von Leistungen nur erreichen, wenn sie zuvor für alle Zeiten der Teilzeitbeschäftigung, deren Anerkennung sie begehrten, Beiträge leisteten.

N.B.: Die Schlußanträge des Generalanwalts stellen ein umfassendes Rechtsgutachten dar, das in völliger Unabhängigkeit und Unparteilichkeit erteilt wird. Sie sind für den Gerichtshof nicht bindend. Dieser erläßt sein Urteil später.

Zur Verwendung durch die Medien bestimmtes nichtamtliches Dokument, das den Gerichtshof nicht bindet. Dieses Dokument liegt in deutscher, englischer und französischer Sprache vor.

Wegen des vollständigen Wortlauts der Schlußanträge in den verfügbaren Sprachen konsultieren Sie bitte heute ab ungefähr 15.00 Uhr unsere Homepage im Internet www.curia.eu.int

Für weitere Auskünfte wenden Sie sich bitte an Frau Dr. Ulrike Städtler, Tel.: (0 03 52) 43 03 - 32 55; Fax: (0 03 52) 43 03 - 27 34.