Der Gerichtshof stellt fest, daß ein nationales Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge ein Nachprüfungsverfahren vorsehen muß, in dessen Rahmen die Zuschlagsentscheidung angefochten werden kann
Das Bundesministerium für Wissenschaft und Verkehr schrieb am 23. Mai 1996 zwecks Installation eines elektronischen Systems zur automatischen Übermittlung bestimmter Daten auf den österreichischen Autobahnen einen öffentlichen Auftrag gemäß der Richtlinie 93/36/EWG "über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Lieferaufträge" aus. Der Zuschlag wurde am 5. September 1996 der Kapsch AG erteilt, mit der am selben Tag der Vertrag geschlossen wurde.
Die übrigen Bieter, die über die Presse informiert worden waren, reichten zwischen dem 10. und 22. September 1996 Nachprüfungsanträge beim österreichischen Bundesvergabeamt ein. Am 18. September 1996 wies dieses die Anträge auf Erlaß einer einstweiligen Verfügung zur Aussetzung der Durchführung des Vertrages zurück: Das Bundesvergabegesetz (BVergG) sieht nämlich vor, daß es nach erfolgtem Zuschlag nicht mehr für den Erlaß einstweiliger Verfügungen zuständig ist. Das Bundesvergabeamt stellte später - am 4. April 1997 - verschiedene Verstöße gegen das Bundesvergabegesetz fest (u. a., daß der Auftrag nicht dem Bestbieter erteilt worden sei).
Nach österreichischem Recht fallen die Zuschlagserteilung und der Vertragsschluß zusammen. Die Zuschlagsentscheidung selbst, d. h. die Entscheidung des Auftraggebers, mit wem er kontrahieren will, ist nicht anfechtbar. Der Zeitpunkt der Zuschlagserteilung ist jedoch von ausschlaggebender Bedeutung für die Ausgestaltung des Nachprüfungsverfahrens vor dem Bundesvergabeamt. Nach dem Bundesvergabegesetz ist das Bundesvergabeamt nämlich bis zum Zeitpunkt des erfolgten Zuschlags zuständig, einstweilige Verfügungen zu erlassen und rechtswidrige Entscheidungen des Auftraggebers für nichtig zu erklären. Nach erfolgtem Zuschlag ist das Bundesvergabeamt nur noch zuständig, festzustellen, daß der Zuschlag unter Verstoß gegen das Bundesvergabegesetzes erteilt worden ist; im übrigen muß der Auftraggeber bei Vorliegen eines schuldhaften Verhaltens gegebenenfalls den übergangenen Bewerber oder Bieter entschädigen.
Das Bundesvergabeamt, das das Verfahren wieder aufzunehmen hatte, nachdem gegen seine Entscheidung mit Erfolg Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof eingelegt worden war, befragte den Gerichtshof 1998 zur Vereinbarkeit der österreichischen Regelung mit der Gemeinschaftsrichtlinie über die Verfahren zur Vergabe öffentlicher Aufträge.
Nach Ansicht der österreichischen Behörden besteht kein Ausgangsverfahren mehr, da der Vertrag bereits vollständig abgewickelt sei. Somit bestehe an der Beantwortung der Vorlagefragen kein Interesse mehr, da die Bieter in diesem Stadium nur noch Schadensersatz erwirken könnten. Der Gerichtshof stellt fest, daß die Vorlagefragen im Hinblick auf den Umfang des möglicherweise den übergangenen Bietern geschuldeten Schadensersatzes von Bedeutung blieben.
Nachdem sich im Verfahren u. a. die österreichische, die deutsche und die britische Regierung geäußert haben, antwortet der Gerichtshof dem österreichischen Gericht, daß die Mitgliedstaaten verpflichtet seien, die dem Vertragsschluß vorangehende Entscheidung des Auftraggebers darüber, mit welchem Bieter eines Vergabeverfahrens er letztlich den Vertrag schließe, in jedem Fall einem Nachprüfungsverfahren zugänglich zu machen, in dem der Antragsteller (unabhängig von der außerdem bestehenden Möglichkeit, nach dem Vertragsschluß Schadensersatz zu erlangen) gegebenenfalls die Aufhebung der Entscheidung erwirken könne.
Der Gerichtshof führt aus, die Richtlinie sei darauf gerichtet, die auf einzelstaatlicher Ebene wie auf Gemeinschaftsebene vorhandenen Mechanismen zur Durchsetzung der Gemeinschaftsrichtlinien im Bereich des öffentlichen Auftragswesens zu verstärken, vor allem dann, wenn Verstöße noch beseitigt werden könnten. Insoweit seien nämlich die Mitgliedstaaten nach der Richtlinie verpflichtet, wirksame und möglichst rasche Nachprüfungsverfahren einzuführen, um sicherzustellen, daß die Gemeinschaftsrichtlinien im Bereich des öffentlichen Auftragswesens beachtet würden.
Das durch eine unvollständige Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht bedingte Fehlen einer Entscheidung über den Zuschlag des öffentlichen Auftrags und damit der Möglichkeit ihrer Aufhebung im Rahmen einer Nachprüfung erlaubt es jedoch nach Ansicht des Gerichtshofes dem nationalen Gericht nicht, im Rahmen der Nachprüfung die Gemeinschaftsrichtlinie unmittelbar heranzuziehen.
Da die Erteilung des Zuschlags und der Abschluß des Vertrages in der Praxis zusammenfielen, fehle in einem solchen System ein öffentlich-rechtlicher Akt, der den Beteiligten zur Kenntnis gelangen und im Rahmen einer Nachprüfung aufgehoben werden könnte, wie es die Richtlinie vorsehe. Die Betroffenen könnten jedoch, wenn die nationalen Bestimmungen nicht in einer mit der Richtlinie zu vereinbarenden Art und Weise ausgelegt werden könnten, nach dem geeigneten Verfahren des nationalen Rechts Ersatz der Schäden verlangen, die ihnen dadurch entstanden seien, daß die Richtlinie nicht umgesetzt worden sei.
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