Abteilung Presse und Information

PRESSEMITTEILUNG NR. 85/99

28. Oktober 1999

Urteil des Gerichtshofes in der Rechtssache C-328/96

Kommission / Österreich

ÖSTERREICH HAT IM RAHMEN DES VERGABEVERFAHRENS FÜR DEN NEUBAU DES NIEDERÖSTERREICHISCHEN LANDHAUS- UND KULTURBEZIRKS IN ST. PÖLTEN GEGEN DAS GEMEINSCHAFTSRECHT VERSTOSSEN


Der Gerichtshof prüft Aufträge im Gesamtwert von 360 Millionen ATS, die zwischen dem 27. November 1995 und dem 6. Februar 1996 vergeben wurden

Die niederösterreichische Landesregierung beschloß 1986, ihren Sitz von Wien nach St. Pölten zu verlegen. Die Arbeiten an diesem Projekt (kompletter Neubau der Regierungs- und Verwaltungsgebäude sowie der Bau von kulturellen Einrichtungen in St. Pölten) wurden 1992 aufgenommen. Die Fertigstellung war für 1996 geplant.

Die Anfang Februar 1995 durch eine Beschwerde auf die Ausschreibung einer Beschaffungsmaßnahme im Rahmen dieses Projekts aufmerksam gemachte Kommission hielt die dieser Ausschreibung zugrundeliegenden «Allgemeinen Angebots- und Vertragsbedingungen» (AAVB) wegen Verletzung u. a. der Bekanntmachungsvorschriften, der Vorschriften über Leistungsbeschreibungen sowie der Informations- und Schutzpflichten gegenüber den Bietern für gemeinschaftsrechtswidrig.

Mit Schreiben vom 12. April 1995 teilte die Kommission der österreichischen Regierung ihre Feststellungen mit. Einige Monate später erhielt die Kommission die Notifizierung eines am 31. Mai 1995 veröffentlichten Vergabegesetzes des Landes Niederösterreich. Dieses Gesetz gab Anlaß zur Beanstandung seitens der Kommission, da es die Aufträge zu dem fraglichen Projekt von seiner Anwendung ausnahm. Da noch öffentliche Aufträge beträchtlichen Ausmaßes zu vergeben waren, verlangte die Kommission im November 1995, die Einhaltung des Gemeinschaftsrechts mit sofortiger Wirkung sicherzustellen. Die österreichischen Stellen versprachen, die verlangten Änderungen vorzunehmen. Sie erklärten jedoch, daß es aufgrund technischer Probleme mit der Neufassung einer ausreichend bemessenen Übergangsfrist bedürfe. Diese Aussage erschien der Kommission jedenfalls im Hinblick auf die Änderung der AAVB und die Vergabepraxis, die durch einfachen Beschluß des öffentlichen Auftraggebers (der Niederösterreichischen Landeshauptstadt-Planungsgesellschaft m.b.H., NÖPLAN) geändert werden könnten, unzureichend.

Die Republik Österreich reagierte auf die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens durch die Kommission: Die AAVB wurden geändert; die NÖPLAN beschloß, «ab sofort bei allen Ausschreibungen die EU-Richtlinien anzuwenden»; ein Entwurf für eine Novelle zum niederösterreichischen Vergabegesetz wurde ausgearbeitet. Die österreichische Regierung erklärte jedoch, die zwischen dem 27. November 1995 (Datum einer Zusammenkunft zwischen österreichischen Stellen und Dienststellen der Kommission) und dem 6. Februar 1996 vergebenen Aufträge (im Gesamtwert von 360 Millionen ATS) hätten aus verschiedenen Gründen nicht ausgesetzt oder rückabgewickelt werden können.

Der von der Kommission wegen der Bedingungen, unter denen diese Aufträge vergeben worden waren, angerufene Gerichtshof stellt fest, daß die Republik Österreich im Rahmen des Neubaus des niederösterreichischen Landhaus- und Kulturbezirks in St. Pölten gegen ihre Verpflichtungen aus den betreffenden Gemeinschaftsrichtlinien sowie aus dem gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz des freien Warenverkehrs verstoßen hat. Von der Klage der Kommission erfaßt sind, wie der Gerichtshof klarstellt, die Aufträge, die zu dem Zeitpunkt, den die Kommission der Republik Österreich in ihrer mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzt hatte, um dieser nachzukommen, noch nicht erfüllt oder in zumutbarer Weise rückabwickelbar waren.

Der Gerichtshof weist die von der Republik Österreich erhobenen Einwendungen gegen die Anwendbarkeit der genannten Richtlinien zurück. Die NÖPLAN ist nach den Feststellungen des Gerichtshofes ein öffentlicher Auftraggeber im Sinne der Richtlinie 93/37, und das Land Niederösterreich kontrolliert und finanziert, wie die österreichische Regierung selbst einräumt, alle Aktivitäten im Rahmen der Errichtung des Verwaltungszentrums. Die NÖPLAN war daher verpflichtet, die gemeinschaftsrechtlichen Vergabevorschriften unabhängig davon einzuhalten, daß die betroffenen Wirtschaftsteilnehmer sich ihr gegenüber gegebenenfalls auf diejenigen Vorschriften berufen konnten, die unmittelbare Wirkung haben. Die Gemeinschaftsvorschriften über die Vergabe öffentlicher Aufträge würden im übrigen ihrer praktischen Wirksamkeit beraubt, wenn das Verhalten eines öffentlichen Auftraggebers wie der NÖPLAN dem betreffenden Mitgliedstaat nicht zuzurechnen wäre: Die Republik Österreich kann daher für das Verhalten der NÖPLAN verantwortlich gemacht werden.

Die österreichische Regierung hat die ihr vorgeworfenen Vertragsverletzungen inhaltlich nicht bestritten. Die Kommission weist darauf hin, daß die Republik Österreich seit ihrem Beitritt zur Europäischen Union am 1. Januar 1995 das Gemeinschaftsrecht, zu dem die Vergaberichtlinien gehörten, zu beachten habe. Die NÖPLAN habe aber weder die Bekanntmachungsvorschriften noch die Mindestfrist für den Eingang der Angebote eingehalten. Sie habe auch nicht Mitteilungspflicht gegenüber nicht berücksichtigten Bietern beachtet. Weder die Eignungskriterien, z. B. die Ausschlußgründe, bei der Frage der Teilnahmefähigkeit eines Unternehmens an der Ausschreibung noch die Zuschlagskriterien seien beachtet worden. Die NÖPLAN habe schließlich zumindest in dem Vergabeverfahren betreffend die zentrale Gebäudetechnik für das Verwaltungszentrum St. Pölten gegen das Gemeinschaftsrecht verstoßen: In den Ausschreibungsunterlagen habe sie eine bestimmte Leistungsbeschreibung für das Betriebssystem der Schwerpunktzentrale aufgestellt, die die Bevorzugung von «Unix-Produkten» bewirkt habe.

Die Kommission wirft der Republik Österreich zudem vor, ihren Verpflichtungen aus dem gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz des freien Warenverkehrs nicht nachgekommen zu sein. Die Aufstellung der technischen Leistungsbeschreibung, durch die «Unix-Produkte» bevorzugt werden, beeinträchtigt nach Auffassung des Gerichtshofes den freien Warenverkehr. Dasselbe gilt für die Bevorzugung niederösterreichischer Materialien bzw. Unternehmer bei Gleichwertigkeit mit anderen Angeboten. Schließlich schlossen die AAVB sämtliche Ansprüche der Auftragnehmer, die ihnen im Rahmen eines Auswahlverfahrens erwachsen könnten, von vornherein bedingungslos aus; dies steht im Widerspruch zu den Grundsätzen über den Bieterschutz.

Zur Verwendung durch die Medien bestimmtes nichtamtliches Dokument, das den Gerichtshof nicht bindet. Dieses Dokument liegt in deutscher und französischer Sprache vor.

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Für weitere Auskünfte wenden Sie sich bitte an Frau Dr. Ulrike Städtler, Tel.: (0 03 52) 43 03 - 32 55; Fax: (0 03 52) 43 03 - 27 34.