Abteilung Presse und Information

PRESSEMITTEILUNG NR. 82/99

21. Oktober 1999

Urteil des Gerichtshofes in der Rechtssache C-333/97

Susanne Lewen / Lothar Denda

ES KANN EINE VOM GEMEINSCHAFTSRECHT VERBOTENE DISKRIMINIERUNG DARSTELLEN, EINER FRAU IM ERZIEHUNGSURLAUB EINE WEIHNACHTSGRATIFIKATION ZU VERWEIGERN


Eine solche Weigerung ist diskriminierend im Sinne des anwendbaren Gemeinschaftsrechts, wenn die Gratifikation eine Vergütung für im Laufe des Jahres geleistete Arbeit darstellt

Die Klägerin ist seit dem 1. September 1990 in Vollzeit bei dem Unternehmen Denda Zahntechnik beschäftigt. Sie war seit Anfang des Jahres 1996 schwanger und arbeitete mit Unterbrechungen durch Urlaub bis zum Beginn des Mutterschutzurlaubs (nach deutschem Recht sechs Wochen vor und acht Wochen nach der Geburt ihrer Tochter am 12. Juli 1996). Im Anschluß daran erhielt sie den im deutschem Recht vorgesehenen Erziehungsurlaub, der am 12. Juli 1999 enden sollte.

In den Jahren vor 1996 hatte die Klägerin jeweils am 1. Dezember wie die anderen Beschäftigten des Unternehmens eine Weihnachtsgratifikation in Höhe eines Monatsgehalts erhalten. Der Beklagte lehnte es ab, ihr die Weihnachtsgratifikation für das Jahr 1996 zu gewähren. Mit ihrer Klage, die sie am 10. Januar 1997 beim Arbeitsgericht Gelsenkirchen erhob, beantragte die Klägerin, den Beklagten zu verurteilen, ihr für das Jahr 1996 eine Weihnachtsgratifikation zu zahlen.

Das deutsche Gericht hat dem Gerichtshof Fragen nach der Auslegung von Artikel 119 EG-Vertrag (gleiches Entgelt für Männer und Frauen) und insbesondere danach vorgelegt, ob es mit dieser Bestimmung vereinbar ist, bei der Gewährung einer Gratifikation zwischen aktiven Arbeitnehmern und denjenigen, die sich im Erziehungsurlaub befinden, zu unterscheiden.

Der Gerichtshof stellt zunächst fest, daß eine Weihnachtsgratifikation der streitigen Art auch dann «Entgelt» im Sinne des Gemeinschaftsrechts sei, wenn sie vom Arbeitgeber freiwillig gewährt werde und wenn sie überwiegend oder ausschließlich zum Anreiz für zukünftige Dienstleistung und/oder Betriebstreue dienen solle. Es sei unerheblich, aus welchem Grund der Arbeitgeber die Leistung gewähre, sofern er diese im Zusammenhang mit dem Beschäftigungsverhältnis erbringe.

Der Gerichtshof weist darauf hin, daß das Verbot der diskriminierenden Ungleichbehandlung von männlichen und weiblichen Arbeitnehmern nicht nur für staatliche Stellen verbindlich sei, sondern sich auch auf alle Tarifverträge, die abhängige Erwerbstätigkeit kollektiv regeln, und auf alle Verträge zwischen Privatpersonen erstrecke. Dieses Verbot sei auch für das einseitige Handeln eines Arbeitgebers gegenüber seinem Personal verbindlich.

Die Feststellung, daß eine Vergünstigung (wie die im Ausgangsverfahren streitige Weihnachtsgratifikation) unter den Entgeltsbegriff von Artikel 119 des Vertrages falle, bedeute nicht notwendig, daß sie als Vergütung für in der Vergangenheit, im Jahr der Gewährung der Gratifikation geleistete Dienste anzusehen wäre, wie das vorlegende Gericht anzunehmen scheine. Es sei auch möglich, daß der Arbeitgeber mit der Gewährung der Weihnachtsgratifikation für das Jahr 1996 das Ziel verfolgt habe, den am 1. Dezember 1996 «aktiv» im Arbeitsverhältnis stehenden Mitarbeitern einen Anreiz zu geben, gute Arbeitsleistungen zu erbringen, und sie auf diese Weise für ihre künftige Betriebstreue zu belohnen. Dies sei jedoch eine Tatsachenfrage, die das nationale Gericht anhand seines nationalen Rechts zu beurteilen habe.

Die Möglichkeit, die Gratifikation nach nationalem Recht in zweierlei Weise einzuordnen, hat den Gerichtshof veranlaßt, zwei Fallgestaltungen zu prüfen.

Zahlung einer Gratifikation als Sonderzuwendung, die der Arbeitgeber freiwillig zu Weihnachten gewährt und die keine Vergütung für in der Vergangenheit geleistete Arbeit darstellt.

In diesem Fall hängt die Zahlung der Gratifikation nur von der Voraussetzung ab, daß der Arbeitnehmer zum Zeitpunkt der Gewährung im aktiven Beschäftigungsverhältnis stand. Für den Gerichtshof stellt eine derartige Praxis des Arbeitgebers keine unmittelbare Diskriminierung dar: Sie gilt unterschiedlos für männliche und weibliche Arbeitnehmer. Im Rahmen der Prüfung, ob eine mittelbare Diskriminierung vorliegt, weist der Gerichtshof auf die Feststellung des vorlegenden Gerichts hin, daß Frauen weitaus häufiger als Männer Erziehungsurlaub in Anspruch nähmen. Er stellt jedoch fest, daß sich ein Arbeitnehmer, der den ihm gesetzlich zustehenden Anspruch auf Erziehungsurlaub wahrnimmt, in einer besonderen Situation befinde, die nicht mit derjenigen eines Mannes oder einer Frau, die arbeiten, gleichgesetzt werden könne, denn ein wesentliches Merkmal dieses Urlaubs bestehe darin, daß der Arbeitsvertrag ruhe.

Die Weigerung, einer Frau im Erziehungsurlaub eine freiwillig als Sonderzuwendung zu Weihnachten gezahlte Gratifikation zu gewähren, stelle daher keine Diskriminierung im Sinne von Artikel 119 EG-Vertrag dar, wenn die Gewährung dieser Zuwendung nur von der Voraussetzung abhänge, daß der Arbeitnehmer zum Zeitpunkt der Gewährung im aktiven Beschäftigungsverhältnis stehe.

Qualifizierung der Gratifikation als Vergütung für im Jahr der Gewährung der Gratifikation geleistete Arbeit durch das nationale Gericht.

In einem solchen Fall würde ein Arbeitgeber, der Arbeitnehmern im Erziehungsurlaub, die im Jahr der Gewährung der Gratifikation gearbeitet haben, diese nur deshalb nicht gewähre, weil ihr Arbeitsverhältnis zum Zeitpunkt der Gewährung ruhe, diese Arbeitnehmer gegenüber denjenigen benachteiligen, deren Arbeitsverhältnis bei der Gewährung der Gratifikation nicht ruhe und die diese tatsächlich als Vergütung für in diesem Jahr geleistete Arbeit erhielten.

Eine solche Weigerung stelle daher eine Diskriminierung im Sinne von Artikel 119 des Vertrages dar, da sich weibliche Arbeitnehmer bei der Gewährung der Gratifikation häufiger im Erziehungsurlaub befänden als männliche Arbeitnehmer.

Mutterschutzzeiten (Beschäftigungsverbote) seien Beschäftigungszeiten gleichzustellen; Artikel 119 EG-Vertrag untersage es, daß ein Arbeitgeber bei der Gewährung einer Weihnachtsgratifikation Mutterschutzzeiten anteilig leistungsmindernd berücksichtige. Dagegen könnten Zeiten des Erziehungsurlaubs berücksichtigt werden, da die Situation der Arbeitnehmer, die sich im Erziehungsurlaub befinden, nicht derjenigen eines Mannes oder einer Frau, die arbeiten, gleichgestellt werden könne.

Zur Verwendung durch die Medien bestimmtes nichtamtliches Dokument, das den Gerichtshof nicht bindet. Verfügbare Sprachen: deutsch und französisch.

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