Die Entscheidung der Kommission vom 26. Juni 1996, mit der ein Teil der Beihilfen, die Deutschland dem Volkswagen-Konzern für die Werke Mosel und Chemnitz (ehemalige Trabant-Werke) gewährt hat, nicht genehmigt worden ist, entspricht dem Gemeinschaftsrecht
Mit der Herstellung der Einheit Deutschlands im Jahr 1990 brach der Absatz und die Fertigung von Trabant-Fahrzeugen in Sachsen zusammen. Zur Erhaltung der Kraftfahrzeugindustrie in dieser Region nahm der Volkswagen-Konzern Verhandlungen mit der Treuhandanstalt, einer öffentlich-rechtlichen Anstalt zur Umstrukturierung der Unternehmen der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, auf, die im Oktober 1990 zu einer Grundsatzvereinbarung führten.
Diese Vereinbarung sah u. a. vor: Übernahme und Umstrukturierung der ehemaligen Werke von Mosel (Mosel I) und Chemnitz (Chemnitz I) für den vorübergehenden Betrieb und später Bau eines neuen Fahrzeugwerks auf dem Gelände von Mosel (Mosel II) und Chemnitz (Chemnitz II).
Mit einer ersten Entscheidung vom 27. Juli 1994 (Entscheidung 94/1068/EG) genehmigte die Kommission die Auszahlung von Umstrukturierungsbeihilfen in Höhe von 487,3 Millionen DM für Mosel I und 84,8 Millionen DM für Chemnitz I. Mit einer zweiten Entscheidung vom 26. Juni 1996 (Entscheidung 96/666/EG) genehmigte die Kommission die Auszahlung von Beihilfen in Höhe von 539,1 Millionen DM als Ausgleich für die regionalen Nachteile, denen sich Volkswagen in Mosel II und Chemnitz II gegenübersah. Dagegen lehnte sie die Gewährung der vorgesehenen Beihilfen in Höhe von 240,7 Millionen DM ab, da sie diesen Betrag als mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar ansah.
Am 8. Juli 1996 zahlte der Freistaat Sachsen jedoch an Volkswagen 90,7 Millionen DM Investitionszuschüsse, die für mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar erklärt worden waren (ein Teil dieser Beihilfen wurde später zurückgezahlt).
Am 26. August und 13. September 1996 erhoben der Freistaat Sachsen und der Volkswagen-Konzern zwei Klagen beim Gericht erster Instanz wegen teilweiser Nichtigerklärung der zweiten Entscheidung der Kommission vom 26. Juni 1996 betreffend Mosel II und Chemnitz II. Deutschland unterstützte den Standpunkt des Freistaats Sachsen und des Automobilkonzerns, das Vereinigte Königreich den der Kommission.
Das Gericht erster Instanz hat diese Klagen abgewiesen.
Nach Artikel 92 Absatz 2 Buchstabe c EG-Vertrag sind mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar "Beihilfen für die Wirtschaft bestimmter, durch die Teilung Deutschlands betroffener Gebiete der Bundesrepublik Deutschland, soweit sie zum Ausgleich der durch die Teilung verursachten wirtschaftlichen Nachteile erforderlich sind".
Diese Bestimmung erlaubt es nach Auffassung des Gerichts nicht, den wirtschaftlichen Rückstand der neuen Bundesländer vollständig auszugleichen. Eine solche Auslegung würde sowohl den Ausnahmecharakter dieser Bestimmung als auch deren Zusammenhang und Zweck verkennen. Für das Gericht bezieht sich der Ausdruck "Teilung Deutschlands" historisch auf die Aufteilung im Jahr 1948 in die Ostzone und in die Westzonen. Daher seien "durch die Teilung verursachte wirtschaftliche Nachteile" nur diejenigen wirtschaftlichen Nachteile, die die Isolierung aufgrund der Errichtung oder Aufrechterhaltung dieser Grenze verursacht habe. Die unterschiedliche Entwicklung der alten und der neuen Bundesländer beruhe daher auf anderen Gründen als der Teilung Deutschlands als solcher, namentlich auf den unterschiedlichen politisch-wirtschaftlichen Systemen, die in jedem Staat errichtet worden seien. Die Kommission habe daher keinen Rechtsfehler begangen, als sie die Anwendung dieser Ausnahmebestimmung auf Regionalbeihilfen zugunsten neuer Investitionsprojekte abgelehnt habe.
Nach Artikel 92 Absatz 3 Buchstabe b EG-Vertrag können Beihilfen zur Behebung einer beträchtlichen Störung im Wirtschaftsleben eines Mitgliedstaats als mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar angesehen werden.
Nach Ansicht des Gerichts muß die "beträchtliche Störung im Wirtschaftsleben eines Mitgliedstaats" im Sinne dieser Bestimmung das gesamte Wirtschaftsleben des betreffenden Mitgliedstaats beeinträchtigen und nicht nur das einer seiner Regionen oder eines seiner Gebietsteile. Der Antrag auf Nichtigerklärung der Entscheidung der Kommission enthalte keinen Hinweis auf die Wirtschaft der Bundesrepublik Deutschland. Außerdem hätten die Kläger nicht dargetan, daß die Kommission einen offenkundigen Beurteilungsfehler begangen habe, als sie in den nachteiligen Auswirkungen der Herstellung der Einheit Deutschlands auf die deutsche Wirtschaft allein, so sehr es zu solchen auch gekommen sein möge, keinen Grund für die Anwendung dieser Ausnahmevorschrift auf die Beihilferegelung gesehen habe.
Die Kommission verfüge bei der Überprüfung staatlicher Beihilfen, die die Bewertung komplexer wirtschaftlicher und sozialer Sachverhalte einschließe, über ein weites Ermessen. Im vorliegenden Fall habe die Kommission bei der Bewertung der Höhe der Beihilfen, die der Volkswagen-Konzern für seine Investionen in Sachsen in Anspruch nehmen könne, keinen offenkundigen Fehler begangen. Sie habe in ihrer Entscheidung dem Umstand umfassend Rechnung getragen, daß die neuen Bundesländer "ein unterentwickeltes Gebiet mit niedrigem Lebensstandard" seien, wo eine "außerordentlich hohe und noch zunehmende Arbeitslosigkeit" herrsche. Sie habe daher hohe Investitionsbeihilfen genehmigt, um die wirtschaftliche Entwicklung der Region zu fördern.
Das Gericht verweist darauf, daß der Volkswagen-Konzern für seine Investitionen in Mosel I und Chemnitz I bereits erhebliche Beihilfen erhalten habe, die es ihm ermöglicht hätten, ein spätestens 1994 voll einsatzfähiges Fahrzeugwerk in Betrieb zu nehmen.
Die Kommission habe die Überkapazitäten bei der Kraftfahrzeugproduktion und damit das Gemeinschaftsinteresse berücksichtigen dürfen, um die Zahlung eines Teils der streitigen Beihilfen abzulehnen, soweit diese über einen Ausgleich der wirtschaftlichen Nachteile der neuen Bundesländer gegenüber den nicht geförderten Gebieten der Gemeinschaft hinausgingen.
N.B.: Gegen dieses Urteil des Gerichts kann innerhalb von zwei Monaten nach seiner Zustellung ein auf Rechtsfragen beschränktes Rechtsmittel beim Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften eingelegt werden.
Zur Verwendung durch die Medien bestimmtes nichtamtliches Dokument, das das Gericht erster Instanz nicht bindet. Dieses Dokument liegt in deutscher, französischer und englischer Sprache vor.
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